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„ …wenn der US-Adler seine Krallen auf ein anderes Land setzt“

Published On: 24. Oktober 2021 11:45

Notwendige Betrachtungen über gedankenloses Gedenken und verschüttete Erinnerungen im Sog imperialer Kriegslogiken von den Philippinen (1898) bis nach Afghanistan (2021)

Kein anderes Land hat den Lauf der Weltgeschichte in den vergangenen mehr als 100 Jahren so stark geprägt wie die USA. Vor dem Hintergrund des gescheiterten Afghanistankrieges werden in dieser Artikelserie die imperialen Bestrebungen der Vereinigten Staaten in dieser Zeit detailliert dargestellt. Ein zweiteiliges Essay und Plädoyer wider die Amnesie – präziser: gegen ein (politisch erwünschtes oder gewolltes) Vergessen-Machen von Rainer Werning (Teil I von II).



Der abschließende 2. Teil wird am nächsten Wochenende auf den NachDenkSeiten erscheinen.

Grauenvoll-surreale Bilder, die wir nie vergessen werden! Mit dem siegreichen Einzug der Taliban in Afghanistans Hauptstadt Kabul Mitte August hatten gleichzeitig zahlreiche Afghanen signalisiert, ihrer Heimat schnellstmöglich den Rücken zu kehren – aus Furcht vor Vergeltung, Rache der Sieger oder einfach nur, um ihr nacktes (Über-)Leben im Ausland zu sichern. Dermaßen verzweifelt waren in Windeseile auf das Kabuler Flughafengelände gehastete Landsleute, dass sie versuchten, sich an Reifen und Ladeluken bereits von den Pisten abhebender Frachtmaschinen der US-Luftwaffe zu klammern. Und dabei den Tod fanden – entweder von den Riesenrädern zermalmt oder „abgestoßen“, als kurz nach dem Start die Fahrwerke der Maschinen zuklappten. Im Gegensatz dazu nahmen sich die Bilder der buchstäblich in letzter Minute Geretteten auf dem US-Botschaftsgelände in Südvietnams früherer Hautstadt Saigon Ende April 1975 nachgerade als profane Wallfahrtsprozession aus.

Knapp einen Monat später dann die großen Gedenkfeierlichkeiten anlässlich des 20. Jahrestages der Terroranschläge in New York und Washington, die dreitausend Menschenleben forderten. 9/11, der 9. September 2001, ist seit zwei Dekaden zur Chiffre für einen neuen Zeitabschnitt in der Geschichte mitsamt eines gleichzeitig entfesselten „Krieges gegen den Terror(ismus)“ geworden, dessen Ende meine Generation – die um 1950 Geborenen – womöglich nicht mehr erleben wird. Wer heute in aufwändigen Gedenkfeiern die eigenen Opfer beklagt, es gleichzeitig jedoch unterlässt, an die Hunderttausende von namenlosen „Kollateralschäden“ dieses Krieges gebührend zu erinnern, sollte solch hehren Worte wie „freedom & democracy“, „westliche Wertegemeinschaft“ und „regelbasierte und verlässliche internationale Ordnung als Grundlage friedlicher Beziehungen zwischen Staaten“ tunlichst hurtig aus seinem Vokabular tilgen.

Vorbemerkung

Im Sinne eben einer solchen Amnesie markiert der Machtwechsel in Kabul Mitte August 2021 – abwechselnd als „Katastrophe“, „Debakel“ und „verheerende Niederlage der von den USA geführten westlichen Wertegemeinschaft“ kategorisiert – eine Zäsur, die sich eigentlich vorzüglich dazu eignete, innezuhalten und mit Bedacht zumindest den imperialen Kriegslogiken der vergangenen 130 Jahre nachzuspüren. Immerhin waren es um 1894/95 die drei „Spätzünder“ unter den Kolonialmächten – das Deutsche und das Japanische Kaiserreich sowie die ebenfalls nach fremden Märkten gierenden USA – die eigene hegemoniale Ambitionen hegten und entsprechende militärische Feldzüge in Afrika beziehungsweise in Ost- und Südostasien inszenierten. Während sich mit Blick auf Ostasien Japan in zwei siegreichen Feldzügen gegen China (1894/95) und das zaristische Russland (1904/05) als dortige Regionalmacht etablierte, war in den USA eine erbittert geführte Debatte darüber in vollem Gange, ob Washington sich ebenfalls außerhalb US-amerikanischer Grenzen (militärisch) engagieren sollte. Die damals zentrale Frage lautete: Sollen die Amerikaner Kolonien erobern oder sich mit ihrem eigenen großen Land zufriedengeben?

