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Die gescheiterte Afghanistan-Mission und die Folgerungen für die Parlamentsbeteiligung

Published On: 13. Oktober 2021 9:07

Die Medien sind sich einig: Der Westen, allen voran die USA, ist in Afghanistan militärisch gescheitert. Dabei war von Anfang an klar, dass Afghanistan ein „failed state“ war und dass die Mission daher eine weitere Aufgabe hatte, die wohl die wichtigere war. Von Dr. Peter Becker[*].



1. Die zivilen Elemente der Afghanistan-Mission und die Kritik daran

Wesentlicher Bestandteil des deutschen Einsatzes in Afghanistan war aufgrund des „Übereinkommens über vorläufige Regelungen in Afghanistan zur Wiederherstellung dauerhafter staatlicher Institutionen“, der sogenannten „Bonner Vereinbarung“ vom 5. Dezember 2001,[1] die Wiederherstellung staatlicher Strukturen in Afghanistan. Danach mussten nach dem Afghanistan-Konzept der Bundesregierung[2]

  • politisch-administrative Strukturen hergestellt werden, die einen demokratischen Ausgleich und eine friedliche Balance zwischen den verschiedenen Ethnien und lokalen Machthabern ermöglichen,
  • die Verbesserung der Sicherheitslage durch eine Reform des Sicherheitssektors
  • und des Wiederaufbaus der wirtschaftlichen und sozialen Infrastruktur erfolgen.

Nur sichtbare Aufbauleistungen könnten der Bevölkerung eine friedliche Perspektive aufzeigen. Basis dieses Konzepts sei der Plan des VN-Sonderbeauftragten Brahimi, der auf einem von ihm zwischen allen bedeutenden politischen Gruppierungen Afghanistans (mit Ausnahme der Taliban) erzielten Konsens beruhe. Innerhalb von zweieinhalb Jahren sollten durch personelle, finanzielle, zivile und militärische Unterstützung der internationalen Gemeinschaft der Wiederaufbau Afghanistans soweit gefördert werden, dass staatliche, private und zivilgesellschaftliche Strukturen sich Schritt für Schritt entwickeln und festigen könnten.

Eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau sollten die sogenannten Provincial Reconstruction Teams (PRTs)[3] übernehmen. Es handelte sich dabei um aus Soldaten und zivilen Experten zusammengesetzte Teams, die über den Raum der Hauptstadt Kabul hinaus auch in den afghanischen Provinzen „Inseln der Stabilität und Sicherheit” schaffen sowie den Einfluss der Kabuler Regierung stärken sollten. Die PRTs hatten sich unter dem Mandat der NATO-geführten ISAF je nach Region und leitender Nation unterschiedlich entwickelt. Fast alle PRTs hatten jedoch eine starke zivile bzw. entwicklungspolitische Komponente. Allerdings arbeiteten nur bei den deutschen PRTs in Kunduz und Feyzabad die zivile und militärische Komponente „integriert” und gleichrangig unter einem politischen Gesamtauftrag zusammen. Dies bedeutete, dass die deutschen PRTs von einer „Doppelspitze” geführt wurden – von einem Vertreter des Auswärtigen Amtes und von einem des Bundesministeriums der Verteidigung.

Innerhalb der zivilen Komponente arbeiteten Beauftragte des Bundesministeriums für zivile Zusammenarbeit und Entwicklung sowie des Bundesinnenministeriums (hier Polizeiausbildung) mit Vertretern des Auswärtigen Amtes zusammen. Damit unterstanden die Zivilisten im deutschen PRT nur in punkto Sicherheit, nicht aber in diplomatischen und entwicklungspolitischen Fragen dem militärischen Kommando.[4] Die entscheidende Legitimation für beide Elemente der Mission, die zivile und die militärische, bot aber die zivile mit ihrer klassischen „state-building“-Komponente. Der Deutsche Bundestag hat aber nur über den militärischen Teil befunden.

