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Die Coronapandemie im Spiegel der amtlichen Sterbefallstatistik

Published On: 22. September 2021 9:30

Seit eineinhalb Jahren beherrscht das Thema „Corona“ die tägliche Debatte. Massive Einschnitte in unser Leben wurden ergriffen, um uns vor der Gefahr durch das Virus zu schützen. Wie groß die Gefahr für die Allgemeinheit tatsächlich ist, lässt sich aus den offiziellen Zahlen jedoch nur schwer herleiten. Der Statistiker Günter Eder hat sich für die NachDenkSeiten auf eine Reise in die verschiedenen Sterbefallstatistiken begeben und dabei auch einen Vergleich zwischen der Gefährdung durch Corona und durch die saisonale Grippe aufgestellt.



Vormerkung Jens Berger: Dieser wichtige Artikel ist sehr umfangreich, da er die verwendete Methodik präzise offenlegt. Uns ist klar, dass dies für einige Leser, die sich bislang nicht so sehr mit Statistik beschäftigt haben, vielleicht nicht immer leicht verständlich ist. Wir werden daher in der nächsten Woche in einem Folgeartikel zum „Zahlenchaos bei Corona“ die Ergebnisse von Günter Eder auch noch einmal verständlicher aufbereiten.

Das Robert Koch-Institut (RKI) ist in Deutschland verantwortlich für die Erhebung, Veröffentlichung und Bewertung von Daten zum Krankheitsgeschehen. Im Zuge der Ausbreitung des Coronavirus und des zunehmenden Interesses an aktuellen Informationen ist die Behörde dazu übergegangen, regelmäßig Daten zu Corona zu veröffentlichen. Auf sogenannten Dashboards kann man sich tagesaktuell unter anderem über die Entwicklung der 7-Tagesinzidenz oder die Zahl der Coronaverstorbenen informieren. Die Einzelwerte werden zu Wochen- und Monatswerten zusammengefasst und drei Wochen später in Form einer EXCEL-Datei der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt. [1] Damit können Interessierte das durch Corona ausgelöste Sterbegeschehen sehr gut nachvollziehen.

Auf der anderen Seite gibt es die vom Statistischen Bundesamt (StBA) schon immer erhobenen Daten zum allgemeinen Sterbegeschehen in Deutschland. [2] Die beiden Datensätze sind für die vorliegende Auswertung zusammengeführt und so aufbereitet worden, dass sie vergleichend bzw. sich gegenseitig ergänzend analysiert werden können. Die Auswertung erfolgt auf Basis von Wochenwerten.

Abbildung 1

Abbildung 1 gibt einen ersten Eindruck davon, wie sich die Ausbreitung des Coronavirus auf das allgemeine Sterbegeschehen in Deutschland ausgewirkt hat. Coronatote machen in dem betrachteten Zeitraum durchschnittlich 6,4% der Verstorbenen aus. Der höchste Anteilswert ist mit 22,9% während der Weihnachtszeit zu verzeichnen. Im Sommer gehen die Coronasterbezahlen auf Werte nahe Null zurück. Sie folgen damit einem Muster, das von Grippewellen her allgemein bekannt ist.

Übersterblichkeit während der Coronaepidemie

Zwischen der 10. Woche 2020 und der 31. Woche 2021 sind dem RKI zufolge insgesamt 90.832 Personen an oder mit Corona verstorben. Auf das Jahr 2020 entfallen 41.587 Tote, auf das Jahr 2021 49.245. Vergleicht man die Zahlen mit den Sterbedaten des Statistischen Bundesamtes (StBA), so stellt man fest, dass sie sich darin nicht adäquat widerspiegeln. Die Übersterblichkeit, die aus den allgemeinen Sterbedaten abgeleitet werden kann, ist deutlich niedriger als die vom RKI ausgewiesene Zahl an Coronatoten. Woran liegt das? Warum besteht zwischen den beiden Datensätzen eine große Differenz? Sind die RKI-Daten möglicherweise falsch? Liegt es daran, dass das RKI nicht unterscheidet zwischen Personen, die AN und die MIT Corona verstorben sind? Oder ist die Übersterblichkeit als Maßzahl gar nicht geeignet, die Zahl der Coronatoten verlässlich abzuschätzen? Um zu verstehen, woher die Differenz rührt oder zumindest rühren könnte, muss man sich die Daten und das Verfahren, nach dem die Übersterblichkeit ermittelt wird, genauer ansehen.

Das Konzept der Übersterblichkeit beruht auf wahrscheinlichkeitstheoretischen Annahmen und Überlegungen. Im Prinzip geht man davon aus, dass Verläufe, die in der Vergangenheit zu beobachten waren, sich in gleicher oder ähnlicher Weise in der Zukunft wiederholen. Basierend auf dieser Annahme wird eine Basislinie für die Zahl der zu erwartenden Todesfälle ermittelt (Basismortalität). Auftretende Abweichungen von der Basislinie werden als Über- bzw. Untersterblichkeit interpretiert. Die Höhe der Übersterblichkeit hängt folglich wesentlich davon ab, wie die Basismortalität definiert bzw. wie sie berechnet wird.

Das Statistische Bundesamt berechnet die Basislinie als Mittelwert aus den Verläufen der vorangegangenen vier Jahre. Die Basislinie für 2020 beruht folglich auf den Werten der Jahre 2016 bis 2019, die für 2021 auf den Werten von 2017 bis 2020. Da jedes Jahr mit gewissen demographischen Besonderheiten verknüpft ist, wird der ermittelte Verlauf noch um sogenannte Alterstruktureffekte korrigiert. [3] Der offizielle Wert für die Jahresübersterblichkeit wird von der Behörde in der Regel im Laufe des darauffolgenden Sommers bekanntgegeben. Für 2020 sollte er mittlerweile eigentlich vorliegen (vgl. Pressemitteilung des StBA vom 29. Januar 2021). [4] Bis heute wartet die interessierte Öffentlichkeit allerdings vergeblich auf die Bekanntgabe.