„Wir müssen unserem Blut gehorchen und neue Märkte und wenn nötig neue Gebiete in Besitz nehmen.“

So lautete das Credo der Befürworter der Kolonialpolitik, während die Gegner für außenpolitische Zurückhaltung plädierten. Zu Letzteren gehörte u.a. Samuel Langhorne Clemens, uns besser bekannt als Mark Twain, Autor solcher Bestseller wie „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ und „Tom Sawyers Abenteuer.“ Als Journalisten von dem 65-jährigen Erfolgsautor und Schriftsteller wissen wollten, ob er tatsächlich Antiimperialist sei, antwortete er:

„Sie fragen mich, was Imperialismus bedeutet. Ich genieße nicht den Vorteil, genau zu wissen, ob sich unser Volk über den gesamten Globus ausbreiten will. Strebte es danach, würde ich das sehr bedauern. Ich hingegen meine, es ist weder klug noch eine notwendige Entwicklung, in China oder in anderen Ländern, in denen wir nichts zu suchen haben und die uns nicht gehören, Flagge zu zeigen.“

Mark Twain zählte als scharfzüngiger Gegner US-amerikanischer Kolonialpolitik zu den berühmtesten Persönlichkeiten der in den USA selbst rührigen Antiimperialistischen Liga der Vereinigten Staaten von Amerika, als deren Vizepräsident er immerhin von 1901 bis zu seinem Tode 1910 fungierte.[1]

Remember the Maine!” – Schlachtruf der Imperialisten

Bis Ende des 19. Jahrhunderts waren amerikanische Siedler nach blutiger Unterjochung verschiedener Stämme sogenannter Native Americans bis an die Westküste vorgedrungen. Seit etwa 1890 wurde es laut um den Stillen Ozean. Die Weite dieses größten Weltmeeres beflügelte weitschweifende, zunehmend hitzigere Debatten: Sollten die Amerikaner dieses Meer – mit Berufung auf den Herrn – zur amerikanischen See machen? Diese Streitfrage spaltete die Vereinigten Staaten in sogenannte „Isolationisten“ und „Interventionisten“ oder auch „Imperialisten“. Erstere meinten, die USA genügten sich selbst und ihr Territorium stelle einen ausreichend großen Binnenmarkt dar. Die Befürworter eines Imperialismus waren Leute höchst unterschiedlicher Provenienz – Geistliche, Politiker, Geschäftsleute und auch Intellektuelle – die im Wettstreit mit den europäischen Kolonialmächten ja nicht zu kurz kommen wollten.

Der US-amerikanische Historiker Richard Hofstadter hatte in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Politik und Gedankenwelt in den Vereinigten Staaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts analysiert und gezeigt, wie sehr die amerikanische Politik von einem unerschütterlichen Sendungsbewusstsein bestimmt wurde. Hofstadter, Professor an der Columbia University in New York, beschrieb die tiefe psychische Krise und Zerrissenheit, die das Land seit 1890 erfassten, als die Expansion der Binnengrenzen abgeschlossen war. In jenen Tagen trieb Politiker, Intellektuelle und Geschäftsleute gleichermaßen die Angst um, nun buchstäblich an ihre eigenen Grenzen gestoßen zu sein.