Eine Momentaufnahme zum militärischen Teil: Von 2005 auf 2006 stieg die Zahl der Selbstmordanschläge von 21 auf 139, nahmen Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern von 783 auf 1.677 zu und verdreifachte sich die Zahl direkter Angriffe auf internationale Streitkräfte von 1.558 auf 4.552. Das US-Militär verzeichnete 98 Tote, die übrigen internationalen Truppen weitere 93.[5] Die Me-dien waren sich weitgehend einig, dass der Krieg nicht zu gewinnen ist.[6] Der Nachschub für die Taliban erfolge über eine 2.560 km lange Grenze aus Pakistan. Werde sie nicht effektiv kontrolliert, sei „nation building” in Afghanistan unmöglich.[7] Bei einer Umfrage im Jahr 2007 sprachen sich 57 Prozent der Bundesbürger für ein Ende der Militärmission aus.[8] Anfang 2013 titelte die Welt: „Afghanistan-Einsatz ist für Deutsche ein Fehlschlag“.[9] Mindestens jeder zweite Bundesbürger lehnte den Einsatz ab, nur noch 38 Prozent standen hinter der Mission, so eine Bevölkerungsbefragung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr.

Aber auch die zivilen Elemente der Mission hatten sich sehr problematisch entwickelt. Mit der ZIF-Analyse 04/05 wurden das amerikanische, das britische und das deutsche Modell der PRTs untersucht. Die PRTs seien ohne einheitliches Konzept und kohärente Planung aus einer Defizit-Situation heraus entstanden, die darin bestand, dass ISAF landesweit keine ausreichende Sicherheit für das peace-nation building gewährleisten konnte. Die USA hätten beim Aufbau der PRTs den Anfang gemacht, Großbritannien und Deutschland folgten nach. Allerdings wählten alle drei sehr unterschiedliche Modelle, basierend auf den spezifischen Militärdoktrinen, institutionellen Voraussetzungen und jeweiligem nationalen Denken über das richtige Vorgehen bei Krisenprävention und Wiederaufbau. Das hatte Konsequenzen:

Das Grundproblem der US-PRTs war die gleichzeitige Durchführung von Kampfoperationen und Wiederaufbau. Das führte aber nicht nur zu einer Instrumentalisierung der humanitären Hilfe, sondern auch zu einer starken Widersprüchlichkeit in den Zielsetzungen der amerikanischen Intervention. Zur Erreichung eines erfolgreichen „war on terror” wurden Maßnahmen angewendet, wie insbesondere die Aufrüstung und Unterstützung lokaler Warlords, die für die Erreichung der humanitären Ziele offensichtlich kontraproduktiv waren. Die britisch geführten PRTs, ebenfalls unter alleiniger militärischer Führung, hatten mit ähnlichen Problemen zu kämpfen.

Dem deutschen PRT unter einer zivil-militärischen „Doppelspitze” lag ein ressortübergreifendes Programm mit einer Teilung in militärische, außenpolitische und entwicklungspolitische „Säulen” zu Grunde, für die eine Steuerungsgruppe der beteiligten Ministerien verantwortlich war. Sie sollte den zivilen Aufbau entsprechend dem Afghanistan-Konzept voranbringen. Ein wichtiges Instrument war die Zusammenarbeit zwischen staatlichen und halbstaatlichen Organisationen sowie NGOs, also des deutschen Entwicklungsdienstes (DED), der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) und der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Unter den NGOs waren in erster Linie die Deutsche Welthungerhilfe (DWHH), die Arbeitsgruppe Entwicklung und Fachkräfte (AGEF) und weitere.

Die meisten deutschen und internationalen NGOs zeigten sich aber skeptisch gegenüber dem deutschen PRT-Konzept. Die Vermischung von humanitären und militärischen Aktivitäten gefährde die Helfer und verletze die Neutralität der NGOs (wie bei den US- und britischen PRTs). Die Politisierung der humanitären Hilfe erodiere die eigenen Schutzmechanismen der Hilfsorganisationen. Vor allem weise das deutsche PRT den weitaus höchsten militärischen Anteil auf, obgleich es als einziges PRT unter ziviler Beteiligung geführt werde und sich am stärksten auf Aufgaben im zivilen Bereich konzentriere. Ein spezielles Problem liege darin, dass im Einsatzgebiet der Deutschen die größten Mohnanbau-Gebiete Afghanistans lägen. Die deutsche Haltung dazu sei, dass die Bundeswehr Kundus sichern, die Warlords und deren Drogenhandel aber in Ruhe lassen solle.[10] Damit unterschied sich die deutsche Haltung explizit von der der USA und der Briten.