Um trotzdem zumindest einen ersten Eindruck von der Höhe der Übersterblichkeit im Coronajahr 2020 zu gewinnen, habe ich im Februar 2021 und dann noch einmal im Juli 2021, in Anlehnung an das Verfahren des Statistischen Bundesamtes, die Übersterblichkeit für 2020 abgeschätzt. Auf Basis der Daten, die Ende Januar 2021 vorlagen, ergab sich eine Übersterblichkeit von 1,19%. [5] Die im Juli 2021 zur Verfügung stehenden Daten waren etwas verlässlicher und lieferten einen Wert auf 1,55%. [6] Mit den aktuellen Werten vom 17. August steigt die Quote noch einmal geringfügig an und beträgt jetzt 1,59%. Der Wert liegt damit höher als in den Jahren zuvor, aber nur geringfügig über der Quote des Grippejahres 2018.

Bevor weitere jahresbezogene Überlegungen angestellt werden, soll das Coronageschehen zunächst einmal isoliert für sich betrachtet werden. In der Zeit von der 10. Woche 2020 bis zur 31. Woche 2021 starben dem RKI zufolge 90.882 Menschen an oder mit Corona. Eine Abschätzung der Übersterblichkeit auf Grundlage der Sterbedaten des Statistischen Bundesamtes erbringt für diesen Zeitraum eine Übersterblichkeit von 2,48%. Das bedeutet, dass lediglich 34.508 Personen mehr gestorben sind, als nach den vorangegangenen Jahren zu erwarten gewesen wäre. Die Übersterblichkeit macht damit nur 38,0% der vom RKI ausgewiesenen Zahl an Coronatoten aus.

Zu einem vergleichbaren Ergebnis kommt eine Studie, die von der Hebrew University in Jerusalem zusammen mit der Universität Tübingen durchgeführt wurde und in der die Sterbedaten von 103 Ländern miteinander verglichen wurden. [7] Es wurden jeweils die länderspezifischen Übersterblichkeiten (excess mortality) errechnet und diese dann mit der Anzahl gemeldeter Coronatoter verglichen. Abweichend vom Vorgehen des Statistischen Bundesamtes ist die Basislinie nicht auf Grundlage der letzten vier, sondern der letzten fünf Jahre errechnet worden. Die Studie kommt für Deutschland zu dem Ergebnis, dass bis zum 20. Juni 2021 (also bis zur 24. Woche) etwa 39.000 Menschen mehr verstorben sind, als nach den Vorjahren zu erwarten gewesen wäre. Das entspricht 43% der vom RKI bis dahin gemeldeten Zahl an Coronatoten.

Die in der Studie festgestellten Differenzen zwischen der Zahl gemeldeter Coronatoter und der aus der Übersterblichkeit abgeleiteten Anzahl sind von Land zu Land sehr unterschiedlich. Teilweise sind sie gering, teilweise groß und sie können sowohl positive wie negative Werte annehmen. Eine Systematik ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Richtet man den Fokus allerdings speziell auf die europäischen Länder, so fällt auf, dass es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den ost- und den westeuropäischen Staaten gibt. Während in den Ländern des „Ostens“ die errechnete Übersterblichkeit fast ausnahmslos höher ist als die ausgewiesene Zahl an Coronatoten, ist es im „Westen“ genau umgekehrt. Hier liegt die Übersterblichkeit in drei von vier Fällen unter der Zahl der Coronatoten. Den Ost-West-Unterschied führen die Autoren darauf zurück, dass die Coronatoten im „Osten“ weniger vollständig erfasst werden als im „Westen“. Einzelnen Ländern unterstellen sie sogar „purposeful misdiagnosing or underreporting of COVID-19 deaths“. [7]

Doch auch zwischen den westeuropäischen Ländern, in denen die Coronatoten besser und vollständiger erfasst werden, bestehen große Unterschiede. Während die Übersterblichkeit in Großbritannien immerhin 90% der Coronatoten ausmacht, sind es in Frankreich 70%, in Schweden 60%, in Finnland 40%, in Irland 30% und in Luxemburg sogar nur 20%. Deutschland liegt mit 43% im unteren Mittelfeld. Auf die Gründe, warum die Unterschiede zwischen den Ländern so groß sind, geht die Studie nicht näher ein. Das ist bedauerlich, da sich dahinter durchaus interessante Erkenntnisse verbergen könnten. Sie geht allerdings der grundsätzlichen Frage nach, woran es liegen könnte, dass die ermittelte Übersterblichkeit in den meisten westeuropäischen Ländern unter den offiziellen Angaben zur Zahl der Coronatoten liegt. Als Ursache für den Effekt macht sie die ausgebliebenen Grippeinfektionen in den Jahren 2020 und 2021 aus. „The difference between the official reported COVID-19 deaths and the excess deaths may correspond to the number of deaths typically caused to influenza and other infectious respiratory diseases in winter months.” [7]

Die Einschätzung, dass die Zahl der Covidtoten dadurch unterschätzt wird, ist im Prinzip zutreffend, doch stellt sich die Frage, ob die ausgebliebene Grippe den Effekt vollständig oder nur teilweise erklärt. Vielleicht gibt es andere, bisher nicht bedachte Faktoren, die ähnlich wichtig oder sogar wichtiger sind als der Grippeeinfluss. Dieser Frage ist die Studie leider nicht vertiefend nachgegangen.