Der Drang in den „Wilden Westen“ beruhte auf der ungestümen wirtschaftlichen Entwicklung an der Ostküste der Vereinigten Staaten. Die Industrialisierung beschleunigte die Konzentration und Expansion von Kapital, das nun lukrative Anlagemöglichkeiten und neue – notfalls auch fremde – Märkte suchte. Stellvertretend für die Imperialisten hatte Theodore Roosevelt, noch bevor er 1901 Präsident wurde, offen erklärt:

„Ein gerechter Krieg ist für die Seele des Menschen besser als der Frieden im größten Wohlstand.“

Der einzige ernstzunehmende Konkurrent der aufstrebenden Vereinigten Staaten war Spanien, das sich seit dem 16. Jahrhundert nebst Portugal als europäischer Global Player in Südamerika, in der Karibik und in den Philippinen als Kolonialmacht etabliert hatte. Um 1900 jedoch war Spaniens Imperium bereits beträchtlich geschrumpft, frühere Kolonien wie Mexiko und Argentinien längst unabhängig. Lediglich Puerto Rico, Kuba, die Insel Guam und die Philippinen befanden sich noch in spanischem Besitz. Doch auch in diesen Regionen schwächten antikoloniale Revolten die einst sieggewohnten Konquistadoren; die Herrschaft brutaler Militärs und raffgieriger Mönchsorden wankte, zudem war die spanische Flotte hoffnungslos veraltet. So verwunderte es nicht, dass die von den USA sozusagen vor ihrer Haustür gesuchte Konfrontation mit dem iberischen Rivalen – der Spanisch-Amerikanische Krieg – nicht einmal vier Monate dauerte.

Am 15. Februar 1898 erhitzte ein ungeheuerlicher Vorgang in den Gewässern vor der kubanischen Hauptstadt Havanna die Gemüter in den Vereinigten Staaten. Das amerikanische Kriegsschiff USS Maine flog buchstäblich in die Luft. Für amerikanische Militärs und Politiker stand außer Frage: Die Spanier hatten einen Sabotageakt verübt. Jedenfalls lieferte das Schicksal der Maine den Vorwand, endlich gegen die spanische Kolonialmacht loszuschlagen. „Remember the Maine!” – „Erinnert Euch an die Maine!” – wurde zum gängigen Schlachtruf der Interventionisten.[2] Innerhalb weniger Wochen erlangten US-amerikanische Marineverbände und Bodentruppen die Oberhoheit über Kuba und verleibten sich Puerto Rico ein. Später dann annektierten sie im Pazifik das bis dahin unabhängige, von 1891 bis 1893 von der letzten Königin Liliʻuokalani regierte Königreich Hawaii sowie die spanischen Outposts Guam und die Philippinen. Die Hoffnungen der antispanischen Revolutionäre, die mächtigen USA stünden ihnen in ihrem Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit zur Seite, erfüllten sich nicht. Im Gegenteil: Die Vereinigten Staaten avancierten selbst zur Kolonialmacht.

Expansion und koloniale Begehrlichkeiten in Südostasien oder „Geradewegs hinter den Philippinen liegen Chinas schier unermesslichen Märkte“

Ein glühender Befürworter des Imperialismus war der aus dem Bundesstaat Indiana stammende junge Senator Albert Jeremiah Beveridge. Seine politische Karriere verdankte er feurigen Plädoyers für die Annexion der Philippinen. Am 9. Januar 1900 präzisierte der Republikaner sein Weltbild in einer Rede vor dem US-Kongress:

„Geradewegs hinter den Philippinen liegen Chinas schier unermesslichen Märkte. Wir werden unseren Teil in der Mission unserer von Gott geschützten Rasse bei der Zivilisierung der Erde beitragen. Wo werden wir die Abnehmer unserer Produkte finden? Die Philippinen geben uns einen Stützpunkt am Tor zum Osten.“[3]