Diese Kritik ist in einer SWP-Studie[11] im Einzelnen untersucht worden. Die Studie konzentrierte sich auf drei Fragestellungen:

  • Welche Versäumnisse sind den in Afghanistan aktiven Staaten im Verlaufe der letzten sieben Jahre anzulasten und wie versuchen sie neuerdings, ihre Strategie den Gegebenheiten anzupassen?
  • Welche Konsequenzen sind aus der heutigen Lage zu ziehen und wie ist insbesondere das Verhältnis zwischen militärischen und zivilen Organisationen und Mitteln auszutarieren?
  • Welche Rolle spielen Iran und Pakistan als die entscheidenden Nachbarn Afghanistans bei dessen Stabilisierung und wie kann den widersprüchlichen Interessen beider Staaten Rechnung getragen werden?

Das Fazit der Studie[12] zeigte viele Widersprüche, aber vor allem viel zu geringe internationale Anstrengungen auf:

  • Der Aufbau staatlicher Strukturen in einem sicheren Umfeld könne nur zusammen mit der lokalen Bevölkerung, nicht aber gegen sie gemeistert werden;
  • je umfangreicher die Reformagenda sei, desto mehr sei die internationale Gemeinschaft angewiesen auf Spezialisten aus internationalen Organisationen und NGOs;
  • die Abstimmung unter den vielen Akteuren sei fast unmöglich;
  • ein „vernetztes Vorgehen“ sei einerseits ratsam, andererseits angesichts der Existenz von „drei Willen“, einem afghanischen, einem amerikanischen und einem europäischen,[13] kaum erreichbar;
  • noch immer seien 6.000 Soldaten weniger da als von den Mitgliedstaaten im NATO-Rat als erforderlich gebilligt, und auch damit immer noch nur ein Sechstel der Truppen, wie sie in Bosnien eingesetzt waren;
  • jedoch: Die Probleme in Afghanistan seien mit militärischen Mitteln allein nicht zu lösen, es sei vielmehr nötig, stärker auf die lokalen Sicherheitskräfte zu setzen, die gründlich ausgebildet werden müssten; der afghanische Staat habe es sehr schwer, die auf ihn zukommenden Aufgaben zu finanzieren: 90 Prozent des afghanischen Staatshaushaltes würden von der internationalen Gemeinschaft finanziert;
  • dazu kämen Probleme mit den alten Eliten und mit der Korruption: „Die meisten Politiker in unserem Land sind Kriminelle.“;[14]
  • es sei wichtig gewesen, dass sich die Staaten und Organisationen beim NATO-Gipfel im April 2008 für eine Weichenstellung in Richtung einer allmählichen Reduzierung des militärischen und eine Stärkung des zivilen Beitrags positioniert hätten;
  • insbesondere müsse geprüft werden, ob ein Versöhnungsprozess mit den innerstaatlichen Gegnern zum Erfolg beitragen könne;
  • und vor allem: Die Ausgaben für die multinationalen Truppen beliefen sich auf ein Mehrfaches der Mittel für Staatsaufbau und Entwicklung, in Deutschland belaufe sich das Verhältnis von militärischen zu zivilen Ausgaben auf rund 5:1, nach Umsetzung der Zusagen auf der Pariser Konferenz vom 12. Juni 2008 sollten es 3,5:1 werden.[15]

2. Das Vorgehen der USA war kontraproduktiv

Vor allem das Militärische: Die USA haben Afghanistan jahrelang bombardiert. In Umsetzung von Obamas Konzept „No boots on the bottom“ wurden tausende von Zivilisten und (vermeintlichen) Militärs von Kampfdrohnen umgebracht. „Wir haben eine unglaubliche Anzahl Menschen erschossen, aber soviel ich weiß, stellte sich keiner von ihnen als Bedrohung heraus.“ So zitiert die Neue Zürcher Zeitung vom 17.08.2021 den US-General Stanley McChrystal über die US-amerikanische Kriegsführung. Das Zitat stammt aus dem Jahr 2009. Besser geworden war es seitdem nicht. Im Gegenteil: „Zivilisten wurden bei nächtlichen Hausdurchsuchungen getötet, später bei Drohnenangriffen.“ Die Folge war eine „Entfremdung der afghanischen Bevölkerung von den ausländischen Truppen“.