Dabei hätte es einen einfachen Weg gegeben, das Dunkel etwas aufzuhellen. Man hätte lediglich die Berechnung der Basismortalität abändern müssen. Statt die Basislinie aus allen vier bzw. fünf Vorjahren abzuleiten, hätte man sich auf die Jahre beschränken können, in denen es keine ausgeprägte Grippewelle gab. Das waren in Deutschland die Jahre 2016 und 2019. Dann hätte man eine Referenzkurve zur Verfügung gehabt, in der der Einfluss der Grippe auf den Verlauf weitgehend (oder vielleicht sogar vollständig) ausgeschaltet wäre.

Um ‚bessere’ Schätzwerte für die Zahl der Coronatoten zur Verfügung zu haben, ist dieser Weg in der vorliegenden Auswertung konsequent beschritten worden. Die Basislinie, die allen weiteren Überlegungen zur Übersterblichkeit zugrundeliegt, ist abgeleitet aus den Sterbedaten der (weitgehend grippefreien) Jahre 2016 und 2019!

Mit der so abgewandelten Basislinie erhält man für den Coronazeitraum bis zur 31. Woche 2021 eine Übersterblichkeit von 46.271 Personen. Der Wert liegt mit einem Plus von 11.763 Personen deutlich über dem ursprünglichen Wert von 34.508 Personen, bleibt jedoch immer noch weit hinter der RKI-Zahl von 90.832 Coronatoten zurück. Der Grippeeffekt allein erklärt die starke Unterschätzung der Zahl der Coronatoten folglich nicht.

Natürlich kann man nicht ausschließen, dass auch die abgewandelte Basislinie noch einen gewissen Anteil an Grippeverstorbenen enthält und dass dadurch die coronabedingte Übersterblichkeit weiterhin unterschätzt wird. Aber man muss andererseits bedenken, dass es auch gegenläufige Einflüsse gibt. So hat die Hitzewelle im Sommer 2020 viele Tote zur Folge gehabt, die in der errechneten Übersterblichkeit mit enthalten sind. Bis zu einem gewissen Grad heben sich die Effekte gegeneinander auf, so dass unsicher bleibt, ob die Übersterblichkeit ansteigen oder zurückgehen würde, wenn alle Effekte bekannt wären und vollständig berücksichtigt werden könnten. Angesichts dieser Sachlage scheint es angemessener, keine exakte Punktschätzung anzustreben, sondern sich mit der Erkenntnis zu begnügen, dass der Anteil der Coronatoten, der mittels Übersterblichkeit abgeschätzt werden kann, zwischen 45% und 55% liegen dürfte.

Das ist ein überraschendes Ergebnis und man fragt sich, woher es rührt, dass der Anteilswert so niedrig liegt. Werden verstorbene Personen vom Statistischen Bundesamt möglicherweise nicht vollständig erfasst? Oder sind die RKI-Angaben zur Zahl der Covidtoten falsch, weil nicht zwischen Personen, die AN und die MIT Covid verstorben sind, unterschieden wird?

Beide Vermutungen sind, wie ein Blick auf die Kurvenverläufe in der Abbildung 2 zeigt, unzutreffend.

Abbildung 2

In der Abbildung ist der zeitliche Verlauf der Übersterblichkeit zusammen mit den RKI-Sterbezahlen aufgetragen und es ist zu erkennen, dass die Verläufe bis zum Ende des Jahres 2020 sehr gut übereinstimmen. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass sowohl die Daten des RKI als auch die des Statistischen Bundesamtes im Prinzip korrekt sind. Insbesondere während der sehr ausgeprägten und steil ansteigenden zweiten Coronawelle stimmen die Verläufe bis zur 53. Woche sehr gut überein. Erst danach beginnen die Kurven auseinanderzulaufen.

Da in der 52. Woche (also auf dem Höhepunkt der Epidemie) mit den Coronaimpfungen begonnen wurde, könnte man vermuten, dass dies den Effekt ausgelöst hat. Das ist jedoch keine befriedigende Erklärung. Impfungen können zwar bewirken, dass weniger Menschen sterben, aber sie bieten keine Erklärung für das Auseinanderdriften der aufgetragenen Kurven.

Es muss einen anderen Grund für diesen ungewöhnlichen Effekt geben. Und den gibt es tatsächlich. Und es wird sich zeigen, dass er ein zentraler Schlüssel für das Verständnis des gesamten Coronageschehens ist. Will man den Effekt verstehen, kommt man allerdings nicht daran vorbei, sich mit dem statistischen Aspekt des Übersterblichkeitskonzeptes etwas näher zu befassen.

Übersterblichkeitswerte resultieren aus der Aggregation von Einzelwerten, die in einem komplexen Beziehungsgeflecht von Ursache und Wirkung zueinander stehen. Das erschwert die ursachenspezifische Interpretation der Ergebnisse, kann sie sogar verunmöglichen. Was damit gemeint ist, soll anhand einiger einfacher Überlegungen illustriert werden. Bedenken sollte man dabei, dass es in den konstruierten Beispielen nicht darum geht, die Wirklichkeit exakt abzubilden, sondern darum, auf Basis einfach gehaltener Annahmen interessierende Zusammenhänge in nachvollziehbarer Weise sichtbar zu machen.

Angenommen in einem bestimmten Monat, und nur in diesem einen Monat, sterben plötzlich und unerwartet sehr viele Menschen an einer (bis dahin möglicherweise unbekannten) Krankheit. Weiter sei angenommen, dass an der Krankheit nur Menschen sterben, die ansonsten, d.h. ohne diese Erkrankung, im darauffolgenden Monat gestorben wären. Der erste Monat wäre dann mit einer hohen Übersterblichkeit verbunden und der zweite Monat mit einer gleich hohen Untersterblichkeit. Die Ausprägungen würden sich gegeneinander aufheben und die Gesamtübersterblichkeit läge bei Null. Das Krankheitsgeschehen würde sich in der Übersterblichkeit gar nicht bemerkbar machen.