Imperialisten wie Senator Beveridge interessierte nicht, dass der philippinische General und Revolutionär Emilio Aguinaldo bereits am 12. Juni 1898 die erste Republik Asiens ausgerufen hatte. Pech für die Filipinos; diese Unabhängigkeit war kurzlebig, weil sie in ein politisches Machtvakuum fiel. Die Fernostflotte der U.S. Navy hatte zwar einige Wochen zuvor binnen weniger Stunden des 1. Mai 1898 die maroden spanischen Kriegsschiffe in der Manila-Bucht außer Gefecht gesetzt. Doch erst Ende Juni betraten US-amerikanische GIs philippinischen Boden – faktisch also ein unabhängiges Land. Auf der Friedenskonferenz in Paris wurde im Dezember 1898 vereinbart, dass Washington den Spaniern als Trostpreis für den Verlust der Philippinen 20 Millionen Dollar zahlte. Wenige Wochen zuvor hatte der damalige US-Präsident William McKinley in einer Ansprache an eine Gruppe protestantischer Geistlicher begründet, warum sich die USA der philippinischen Inseln bemächtigten.

„In Wahrheit wollte ich die Philippinen nicht, und als wir sie als Geschenk der Götter bekamen, wusste ich nichts mit ihnen anzufangen. Ich lief Abend für Abend bis Mitternacht im Weißen Haus umher; und ich schäme mich nicht zu gestehen, dass ich niederkniete und den Allmächtigen mehr als einmal um Licht und Führung anging. Und eines Abends spät dämmerte es mir: Erstens, dass wir sie nicht an Spanien zurückgeben könnten – das wäre feige und unehrenhaft; Zweitens, dass wir sie nicht Frankreich oder Deutschland – unseren Handelsrivalen im Osten – übergeben konnten – das wäre schlechter Geschäftsstil und diskreditierend; Drittens, dass uns nichts übrigblieb, als sie zu übernehmen und mit der Gnade Gottes das Allerbeste für sie zu tun, unsere Mitmenschen, für die Christus auch gestorben ist. Und dann ging ich zu Bett und schlief gut.“

Mit dieser Offenbarung – einer Mischung aus imperialem Sendungsbewusstsein, Rassismus und Überlegenheitswahn – leugnete der Präsident schlichtweg die knapp 350-jährige Kolonialherrschaft des christlichen Spanien. Geleugnet wurden auch eigene imperialistische Interessen; diese wurden fortan verbrämt als benevolent assimilation. Zu dieser „wohlwollenden Assimilierung“ gehörte, dass die neuen Besatzer in den Philippinen das amerikanische Englisch als Amtssprache im Bildungs-, Geschäfts- und Verwaltungsbereich durchsetzten. Außerdem bauten die US-Militärs dort die größten Stützpunkte außerhalb der Vereinigten Staaten auf und schufen unter dem Befehl ihres Generals Arthur MacArthur eine philippinische Armee. Die allerdings hatte sich damit zu begnügen, für die US-Streitmacht im Lande Hilfsdienste als Späher, Träger oder Informanten zu leisten.

Die US-amerikanischen Militärs betraten im Sommer 1898 ein unabhängiges Land, die erste freie Republik Asiens. Die Bevölkerung leistete auch den neuen Kolonialherren erbitterten Widerstand. Um diesen zu brechen, begannen amerikanische Truppen mit der sogenannten „Befriedung“ der Inseln: Die Folge war der Amerikanisch-Philippinische Krieg. Er begann im Februar 1899 und endete nach der offiziellen Geschichtsschreibung dreieinhalb Jahre später. Im Süden der Philippinen, in der Sulu-See und auf der Insel Mindanao, deren Bevölkerung vorwiegend muslimisch war und die die Spanier abschätzig „Moros“ genannt hatten, dauerte die amerikanische „Befriedung“ allerdings bis 1916.

Manifester Rassismus im Schatten militärischer „Pazifizierung“

Im Jahresbericht 1903 des US-Divisionskommandeurs Generalmajor George W. Davis hieß es beispielsweise:

„Es wird notwendig sein, nahezu sämtliche Bräuche auszumerzen, welche bislang das Leben der Moros auszeichneten. Solange der Mohammedanismus vorherrscht, kann der angelsächsischen Zivilisation nur mühsam der Weg geebnet werden.“