Die Zeitung nennt auch das Problem krasser Korruption und die Verantwortung des Westens dafür. Das Problem waren Milliarden sogenannter Hilfsgelder, die unter den Augen der Geldgeber in die falschen Taschen gerieten. Die USA selbst untersuchen schon seit Jahren das Problem – aber ohne Konsequenzen. Im März 2021 hieß es zu einem Bericht der zuständigen Untersuchungsstelle SIGAR (Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction): „Wie schon lange berichtet, hat die ausländische Hilfe die afghanische Wirtschaft entstellt und das Korruptionsproblem verschlimmert.“ Die Zeitung schreibt: „Milliarden Dollar an Entwicklungshilfe sind nach Afghanistan geflossen.“ Aber auch: „Derzeit haben 14 Millionen Menschen in Afghanistan nicht genug zu essen.“ Sie schreibt: „Der Westen unterstützte jahrelang eine Regierung von Kleptokraten.“ Und: „Die Korruption in Afghanistan war am Ende so durchdringend, dass die Menschen keine Urkunde beglaubigen lassen, keine Identitätskarte erstellen lassen konnten, ohne Bestechungsgeld zu zahlen.“ So hätten die Afghanen „genug von dem Staat“ gehabt, „der mehr Fassade denn Institution war“.

Die Zeitung erwähnt auch die 2019 veröffentlichen Afghanistan Papers:

„Die Afghanistan Papers – niemals vergessen!

mw. Die Afghanistan Papers wurden am 9. Dezember 2019 in der ‚Washington Post‘ veröffentlicht[16] und schlugen in der ganzen Welt wie eine Bombe ein. Sie enthielten Hunderte von Interviews mit hochrangigen militärischen und zivilen Verantwortlichen des Afghanistan-Kriegs, auf deren Grundlage John Sopko, US-Sonder-Generalinspekteur für den Wiederaufbau Afghanistans (SIGAR), im Auftrag des US-Kongresses einen Bericht verfasst hatte. Die Ergebnisse der Befragungen waren so katastrophal, dass die US-Regierung den Bericht geheimhalten wollte. Der Journalist Craig Whitlock kämpfte jedoch jahrelang für die Veröffentlichung der Dokumente und hatte schließlich Erfolg.

Die Empörung in den Medien weltweit nach dem Bericht in der Washington Post war groß. So schrieb beispielsweise der ‚Spiegel‘: «Ein 2000-Seiten-Bericht entlarvt, wie US-Regierung und Militär den Konflikt systematisch schönredeten. Nun ist das Dossier veröffentlicht worden – dank einer Klage.» Die Erkenntnis aus den Interviews: «Kein einziger der Generäle oder hohen Beamten glaubte demnach während seines Einsatzes tatsächlich an einen positiven Verlauf der Operation oder gar einen Sieg. Trotzdem behaupteten sie alle öffentlich das Gegenteil.»[17] Weil die Befragten davon ausgingen, dass ihre Aussagen nicht an die Öffentlichkeit gelangen, sprachen sie offen.

Der Spiegel zitiert einige Aussagen von Entscheidungsträgern:

  • General Douglas Lute, Chefberater der Präsidenten George W. Bush und Barack Obama für Afghanistan: «Uns fehlte ein grundlegendes Verständnis von Afghanistan – wir wussten nicht, was wir taten. Wir hatten nicht den blassesten Schimmer.»
  • Dan McNeill, Kommandant der US-Truppen in Afghanistan (2003/2004 und 2007/2008): «Es wurde viel geredet, aber es gab keinen Plan. Ich versuchte zu definieren, was ‚gewinnen‘ heißt, aber das konnte mir niemand sagen.»
  • Michael Flynn, Generalleutnant in Afghanistan und später Nationaler Sicherheitsberater von Präsident Donald Trump: «Wir hatten keine Ahnung, was unsere Aufgabe war.»

Seit der Publikation der Afghanistan Papers sind erst eineinhalb Jahre vergangen. So viel Leid und Zerstörung, so viele Tote und Verletzte, die Vernichtung des Landes Afghanistan und seiner Bevölkerung – schon vergessen?“

3. Mali

Ähnlich zivil-militärische Verflechtungen herrschen auch in Mali. Seit 2013 gibt es eine UN- Friedensmission in Mali, die „Multidimensionale Integrierte Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali“ (französisch: „Mission multidimensionelle intégrée des Nations Unies pour la stabilisation au Mali“; daraus leitet sich die offizielle Abkürzung MINUSMA ab).