Wandelt man das Szenario etwas ab, indem man unterstellt, dass nur die Hälfte der Betroffenen im darauffolgenden Monat verstorben wäre, die andere Hälfte jedoch noch mindestens ein weiteres Jahr gelebt hätte, so wäre die Untersterblichkeit im zweiten Monat nur halb so hoch wie die Übersterblichkeit im Monat zuvor. In der Gesamtsumme erhielte man eine Übersterblichkeit, die halb so hoch wäre wie die Zahl der Verstorbenen.

Nun könnte man auf den Gedanken kommen, bei der Ermittlung der Gesamtübersterblichkeit eines Jahres nur die positiven Werte der Übersterblichkeit aufzusummieren. Das würde in dem betrachteten Beispiel auf die korrekte Zahl für die Krankheitsverstorbenen hinauslaufen. Allgemein lässt sich das Problem jedoch nicht so einfach lösen.

Um zu verstehen, warum das so ist, muss das Gedankenexperiment etwas ausgeweitet werden. Ausgehend von dem Anfangsszenario mit gleicher Über- wie Untersterblichkeit, wird unterstellt, dass auf den ersten Krankheitsmonat ein zweiter Monat mit gleich hoher Sterbezahl folgt. Dann hätte man im ersten Monat eine Übersterblichkeit, die der Zahl der Verstorbenen entspricht, im zweiten Monat würden sich Über- und Untersterblichkeit ausgleichen und der Wert läge bei Null und im dritten Monat hätte man eine Untersterblichkeit, die so hoch wäre wie die Übersterblichkeit im ersten Monat. Wieder wäre die Gesamtübersterblichkeit gleich Null, unabhängig von der Zahl der Todesfälle. Und auch wenn man nur die positiven Übersterblichkeitswerte aufsummiert, würde die Zahl der Personen, die an der Krankheit verstorben sind, stark unterschätzt. Man würde auf einen Wert kommen, der nur halb so hoch wäre wie die tatsächliche Verstorbenenzahl.

Aus den Überlegungen wird ersichtlich, warum mit einer Kenngröße wie der Übersterblichkeit grundsätzlich nur ein (mehr oder weniger großer) Teil der an einer bestimmten Krankheit Verstorbenen nachgewiesen werden kann. So ließe sich erklären, warum die vom RKI ausgewiesene Zahl an Coronatoten mit 90.832 fast doppelt so hoch liegt wie die aus der Übersterblichkeit ableitbare Anzahl von 46.271: Weil viele der Verstorbenen, aufgrund von Vorerkrankungen, auch ohne Coronainfektion in dem betrachteten Jahr bzw. dem betrachteten Zeitraum gestorben wären.

Um eine Lösung für die Schätzproblematik zu finden, muss man sich den zweiten Krankheitsmonat in dem konstruierten Beispiel etwas genauer anschauen. In dieser Zeit überlagern sich Über- und Untersterblichkeit und sind einzeln nicht mehr sichtbar. Da für eine verlässliche Abschätzung der Zahl der Krankheitsverstorbenen das Wissen um die Höhe der Übersterblichkeit unabdingbar ist, müsste dieser Anteil nachträglich aus der Summe der Über- und Untersterblichkeit herausgerechnet werden. Das ist grundsätzlich möglich. Für eine grobe Abschätzung müssten lediglich zwei Parameter (näherungsweise) bekannt sein: zum einen der Anteil der Verstorbenen, der unabhängig von der Erkrankung nur noch kurze Zeit gelebt hätte, und zum anderen, wie lange diese Menschen im Mittel noch gelebt hätten. Wenn man beides weiß, ist es grundsätzlich möglich, mittels entsprechender Korrekturfaktoren die Zahl der Coronaverstorbenen aus der Übersterblichkeit herauszufiltern. Die Schätzwerte wären allerdings mit größeren Unsicherheiten behaftet, da zum einen die Korrekturfaktoren nie genau bekannt sind und zum anderen in der Realität viele weitere Faktoren die Übersterblichkeit beeinflussen und das Ergebnis umso unsicherer wird, je komplexer der zur Anwendung kommende Rechenalgorithmus ist.

In einem früheren Artikel, der am 6. Juli 2021 auf den NachDenkSeiten erschienen ist, hatte ich einen ersten Versuch unternommen, den Anteil der Verstorbenen, die nur noch kurze Zeit zu leben gehabt hätten, abzuschätzen. [6] Dabei bin ich zu dem Schluss gekommen, dass dies für 85% der Coronaverstorbenen zutrifft. Das war eine voreilige und falsche Schlussfolgerung, bei der ich den verzerrenden Einfluss, den die Grippejahre auf den Verlauf der Basislinie ausüben, nicht bedacht und folglich nicht angemessen berücksichtigt hatte. Tatsächlich liegt der Anteil, wie oben gezeigt, eher bei 45% bis 55%.

Das Wissen um den zwischen Über- und Untersterblichkeit bestehenden stochastischen Zusammenhang kann genutzt werden, um aus der Übersterblichkeitskurve mittels geeigneter Korrekturfaktoren Schätzwerte für die Zahl der Coronatoten abzuleiten. Für den Anteil Verstorbener, die nur noch kurze Zeit gelebt hätten, hätte ein Wert von 0,5 als Korrekturfaktor nahe gelegen. Da jedoch nicht ausgeschlossen werden kann, dass die verwendete Basislinie nicht noch einen gewissen Anteil an Grippeverstorbenen enthält, und um die Zahl der Coronatoten nicht zu unterschätzen, ist der Faktor mit 0,55 etwas höher angesetzt worden. Grobe Schätzwerte für die Zeit, die die betroffenen Menschen ohne die Infizierung noch gelebt hätten, können aus den Kurvenverläufen in Abbildung 2 abgelesen werden. Als Kriterium kann entweder die Zeitspanne vom Beginn der jeweiligen Coronawelle bis zu dem Zeitpunkt, an dem die aufgetragenen Kurven beginnen auseinanderzulaufen, gewählt werden oder aber die Zeitspanne zwischen dem Maximum und dem Minimum der Übersterblichkeit. In der ersten Welle liegen die Zeitpunkte nahe zusammen und sind lediglich zwei bis drei Wochen voneinander entfernt. In der zweiten Welle ist die Zeitspanne länger und beträgt zehn bis zwölf Wochen.