Während des Amerikanisch-Philippinischen Krieges erprobte die neue Kolonialmacht erstmalig sämtliche Methoden der „Counterinsurgency“ („Aufstandsbekämpfung“ oder „Aufruhrbekämpfung“), die in späteren Kriegen in Korea, Vietnam, Laos und Kambodscha sowie im Irak und in Afghanistan „verfeinert“ wurden – von Nahrungsmittelblockaden bis hin zum strategic hamletting, der Errichtung sogenannter „strategischer Weiler“. Dadurch sollten die Außenkontakte von Menschen in einer bestimmten Region eingeschränkt beziehungsweise genau überwacht werden. Zu diesem Zweck wurde das Gebiet streng patrouilliert, mit Stacheldraht umzäunt und die Bevölkerung angewiesen, eine Seitenwand ihrer – meist aus Bambus oder Nipa gefertigten – Häuser zu entfernen, um diese „durchsichtig“ zu machen. Ziel war es, die Zivilbevölkerung von potenziellen „Aufrührern“ und „Banditen/Dieben“ (ladrones) oder „Aufständischen“ (insurrectos) zu trennen. Später nannte man dies: „der Guerilla das Wasser abgraben“ und heute wird von „terroristischen Akten“ beziehungsweise der Vorbereitung solcher Akte gesprochen. Zur Abschreckung und um den Widerstand der Filipinos zu brechen, erließ die Kolonialverwaltung besondere Gesetze, um auch das Hissen der früheren Nationalflagge und das Singen patriotischer Lieder zu unterbinden. Zuwiderhandlungen wurden schwer bestraft.

Auf dem Höhepunkt des Amerikanisch-Philippinischen Krieges – im Jahre 1900 – entstand in Manila der Military Order of the Carabao (Militärische Orden des Wasserbüffels), ein martialischer Klub von Offizieren der US-Armee, Marine und des Marines Corps sowie akkreditierter US-amerikanischer Kriegskorrespondenten. [Erst später wurde die Mitgliedschaft in diesem Orden gelockert beziehungsweise erweitert, so dass ihm auch Veteranen anderer US-Militärinterventionen in Asien, im Indischen Ozean und Pazifik beitreten konnten.] Vor allem Kriegsgegner und -kritiker im In- wie Ausland hatte der Military Order of the Carabao im Visier. Gegen sie zog er schonungslos vom Leder, vor allem während seiner ausufernden Jahresfeiern, kurz „wallows“ genannt. [„Wallow“ hat zweierlei Bedeutung: Es kann „weiden“, „grasen“ oder auch „sich (im Dreck/in brackigem Wasser) suhlen“ meinen.] Auf ihnen grölte man zur Melodie von Marching Through Georgia ein eigens komponiertes „Soldatenlied“ mit folgendem Text, wobei man alternierend statt „Filipinos“ auch „insurrectos“ (Aufständische) oder „ladrones“ (Diebe) verwendete:

„Damn, damn, damn the Filipinos (insurrectos),

Cross-eyed kakiack ladrones!

Underneath the starry flag

Civilize ‘em with a Krag, [4]
And return us to our own beloved homes!“

In dem bis dato größten und gleichzeitig bestdokumentierten Kolonialmassaker in Südostasien wurde die damalige zwischen sechs und sechseinhalb Millionen Einwohner zählende Bevölkerung der Philippinen buchstäblich dezimiert. Andere Quellen sprechen sogar von annähernd einer Million Opfern unter der Zivilbevölkerung. Es war der erste Guerillakrieg in Asien, in den insgesamt etwa 150.000 GIs der US-amerikanischen Streitkräfte verstrickt waren und in dem auch über 4.200 Mann ihrer Truppen getötet wurden. Im besonders „unruhigen Süden“ des Archipels gingen Generäle wie Leonard Wood und John Joseph Pershing als „Schlächter der Moros“ in die Annalen ein. Sie waren für Massaker verantwortlich, denen vor allem die Zivilbevölkerung auf der Insel Jolo zum Opfer fiel.[5]