Die UN-Mission geht auf Resolution 2100 des UN-Sicherheitsrates vom 25. April 2013 zurück. Sie erklärte als Ziele die Unterstützung zur Wiederherstellung der staatlichen Autorität, Unterstützung eines „nationalen politischen Dialogs“ und des Wahlprozesses, Förderung der Menschenrechte und der Schutz des UN-Personals in Mali. Die Bundeswehr beteiligt sich seit Beginn der Mission an MINUSMA. Die Soldatinnen und Soldaten nehmen dabei ein „robustes UN-Mandat“ wahr: Das heißt, sie dürfen bei Angriffen gegen zivile Personen diese und sich selbst mit der Waffe verteidigen und werden dementsprechend ausgerüstet. MINUSMA beteiligt sich jedoch nicht an der Bekämpfung von Terroristen. Diese Aufgabe übernehmen die zeitweise über 5.000 in der Sahel-Zone stationierten französischen Soldatinnen und Soldaten.

Der Bundestag muss regelmäßig das Mandat der Bundeswehr zur Teilnahme an MINUSMA verlängern. Die Obergrenze der eingesetzten Bundeswehrsoldaten wurde dabei im Laufe der Jahre von 150 (ab 2013) über 650 (ab 2016) und 1.000 (ab 2017) bis zu 1.100 Soldatinnen und Soldaten (ab 2018) ausgeweitet. Anfang Juli 2021 befanden sich etwa 880 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Rahmen von MINUSMA in Mali.

Neben der UN-Mission gibt es ebenfalls seit 2013 eine Ausbildungsmission der Europäischen Union, die „European Union Training Mission Mali“ (EUTM Mali). Ziel ist es, Sicherheitskräfte der Regierung von Mali dafür auszubilden, im Land für Stabilität sorgen zu können. Der Fokus liegt dabei insbesondere auf der Aus- und Weiterbildung von Führungskräften.

Schließlich gibt es die „EU Capacity Building Mission in Mail” (EUCAP Sahel Mali). Sie wurde am 15. April 2014 im Rahmen der „Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (GSVP) der Europäischen Union als zivile Aufbaumission gestartet, um die lokalen Sicherheitskräfte in Mali zu unterstützen und einen Beitrag zur Stärkung der Inneren Sicherheit zu leisten. Dies geschieht durch die Aus- und Fortbildung von Polizei, Nationalgarde und Gendarmerie. Missionsgebiet ist Mali, wobei sich das Hauptquartier in der Hauptstadt Bamako befindet. 2014 beteiligte sich die Bundesrepublik Deutschland mit zehn Polizeibeamten und weiteren zivilen Beratern an der Mission. Insgesamt besteht die Mission aus 20 Polizeibeamten und 63 Zivilisten.

Ein rein militärischer Einsatz ist die „Opération Barkhane“ der Franzosen, eine Anti-Terror-Mission, die wegen der vielen zivilen Opfer in der Bevölkerung verhasst ist. Sie soll jetzt abgebrochen werden. Der Chef der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Bamako kritisiert denn auch das Übergewicht des „Militärischen“.[18]

Die Gefahren liegen vor allem in den Auseinandersetzungen zwischen gemäßigten Islamisten und dem dschihadistischen Terrorismus.[19] Sie sind die Hauptschwachstelle der westlichen Bemühungen um Einfluss.

4. Die Stellungnahme der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD „Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik“

Die Evangelische Kirche Deutschland (EKD) nahm diese Kritik am Afghanistan-Einsatz in einer Stellungnahme auf. Sie hatte sich schon in ihrer Friedensdenkschrift 2007 mit den konkreten Auswirkungen des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan auseinandergesetzt und darauf aufmerksam gemacht, dass die Soldaten der Friedensmission in zunehmendem Maße als „Besatzer“ angesehen würden (Rz 150). Der militärische Einsatz sei nicht alles. Vielmehr müsse die internationale Gemeinschaft „umfassend Verantwortung übernehmen“. Das Nebeneinander des Versuchs, militärisch Sicherheit herbeizuführen und das Land wiederaufzubauen, müsse gut abgestimmt werden. Nötig sei die Erarbeitung eines „friedenspolitischen Gesamtkonzepts“.