Auf Basis dieser Annahmen ist der Versuch unternommen worden, die Zahl der wöchentlich gestorbenen Coronainfizierten abzuschätzen. Das Ergebnis des Rechenprozesses ist in Abbildung 3 dargestellt und kann insgesamt als durchaus zufriedenstellend angesehen werden. Die aus der Übersterblichkeit abgeleitete Zahl an Coronatoten stimmt jetzt über den gesamten Zeitraum hinweg recht gut mit den RKI-Sterbezahlen überein.

Summiert man die aus der Übersterblichkeit resultierende Zahl der Coronaverstorbenen auf, so erhält man für den Zeitraum von der 10. Woche 2020 bis zur 31. Woche 2021 eine Gesamtzahl von 82.047 Verstorbenen.

Abbildung 3

Die Anpassung wird noch etwas besser, wenn man die in den Hitzeperioden Verstorbenen aus der Betrachtung herausnimmt und nur Übersterblichkeitswerte mit positiver Ausprägung (Werte >0) bei der Summation berücksichtigt (vgl. Abb. 4). Der Schätzwert für die Gesamtzahl der Coronaverstorbenen erhöht sich dann noch einmal geringfügig auf 83.717 Personen. Die aus den Sterbefalldaten des Statistischen Bundesamtes abgeleitete Gesamtzahl an Coronaverstorbenen macht damit immerhin 92,2% des vom RKI ausgewiesenen Wertes aus.

Abbildung 4

Vergleich der Übersterblichkeit bei Grippe- und Coronainfektionen

Vorab sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die hier angegebenen Übersterblichkeitswerte durchweg auf einer Basislinie beruhen, die keine Grippejahre enthält. Dadurch liegen die Werte in der Regel etwa einen Prozentpunkt über der „offiziellen“ Übersterblichkeit.

In Abbildung 5 sind die wöchentlichen Übersterblichkeitswerte für die Zeit von 2016 bis 2021 aufgetragen. Der Verlauf ist gekennzeichnet durch lange, eher ereignisarme Phasen, in denen die Werte lediglich mehr oder weniger stark um die Basislinie herum schwanken. Daneben gibt es kürzere Phasen mit steil ansteigender Übersterblichkeit. Auslöser von rapide steigenden Übersterblichkeiten sind entweder saisonale Infektionen, hervorgerufen durch Grippe- oder neuerdings Coronaviren, oder außergewöhnliche Hitzeperioden.

Auffällig ist, dass von den drei Coronawellen, auf die allgemein immer hingewiesen wird, eigentlich nur die zweite Welle eine Höhe und ein Ausmaß hat, das mit Grippewellen vergleichbar ist.

Abbildung 5

Summiert man die Einzelwerte auf, so erhält man die in Tabelle 1 angegebenen Jahreswerte für die Übersterblichkeit. Die Übersterblichkeitswerte liegen zwischen -0,42% als Minimum (2019) und 2,68% als Maximum (2020). Auffällig ist, dass das Grippejahr 2018 mit ähnlich vielen zusätzlichen Toten verknüpft ist wie das Coronajahr 2020 (24.844 Tote zu 26.490 Tote).

Tabelle 1

Übersterblichkeit
Jahr Anzahl Prozent
2016 2.720 0,30%
2017 15.064 1,62%
2018 24.844 2,60%
2019 -3.950 -0,42%
2020 26.490 2,68%
2021*) 13.377 2,25%
*) bis zur 31. Woche

Unterschiede in der Übersterblichkeit werden deutlicher sichtbar, wenn man das Krankheitsgeschehen saisonal, d.h. jahresübergreifend betrachtet (vgl. Tab. 2 und Abb. 6). Es zeigt sich, dass die Übersterblichkeit bei Corona etwa doppelt so hoch ist wie bei der Grippe. Während Corona in dem betrachteten Zeitraum mit knapp 48.000 zusätzlichen Toten verbunden ist, belaufen sich die Werte bei der Grippe in der Saison 2016/17 auf 25.373 Tote und in der Saison 2017/18 auf 22.381 Tote. Die Werte gelten jeweils für die Zeit von der 30. Woche des Vorjahres bis zur 29. Woche des Folgejahres.

Tabelle 2

Übersterblichkeit RKI-Angaben zur

Zahl der Grippe-

bzw. Coronatoten
Saison*) Anzahl Prozent
2016 / 2017 25.373 2,71% 22.900
2017 / 2018 22.381 2,37% 25.100
2018 / 2019 -4.052 -0,44% noch nicht verfügbar
2019 / 2020 -10.587 -1,13% noch nicht verfügbar
2020 / 2021 47.881 4,67% 81.589
*) von der 30. Woche des Vorjahres bis zur 29. Woche des Folgejahres

Wiederum taucht die Frage auf, welcher Zusammenhang zwischen den Übersterblichkeitswerten und der tatsächlichen Zahl der Grippe- bzw. Coronatoten besteht. Für die Coronasituation kann die Frage relativ verlässlich beantwortet werden, da aufgrund der PCR-Tests bekannt ist, wieviele Verstorbene mit Sars-CoV-2 infiziert waren. Bei den Grippeverstorbenen verfügt man über keine vergleichbaren Zusatzinformationen.