Es waren der „Philippinen-Feldzug“ im Allgemeinen und die gewaltsame Unterwerfung des „unruhigen Südens“ im Besonderen (den zu erobern es selbst der langwährenden Kolonialmacht Spanien verwehrt blieb), die auch und gerade den Nährboden für die Herausbildung eines betont anti-asiatischen Rassismus bildeten. So ward im Zuge der großen kapitalistischen Inwertsetzung des philippinischen Archipels durch den US-Imperialismus und im Umgang mit den kolonialen Untertanen der zutiefst pejorative Begriff Gook“ geprägt. Ursprünglich von den GIs verwendet, um auf Prostituierte zu verweisen, wurde der Begriff schon bald abschätzig für feindliche Soldaten verwandt und avancierte schließlich zum Inbegriff des „schlitzäugigen, hinterhältigen und schmierigen Asiaten“. Kein Wunder, dass US-amerikanische Soldaten später im Koreakrieg (1950-53) den Begriff wiederbelebten. Doch erst während des Vietnamkriegs (1965-75), der in Vietnam selbst der Amerikanische Krieg genannt wird, wurde „Gook“ in Verbindung mit „Vietcong“ (herabsetzend für „vietnamesischer Kommunist“) umgangssprachlich „hoffähig“. Auf subtilere Weise erlebt der Begriff gegenwärtig eine „Renaissance“, was das neuerkorene „westliche“ Feindbild China im Rahmen der sogenannten „Indo-Pazifik-Strategie“ betrifft.

Berichte über das Gemetzel in den Philippinen machten auch Schlagzeilen in der US-Presse. Vor allem waren es Kommandanten wie Jacob H. Smith, die Empörung auslösten. Dieser Befehlshaber, der den Spitznamen „Bloody Jake“ – „Blutiger Jakob“ – trug, hatte auf der zentralphilippinischen Insel Samar unter anderem den Tagesbefehl ausgegeben:

„Plündern, morden und niederbrennen sollt Ihr. Je mehr Ihr das tut, desto größer wird mein Wohlgefallen sein.“

Was den Industriellen Andrew Carnegie, wie Twain ein weiteres prominentes Mitglied der Antiimperialistischen Liga, sarkastisch an Präsident McKinleys Versprechen erinnern ließ, die Filipinos emporzuheben, zu zivilisieren und zu christianisieren:

„Über 8.000 von ihnen sind bereits vollständig zivilisiert und in den Himmel geschickt worden.“

In den USA selbst war diese Art der Außenpolitik heftig umstritten. Im Sommer 1899 veröffentlichte der Publizist George Ade in der Wochenzeitschrift Chicago Record seine Stories of Benevolent Assimilation. In diesen Geschichten persiflierte er seine sendungsbewussten und kriegsbegeisterten Landsleute. Er mokierte sich darüber, dass diese den Filipinos unbedingt mit Löffel und Gabel Essmanieren beibringen wollten, sie mit klobigen, lächerlich wirkenden Möbelstücken beglückten und sie die Absurdität lehrten, in der tropischen Hitze Korsetts zu tragen.

Scharfe politische Proteste gegen den Krieg in den Philippinen hagelte es auch seitens der Antiimperialistischen Liga. Ihr Vizepräsident Mark Twain begründete seine Kritik mit den Worten:

„Noch vor einem Jahr war ich kein Antiimperialist. Ich dachte, es sei eine großartige Sache, den Filipinos ein großes Stück an Freiheit zu geben. Heute allerdings glaube ich, es ist besser, dass die Filipinos sich selbst darum kümmern.“

Anfangs hatte Mark Twain den Amerikanisch-Spanischen Krieg begrüßt, versprach er sich doch von ihm Hilfe für die kubanischen Revolutionäre in ihrem Kampf gegen die verhassten Spanier. Später aber fand die amerikanische Kriegführung in den Philippinen in Twain einen unerbittlichen Gegner. Mit ätzender Kritik attackierte er diesen Waffengang, der außerhalb der USA die Werte zerstörte, die in den Staaten selbst als unantastbar und sakrosankt galten. Im New York Herald (Ausgabe vom 15. Oktober 1900) schrieb Mark Twain über den Friedensvertrag von Paris, durch dessen Kolonialschacher die Philippinen als ehemalige spanische Kolonie in amerikanisches „Eigentum“ übergegangen waren:

„Sehr sorgfältig habe ich den Vertrag von Paris gelesen und ich erkannte, dass wir keineswegs beabsichtigen, die Philippinen zu befreien, sondern deren Bevölkerung zu unterwerfen. Wir gingen dorthin, um zu erobern, nicht, um zu erlösen. Wie ich es sehe, sollte es unsere Freude und unsere Pflicht sein, die Bevölkerung zu befreien und sie ihre Probleme auf ihre eigene Art lösen zu lassen. Ich bin dagegen, dass der Adler seine Krallen auf ein anderes Land setzt.“

Es war das historische Verdienst der Antiimperialistischen Liga der Vereinigten Staaten von Amerika, die eigene Bevölkerung über die Geschehnisse in Amerikas junger Kolonie in Asien umfassend informiert zu haben. Vor allem der prominenteste Vertreter der Liga, Mark Twain, galt im letzten Jahrzehnt seines Lebens als einflussreichster Antiimperialist. Nicht nur in Zeitungsartikeln, auch in seiner Autobiographie ging der berühmte Schriftsteller hart mit den Imperialisten unter seinen Landsleuten ins Gericht.

„Der Wahlspruch unseres Landes ist, ‚In God we trust‘, und jedes Mal, wenn wir dieses schöne Wort auf einer Dollarmünze lesen, scheint es, als bebte und winselte es vor Rührung. Das ist unser öffentliches Motto. Unser privates ist offenbar: ‚Wenn der Angelsachse etwas haben will, nimmt er sich‘s einfach.‘“

Dass der Autor des „Huckleberry Finn“ so vehement gegen die politische Führung seines Landes opponierte, war seinen – letztlich mächtigeren – Gegnern ein Dorn im Auge. Diese setzten nach dem Tod des begnadeten Schriftstellers und glühenden Demokraten alles daran, die letzte Dekade seines Schaffens im kollektiven Gedächtnis seiner breiten Leserschaft und Bewunderer zu tilgen. Die meisten Biographien über Mark Twain klammern seine aktive Zeit in der Liga bis heute einfach aus. Weilte er noch heute unter uns, hätte er als selbsterklärter Antiimperialist verdammt schlechte Karten und könnte überaus froh sein, als Schriftsteller und streitbarer Publizist nicht öffentlich verschwiegen oder unzeremoniell mit dem Bannfluch geächtet und zensiert zu werden.

Erst im Sommer 1946 gewährten die USA den Philippinen die formale Unabhängigkeit, wenngleich sie gleichzeitig qua vertraglichem Regelwerk ihre Machtprärogativen wahrten. Auch fürderhin diente der Inselstaat aufgrund der dort größten außerhalb des nordamerikanischen Kontinents befindlichen US-Militärstützpunkte, Subic Naval Base und Clark Air Field, als operativer Dreh- und Angelpunkt der Aggressionskriege Washingtons gegen Vietnam, Laos und Kambodscha. Bis zum heutigen Tag genießen dort GIs im Rahmen des Erweiterten Verteidigungsabkommens (EDCA) zwischen Manila und Washington das Privileg, auf Rotationsbasis die Militäreinrichtungen der Armed Forces of the Philippines (AFP) zu nutzen, während knapp 28.500 Soldaten allein im benachbarten Klientelstaat Südkorea stationiert bleiben – von weiteren US-Truppenkontingenten auf Okinawa und in Japan ganz zu schweigen.