Die Diskussion in der Kirche ging offensichtlich weiter. „Nichts ist gut in Afghanistan“, sagte die damalige Ratsvorsitzender der EKD, Margot Käßmann, Anfang 2010. Es sei eine „teils hitzige“ Debatte über die Fragen gefolgt: War der Bundeswehreinsatz am Hindukusch gerechtfertigt, waren die Mittel vertretbar? Und dann legte die EKD ein sehr prägnantes neues Papier vor, „Selig sind die Friedfertigen.Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik:[20]

Diese Stellungnahme der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD unter Vorsitz des früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier, war angestoßen worden vom Afghanistan-Besuch einer Delegation unter Leitung des Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider im Februar 2011. Die Kammer sei beauftragt worden, den Afghanistan-Einsatz anhand des Leitbildes des gerechten Friedens der EKD-Friedensdenkschrift von 2007 zu erörtern. In ihrer Bewertung hat sich die Kammer – teils auch kontrovers, was auf den Tisch gepackt wird – mit dem deutschen militärischen Engagement in Afghanistan und den „Grenzen rechtserhaltender militärischer Gewalt“ auseinandergesetzt – und der Befund ist niederschmetternd. Von Anfang an habe es kein „friedens- und sicherheitspolitisches Gesamtkonzept“ vor Ort gegeben.

In diesem Zusammenhang setzte sich die Kammer mit der Legitimität der ursprünglichen Interventionsentscheidung auseinander. Ein Teil der Kammer plädierte für die ständige Überprüfung der Legitimität der Voraussetzung einer Intervention und die Inkaufnahme einer Revision. Ein anderer Teil betonte die Bedeutung der unvorhersehbaren Entwicklungen und hielt flexible Reaktionen für legitim. Jedoch müsse von vornherein die Grundentscheidung zur militärischen Intervention mit größter Sorgfalt Unvorhergesehenes einkalkulieren. Ein Teil der Kammer sah dabei das Argument der Bündnissolidarität eher kritisch: Es wurde bestritten, „dass der Gesichtspunkt der Bündnissolidarität im Zweifelsfall Vorrang haben darf vor friedensethischen und rechtlichen Selbstbindungen“.

Die Kammer erinnerte auch daran, dass die Weichenstellungen auf der Petersberg-Konferenz im Herbst 2001 insofern mangelhaft waren, als „erhebliche Teile der Zivilgesellschaft, darunter auch oppositionelle Kräfte (insbesondere auch afghanische Frauengruppen), ausgeschlossen“ gewesen seien und „keine Stimme im vorgesehenen politischen Prozess“ erhalten hätten.

Jedenfalls sei die Akzeptanz der auf dem Petersberg entwickelten Konzepte nachhaltig beeinträchtigt worden. Es sei auszuloten, ob nicht jede Mandatierung einer bewaffneten Friedensmission immer auch mit einem friedenspolitischen zivilen Konzept versehen sein müsste. Auf diese Weise wäre jedwede militärische Operation in eine notwendigerweise zivile Perspektive eingebunden und an ihr zu messen. Das erklärte Ziel ziviler Konfliktprävention könne durch Einbeziehung und Ausbau der vorgesehenen Kompetenzen (Aktionsplan zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung, Ressortkreis, Bundestagsunterausschuss) bestärkt werden. Konsequent plädierte die Kammer für eine Änderung des Verfahrens zur Mandatierung von Einsätzen durch den Bundestag. Es liege nahe, „den militärischen Teil in eine umfassende Mandatierung einzubinden, in der die zivilen friedenspolitischen Ziele und Maßnahmen konkretisiert werden“.[21]