Hierzu schreibt das RKI in seinem „Bericht zur Epidemiologie der Influenza 2018/2019“:

„Im Gegensatz zu anderen Erkrankungen wird Influenza auf dem Todesschein häufig nicht als Todesursache eingetragen, selbst wenn im Krankheitsverlauf eine Influenza labordiagnostisch bestätigt wurde und wesentlich zum Tod beigetragen hat. Es ist die Erfahrung vieler Länder, dass sich Todesfälle, die der Influenza zuzuschreiben sind, in anderen Todesursachen, wie z.B. Diabetes mellitus, Pneumonie oder ‚Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems’ verbergen können. Daher ist es international üblich, die der Influenza zugeschriebene Sterblichkeit mittels statistischer Verfahren zu schätzen, indem Gesamttodesfallzahlen herangezogen werden.“ [8]

Mit anderen Worten: Die Zahl der Todesfälle wird über die Abweichung der beobachteten Mortalität von der zur erwarteten Mortalität abgeschätzt, also mittels der Übersterblichkeit. Eine Möglichkeit, das Ergebnis, das man dabei erhält, zu verifizieren, gibt es nicht. Folglich kann niemand sagen, wie hoch die Dunkelziffer bei der ausgewiesenen Zahl der Grippetoten ist. Statistisch abschätzbar ist der Grad der Unterschätzung nicht.

Daraus resultiert ein Dilemma, das sich deutlich in den vom RKI veröffentlichten Sterbezahlen zeigt (vgl. Tab. 2). Während die ausgewiesene Zahl an Coronatoten fast doppelt so hoch ist wie der Übersterblichkeitswert, der im Rahmen der vorliegenden Studie ermittelt wurde, stimmen die Werte beim Grippegeschehen weitgehend überein. Zwar gibt es auch hier Abweichungen, doch ist keine systematische Über- oder Unterschätzung zu erkennen.

Als Erklärung für die Diskrepanz kommen eigentlich nur die während des Coronageschehens in großer Zahl durchgeführten PCR-Tests in Betracht. Wenn es diese Tests nicht gegeben hätte und man sich bei der Abschätzung der Zahl der Coronatoten (wie bei der Grippe) allein auf die Sterbedaten des Statistischen Bundesamtes hätte stützen müssen, wäre der Schätzwert sehr viel niedriger ausgefallen. Für den gesamten Zeitraum des Coronageschehens hätte der Wert vermutlich zwischen 45.000 und 50.000 gelegen statt bei 81.589 (für die Zeit von der 30. Woche 2020 bis zur 29. Woche 2021) bzw. 90.832 (für die Zeit von der 10. Woche 2020 bis zur 31. Woche 2021). Diese Erkenntnis wiegt schwer und ist, was den Umgang mit den Sterbezahlen und deren Bewertung betrifft, von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

Die tatsächliche Zahl der Grippetoten müsste, wenn man sie mit der Zahl Coronatoter vergleichen wollte, möglicherweise verdoppelt werden. Ein solches Ergebnis wäre zumindest zu erwarten, wenn der Anteil der Verstorbenen, der auch ohne zusätzliche Grippe- oder Coronainfektion nur noch kurze Zeit gelebt hätte, bei Grippe- und Coronaerkrankungen etwa gleich hoch wäre. Die tatsächliche Zahl der Grippetoten in der Saison 2016/17 bzw. 2017/18 würde dann auf 45.000 bis 50.000 ansteigen. Der Unterschied zur Zahl Coronatoter würde sich auf einen Schlag halbieren, von einer Relation von 1:4 auf eine Relation von 1:2. Wäre der Anteil derjenigen mit kurzer Lebensperspektive bei der Grippe niedriger als bei Corona, müsste der Schätzwert für die Zahl der Grippetoten weniger stark angehoben werden. Das ist allerdings eher unwahrscheinlich, da es bedeuten würde, dass an der Grippe mehr gesunde, nicht vorerkrankte Menschen sterben als an Corona, die Grippe also letztlich gefährlicher wäre als Corona.

Trotz der Unsicherheit, mit der derartige Überlegungen zwangsläufig verbunden sind, soll noch ein weiteres Szenario ausgerollt werden, bei dem es diesmal um den Aspekt der Letalität geht, also dem Verhältnis der Todesfälle zur Zahl der Erkrankten. Allgemein besteht bedauerlicherweise wenig Einigkeit darüber, wie hoch das Sterberisiko bei einer Grippeinfektion ist. Manche Experten gehen von einer Infektionssterblichkeit von 0,05% bis 0,1% aus, andere eher von 0,1% bis 0,2%. Am häufigsten ist in der Literatur ein Wert von 0,1% zu finden. Diese Werte müssten etwa verdoppelt werden, wenn sich unter den Verstorbenen bei der Grippe ein ähnlich hoher Anteil an Menschen mit kurzer Lebensperspektive befände wie bei Corona und man weiter davon ausgeht, dass die Grippe ähnlich infektiös ist wie Corona.

Angenommen, die Infektionssterblichkeit bei der Grippe läge bei 0,1%, dann wäre Corona mit einer Infektionssterblichkeit von 0,2% verbunden. Das wäre gegenüber der Grippe kein geringer oder gar vernachlässigbarer Unterschied, aber er würde aus Sar-CoV-2 noch keinen Killervirus machen. Immerhin 99,8% aller Betroffenen würden an einer Infektion nicht sterben, sondern wieder gesund werden.

Dem Ergebnis liegen zugegebenermaßen Annahmen zugrunde, von denen man zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sagen kann, ob sie zutreffend sind oder sich eher als realitätsfern erweisen werden. Es wäre Aufgabe von Politik und Wissenschaft, dafür zu sorgen, dass solche, für das Verständnis des Coronageschehens wichtigen Fragen genauer untersucht und geklärt werden. Kompetente wissenschaftliche Einrichtungen, die das leisten könnten, dürfte es in Deutschland zur Genüge geben. Wichtig wäre, dass entsprechende Forschungsprojekte angestoßen und finanziell gefördert werden. Das ist in den anderthalb Jahren, die die Pandemie nun andauert, erstaunlicherweise kaum geschehen. Einer der wenigen, die in Deutschland den Versuch unternommen haben, die Infektionssterblichkeit datenbasiert abzuschätzen, ist Professor Streeck. Im Rahmen seiner „Heinsberg-Studie“ kommt er zu dem Ergebnis, dass die Infektionssterblichkeit von Sars-CoV-2 bei 0,37% liegt. Je nach angewandtem mathematischen Korrekturverfahren liegt der Wert zwischen 0,24% und 0,43%. [9]

In den USA ist Professor Ioannidis von der Universität Stanford der Frage der Infektionssterblichkeit bei Corona nachgegangen. Im Auftrag der World Health Organisation (WHO) hat er zwei Studien dazu erstellt. In dem im Oktober 2020 veröffentlichten Abschlussbericht weist er einen Wert von 0,23% als globales Mittel für die Infektionssterblichkeit bei Corona aus und im März 2021 kommt er auf Grundlage einer umfassenden Metastudie zu dem Schluss, dass die Infektionssterblichkeit weltweit bei etwa 0,15% liegt. [10][11]

Die Letalitätsquote liegt damit deutlich niedriger, als allgemein angenommen wird. Manche leiten daraus den Vorwurf ab, dass Autoren, die solche Werte veröffentlichen, die Coronaerkrankung verharmlosen würden. Das ist ein ungerechtfertigter Vorwurf. Es besteht kein Zweifel, und wird auch von niemandem bestritten, dass viele Menschen unter Coronaerkrankungen schwer gelitten haben und teilweise noch Monate später darunter leiden. Aber für eine adäquate Beurteilung des Gesamtgeschehens kann man es nicht bei der Betrachtung von Einzelfällen belassen. Es ist wichtig, das Geschehen auch statistisch einzuordnen, also losgelöst von individuellen Schicksalen. Insbesondere ist es wichtig, aktuelles Krankheitsgeschehen in Relation zu Krankheitsverläufen in der Vergangenheit zu betrachten. Das soll zum Abschluss dieser Ausführungen geschehen, indem der Verlauf der Übersterblichkeit bei Corona mit den Verläufen bei Grippewellen verglichen wird.

Der Vergleich erfolgt mittels geglätteter Kurvenverläufe, nicht über die Originalwerte. Das Glättungsverfahren nivelliert extreme Ausschläge und gleicht zufällige Schwankungen aus, so dass strukturelle Übereinstimmungen und Unterschiede besser sichtbar werden. Abbildung 6 vermittelt einen Eindruck davon, wie sich der geglättete Verlauf an die Originalwerte anpasst. Für die vergleichende Darstellung ist eine saisonale Sichtweise gewählt worden, beginnend und endend jeweils im Sommer.

Abbildung 6

Abbildung 7 zeigt den geglätteten Verlauf der Übersterblichkeit während der Coronasaison 2020/21 zusammen mit dem Grippeverlauf 2016/17. Die Verläufe sind dabei so übereinandergelegt, dass sie mit der 30. Woche des Vorjahres beginnen und mit der 29. Woche des Folgejahres enden. Analog ist die Abbildung 8 erstellt worden.

Die Abbildungen führen vor Augen, dass die Übersterblichkeitsverläufe sich gar nicht so sehr unterscheiden. Der auffälligste Unterschied ist nicht das Ausmaß der Übersterblichkeit, d.h. dass die Coronakurve so sehr viel höher ansteigt als die Grippekurve oder die Coronakrankheitswelle so sehr viel länger andauert, am auffälligsten ist die Phasenverschiebung. Das endemische Geschehen bei Corona setzt einige Wochen früher ein als bei der Grippe üblich. Abgesehen davon ähneln sich die Verläufe sehr.

Der Grippeverlauf 2016/17 ist mit niedrigeren Maximalwerten auf dem Höhepunkt der Grippewelle verbunden, dafür weisen beide Kurven ausgeprägte Untersterblichkeiten nach Abklingen des Krankheitsgeschehens und einen nahezu synchronen Verlauf auf. Beim Vergleich mit der Grippewelle 2017/18 verblüfft, dass die Kurven etwa gleich hohen Maxima zustreben. Dadurch wirken sie fast wie Zwillingskurven. Insgesamt kann man festhalten, dass die Übereinstimmung der Verläufe groß ist. Auf den ersten Blick fällt es schwer zu sagen, welcher Verlauf von Corona herrührt und welcher von der Grippe.

Abbildung 7

Abbildung 8

Die relativ geringen Unterschiede in den Übersterblichkeitsverläufen und der gewaltige Unterschied in den Reaktionen, die darauf erfolgt bzw. nicht erfolgt sind, stehen in einem irritierenden, kaum zu fassenden Missverhältnis zueinander. Während die zahlreichen Grippetoten der Jahre 2017 und 2018 den Medien kaum eine Randnotiz wert waren, löste das Coronageschehen eine kollektive Panikreaktion aus, wie sie das Land noch nicht erlebt hat. Der Blick verengte sich schlagartig auf ein Thema: Corona. Monatelang gab es auf allen Fernsehkanälen und in allen Zeitungen nur noch CORONA. Es fällt schwer, die oben dargestellten Übersterblichkeitsverläufe damit irgendwie in Einklang zu bringen.