Die Kammer spießte auch ein weiteres prekäres Thema auf, die amerikanische „Allgemeine Strategie der Aufstandsbekämpfung (counter insurgency/COIN)“. Einerseits wolle diese Strategie durch ein breites zivil-militärisches Handlungsspektrum „die Loyalität der Zivilbevölkerung gewinnen und die Aufständischen isolieren“. Andererseits werde verstärkt auf „verdeckte Operationen“ durch Spezialeinheiten, die gezielte Tötung Aufständischer und Terrorismusverdächtiger und Angriffe mit Kampfdrohnen gesetzt. Dabei wird auch die Tötung von Osama bin Laden am 01.05.2011 durch ein Kommando amerikanischer Navy Seals auf pakistanischem Territorium angesprochen: „Ob die Absicht bestand, ihn gefangen zu nehmen und einem rechtsstaatlichen Verfahren zuzuführen, ist zumindest zweifelhaft.“[22] Auch zu diesem Thema gab es widerstreitende Positionen: Die eine hielt den Einsatz von Kampfdrohnen mit dem humanitären Völkerrecht nicht für vereinbar. Die andere Position bestritt, dass es eine „institutionalisierte Praxis des gezielten Tötens nichtstaatlicher Gewaltakteure, die nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen“, gibt. Es wurde auf die völkerrechtliche Diskussion zum Kombattantenstatus verwiesen.

Die Friedensdenkschrift der EKD und das Plädoyer der Kammer für eine Erweiterung des Parlamentsvorbehalts trafen auf eine öffentliche Diskussion, die bei näherer Betrachtung keineswegs aus einem Guss war. Einerseits plädierten Bundespräsident Gauck und Bundesverteidigungsministerin von der Leyen dafür, dass Deutschland wieder mehr „militärische Verantwortung“ übernehmen müsse. Bundesaußenminister Steinmeier wollte in die Vorbereitung der Mandatierung von Auslandseinsätzen auch Entwicklungshilfeminister Gerd Müller einbinden,[23] der schon mit seinen ersten öffentlichen Bemerkungen großes Problembewusstsein und den Willen zum Eingreifen unter Einbindung der Vereinten Nationen geäußert hatte. Daher könne eine Änderung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes, die die zivilen Ziele einer Konfliktschlichtung zum Sicherungsobjekt für einen Militäreinsatz macht, ein Schritt zum standfesten Frieden sein.

5. Folgerungen für den Parlamentsvorbehalt

Dieser Befund muss Folgen für den Parlamentsvorbehalt haben. Denn der Parlamentsvorbehalt bezieht seine Rechtfertigung daraus, dass die konkrete Aufgabe, um die es hier geht, zum Zeitpunkt der Zustimmung Deutschlands zur Charta der Vereinten Nationen noch nicht denkbar war. Deutschland gliederte sich mit der Afghanistan-Mission vielmehr erstmals ein in einen umfassenden Auftrag der Vereinten Nationen als System kollektiver Sicherheit mit einem sehr weitreichenden und vor allem mit zivilen Mitteln arbeitenden Auftrag. In einem solchen Fall stellt sich auch die Frage nach der Reichweite der ursprünglichen parlamentarischen Zustimmung neu.[24]

Allerdings hätte sich der Bundestag eigentlich schon zum Zeitpunkt des ersten Mandats vom 22.12.2001 damit befassen müssen, zumal die damalige Begründung war, dass die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte ein wesentlicher Beitrag Deutschlands zur Implementierung des auf dem Petersberg in Gang gesetzten nationalen Versöhnungsprozesses in Afghanistan sei.[25] Allerdings war damals noch nicht erkennbar, ob und mit welchen Instrumenten der Erfolg der deutschen Beiträge zu diesem Versöhnungsprozess gewährleistet werden könne. Hinzu kommt, dass dem Bundestag – und der Bundesregierung – die Erfahrung mit einem solchen umfassenden und neuartigen Mandat fehlte. Heute hat sich die Lage geändert: Wenn der Bundestag die weitere Präsenz deutscher Truppen in Afghanistan verantworten wollte, hätte er prüfen müssen, ob der intendierte Versöhnungsprozess auch tatsächlich vorankommt. Geht man davon aus, dass der „Krieg gegen die Taliban” nicht zu gewinnen ist, hätten über den Erfolg der Mission nur die zivilen Elemente entscheiden können. Deren Ausstattung und ggf. Aufstockung hätte nur der Bundestag verantworten können.

Das bedeutet für das Procedere ganz generell: Der Bundestag muss die Bundesregierung beauftragen, ihm zunächst einen eigenen umfassenden, also die militärischen und die zivilen Elemente umfassenden, Lagebericht mit eigener Bewertung zu geben.[26] Der Bundestag muss ihn debattieren. Er muss dann eigenständig darüber entscheiden, wie er die Weichen stellen will. Gerade der Ausbau des zivilen Engagements greift mit der dafür erforderlichen Aufstockung der finanziellen Mittel in die Budgethoheit des Parlaments ein. Ob und in welchem Umfang sodann der militärische Teil fortgesetzt wird, hängt von der Prognose über den Erfolg des zivilen Teils ab.

6. Vorschlag

§ 3 Abs. 2 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes sollte wie folgt ergänzt werden:

„Der Antrag der Bundesregierung enthält Angaben insbesondere über • den Anlass des Einsatzes im Konfliktgebiet,

  • das Ergebnis der Prüfung, ob, in welchem Umfang und mit welchem Ergebnis Bemühungen einer zivilen Konfliktregelung Erfolg hatten, [neu]
  • die Darstellung der Elemente einer umfassenden Konfliktregelung mit Festlegung des deutschen Beitrags; unter strikter Achtung des Friedensgebots des Grundgesetzes, [neu]
  • die Aufgaben der Bundeswehr bei der Herstellung sicherer Verhältnisse und der Absicherung der Konfliktregelung,
  • das Einsatzgebiet,
  • die völker- und bundesrechtlichen Grundlagen des Einsatzes“

Die Volksvertretung würde in einem umfassenden Sinne über die Möglichkeiten einer zivilen Konfliktschlichtung und die Beteiligung der Bundeswehr an ihrer Absicherung entscheiden. Umfassende Friedenssicherung wäre damit parlamentarische Aufgabe.

7. Keine Kollision mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

Eine solche Gesetzesänderung würde wohl nicht mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kollidieren. Das Gericht hatte den Parlamentsvorbehalt im „Out-of-area“- Urteil vom 12.07.1994[27] auf die „Verfassungstradition seit 1918“ gestützt, die Zuständigkeit des Reichstags „für Kriegserklärung und Friedensschluß“ (Art. 45 Abs. 2 WRV). Diese Begründung ist überholt. Denn „Friedensmissionen“ nach dem Muster der VN oder der EU arbeiten mit einem Miteinander von zivilen und absichernden militärischen Mitteln. Das ist kein herkömmlicher Militäreinsatz wie zur Verteidigung. Der Parlamentsvorbehalt muss diese Veränderung respektieren und sich anpassen. Dafür muss das Parlamentsbeteiligungsgesetz geändert werden.

8. Lessons to learn

Aber es gibt einige Hürden für diesen Vorschlag: Die erste ist das Durchsetzen der Gesetzesänderung. Dafür muss Einiges an Lobbyarbeit geleistet werden. Dazu kommt die – berechtigte – Kritik aus der Friedensbewegung. Die bisherigen Fälle zivil-militärischer Zusammenarbeit sind gescheitert. Das lag vor allem am Übergewicht der militärischen Anteile; diese wiederum am Gehabe eines für die Ordnung der Welt zuständigen „Sheriffs“ USA,[28] der noch nicht begriffen hat, dass Frieden nur ohne Waffen zu schaffen ist. Aber vielleicht setzt ja das Scheitern in Afghanistan einen Umdenkprozess in den USA in Gang, der hoffentlich auf die NATO überschwappt; endend in einem Verständnis des Militärs als Hilfsorgan der VN für – etwa – „Blauhelmmissionen“.

Das Hauptproblem sehe ich im völlig unterentwickelten Status der Zivilen Konfliktbearbeitung, in den die Staaten viel mehr investieren müssen, nicht nur finanziell, sondern beim politischen Gewicht. Die „Verteidigungs“ministerien müssen ersetzt werden durch Ministerien für die Zusammenarbeit mit den VN, der EU, den Friedensforschungsinstituten und den NGO‘s für die zivile Bearbeitung „hybrider“ Konflikte. Ein Signal in der BRD wäre die Ersetzung des Unterausschusses (!) für Zivile Krisenprävention im Deutschen Bundestag durch einen Ausschuss für Zivile Konfliktbearbeitung, dessen Votum entscheidend wäre für das Schicksal einer Regierungsvorlage zu einer novellierten Parlamentsbeteiligung.

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