Natürlich sind Übersterblichkeitsbetrachtungen nur ein möglicher Blick auf das Krankheitsgeschehen. Die Schwere der Krankheitsverläufe, die Auslastung von Krankenhäusern und Intensivstationen, die Möglichkeiten, eine Krankheit medikamentös oder therapeutisch zu behandeln, sind weitere, für die Beurteilung wichtige Aspekte. Doch wenn staatliche Maßnahmen ergriffen werden, um ein Infektionsgeschehen einzudämmen, so geschieht das letztlich immer, um Leben zu retten, egal ob man als Kriterium für die Lockerung oder Verschärfung von Maßnahmen den Inzidenzwert oder den Grad der Bettenauslastung heranzieht. Der Blick auf die Zahl der Verstorbenen ist mit zunehmender Dauer der Pandemie allerdings immer mehr verlorengegangen. Heute spielen sie in der Diskussion um angemessene Maßnahmen kaum noch eine Rolle. Der Blick hat sich auf Inzidenzen und Impfquoten verengt. Von Interesse scheint nur noch zu sein, mit welchen Maßnahmen die Inzidenz gesenkt oder die Impfquote gesteigert werden kann.

Dabei sind gerade Inzidenzwerte und Impfquoten weit und flexibel interpretierbar und bergen die Gefahr in sich, manipulativ missbraucht zu werden. Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation ist der Anteil der Bevölkerung, der gegen COVID-19 geimpft sein muss, um Herdenimmunität sicherzustellen, nicht bekannt und die WHO verweist darauf, dass es sich hier um eine „important area of research“ handelt. [12] Angesichts der Bedeutung, die der Frage der Herdenimmunität beigemessen wird, verwundert es nicht, wenn sehr unterschiedliche Zielquoten für den Anteil der Bevölkerung, der immun sein sollte, um eine unkontrollierte Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern, im Umlauf sind.

Das RKI beruft sich auf das WHO-Regionalbüro für Europa und empfiehlt eine Zielimpfquote von mindestens 80% in der Erwachsenenbevölkerung. [13] Das würde etwa 60% der Gesamtbevölkerung entsprechen. In der renommierten medizinischen Fachzeitschrift THE LANCET ist zu lesen, dass die meisten Epidemiologen davon ausgehen, dass eine Immunisierungsquote von 70% ausreicht, um Herdenimmunität zu erreichen. 70% der Bevölkerung sollten entweder geimpft sein ODER eine Infektion überstanden haben. [14]

Prof. Lehr von der Universität in Saarbrücken setzt die Quote höher an und geht davon aus, dass für eine Herdenimmunität 85% der Deutschen geimpft oder genesen sein müssten. [15] Warum er allerdings so pessimistisch ist zu glauben, dass diese Quote nicht erreichbar sei, ist schwer nachzuvollziehen. Denn wenn man eine Infektionssterblichkeit von 0,2% bis 0,4% unterstellt (s.o.), kann man davon ausgehen, dass angesichts von über 90.000 Menschen, die mittlerweile an Corona verstorben sind, zwischen 27% und 55% der Bevölkerung bereits heute auf natürliche Weise gegen Corona geschützt sind. Von den nicht geschützten Personen müssten folglich nur 30% bis 58% geimpft werden, um eine Immunitätsquote von 85% sicherzustellen. Und für den Fall, dass eine Quote von 70% für Herdenimmunität ausreichen sollte, müssten sich lediglich 15% bis 45% der noch nicht natürlich Immunisierten um einen ‚Pieks’ bemühen. Das sollte eigentlich nicht so schwer zu erreichen sein und ist möglicherweise sogar schon heute der Fall.

Man sollte aufhören, ängstlich auf die Impfquote zu starren wie das Kaninchen auf die Schlange. Mittlerweile ist genug Impfstoff vorhanden, dass sich jeder, der es möchte, impfen lassen kann. „Jetzt liegt es nicht mehr in der Verantwortung des Staates, sondern in der individuellen Verantwortung jedes und jeder Einzelnen (ob er sich impfen lässt oder nicht, d. A.)“, so die Kassenärztliche Bundesvereinigung in einer aktuellen Pressemitteilung. [16]

Bei den Inzidenzwerten sieht es, was die Datenlage betrifft, nicht viel besser aus. Grenzwerte werden, so hat man den Eindruck, nach Gusto rauf- oder runtergesetzt. Mal ist es wichtig, dass die Inzidenz einen Wert von 50 nicht überschreitet, dann wird der Grenzwert auf 35 herabgesetzt, verbunden mit der Einschätzung, dass die Inzidenz eigentlich bei 10 liegen sollte, und wenn sich Physiker und Wirtschaftswissenschaftler der Problematik annehmen, sollte eine Rückkehr zur Normalität eigentlich erst erfolgen, wenn das No-Covid-Ziel erreicht ist. Mit wissenschaftlicher Erkenntnis hat das alles wenig zu tun. Das ist ein maximal unbefriedigender Zustand. Es wäre zu wünschen, dass die Politik endlich ausreichend Geld in die Hand nimmt, damit zumindest einige drängende Fragen zum Coronageschehen von unabhängigen wissenschaftlichen Institutionen fundiert erforscht werden können.

Doch abgesehen von Kenntnislücken in wissenschaftlichen Detailfragen, haben die zurückliegenden achtzehn Monate gezeigt, dass eine Coronainfektion zwar eine schwere, nicht zu unterschätzende Erkrankung zur Folge haben kann, dass Sars-CoV-2 jedoch weit davon entfernt ist, ein Killervirus zu sein. Es ist Zeit, dem Rechnung zu tragen und allmählich zur Normalität zurückzukehren. So sieht das auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV). Auf der Vertreterversammlung am 17. September 2021 in Berlin forderte der stellvertretende KBV-Vorsitzende Dr. Hofmeister die Aufhebung aller staatlich veranlassten Restriktionen der Corona-Pandemie und fügte hinzu: „Es muss endlich Schluss sein mit der Gruselrhetorik und Panikpolitik.“ [16]

Titelbild: whiteMocca/shutterstock.com

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