Übergang von der hemisphärischen Hegemonie zum globalen Imperium“

Dem Kulturwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Nordamerika, Michael Hochgeschwender, ist zuzustimmen, wenn er konstatiert:

„In der Zeit zwischen 1890 und 1920 (…) vollzog sich ein Übergang von der hemisphärischen Hegemonie zum globalen Imperium. Die sozioökonomischen und ideellen Elemente waren zu dieser Zeit schon festgefügt, die kulturellen Faktoren kamen allmählich hinzu und wurden im Laufe der folgenden Jahrzehnte noch ausgebaut. Auf der machtpolitischen Ebene wurde dieser Übergang an mehreren Beispielen sichtbar: dem amerikanisch-spanischen Krieg von 1898, der endgültig den Eintritt der USA in die Welt der imperialistischen Mächte markierte, dem großen Realignment mit Großbritannien um 1900, ihrer Rolle in der Chinapolitik um 1900 unter dem Stichwort open door sowie der Tatsache, dass die europäischen Mächte die USA auf der Konferenz von Algeciras 1906[6] als Schiedsrichter akzeptierten. Dieser Prozess vollzog sich allerdings nicht ohne Zwischenschritte. Waren die USA bereits um 1900 als regionales oder hemisphärisches Imperium und aktive Kolonialmacht vollständig in das System der europäischen Großmächte eingebettet, so folgte der Schritt zur globalen Großmacht im Kontext des Ersten Weltkrieges. Selbst die anschließende Phase des so genannten Isolationismus änderte an diesem Faktum wenig. (…) Sicher ist allerdings, dass die militärische Macht der USA, die in unseren Tagen den wohl imposantesten Bereich amerikanischer imperialer Politik ausmacht, erst mit dem Zweiten Weltkrieg und dem anschließenden Kalten Krieg zu einer Schlüsselkategorie des amerikanischen Herrschaftsanspruchs mutierte.“

Sachlich und ruhig verkündete US-Präsident Harry S. Truman am 6. August 1945 im Radio die Nachricht, die USA hätten soeben eine Atombombe auf die japanische Stadt Hiroshima abgeworfen. Nachdem Mitte Juli 1945 erstmals eine Atombombe im Südwesten der Vereinigten Staaten erfolgreich getestet worden war, hatte sich die US-Regierung für den Einsatz ebendieser Waffe entschieden. Sie wollte Japan nicht nur zur schnellen Kapitulation zwingen, sondern auch und gerade gegenüber ihrem ärgsten Rivalen, der Sowjetunion, Macht und technische Überlegenheit demonstrieren und Stalin vor eigenen weltpolitischen Machtansprüchen warnen. In einer Rede am 9. August 1945 sagte dann Präsident Truman, er danke Gott dafür, dass die USA im Besitz der Bombe seien und nicht andere Länder. Gleichzeitig betonte er, dass ein Land freier Bürger jeder Diktatur überlegen sei.

Nach nicht einmal zwei Jahren nach dem Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg hatte sich zwischen den Verbündeten von einst – den USA und der Sowjetunion – ein tiefer Graben aufgetan, der auf Dauer die kategorische Trennlinie zwischen der „freien Welt“ und dem Kommunismus sowie die Partitur des Kalten Krieges bilden sollte. Als die Sowjetunion im Jahre 1947 versuchte, ihren Einflussbereich in Südosteuropa und dem Nahen Osten – namentlich in Griechenland, in der Türkei sowie im Iran – zu erweitern, veranlasste das Washington, im Gegenzug seinen weltweiten Hegemonialanspruch doktrinär festzuschreiben.

„Die freien Völker der Welt rechnen auf unsere Unterstützung in ihrem Kampf um die Freiheit. Wenn wir in unserer Führungsrolle zaudern, gefährden wir den Frieden der Welt.“

So lautete denn auch einer der Kernsätze anlässlich einer Rede von Präsident Truman vor dem US-Kongress am 12. März 1947, mit der er die fortan nach ihm benannte Doktrin verkündete. Integrale Bestandteile dieser auf Führungsposition bedachten Außenpolitik waren das European Recovery Program, der sogenannte Marshallplan, mit dem 16 westeuropäische Staaten finanziell beim Wiederaufbau nach dem Krieg unterstützt wurden, sowie verstärkte Militäreinsätze und der Aufbau eines weltumspannenden Netzes von US-Militärbasen.

Ausgerechnet Korea – von 1910 bis 1945 japanische Kolonie – geriet aufgrund seiner exponierten geostrategischen Lage in Ostasien als erstes Land in den Strudel des beginnenden Kalten Krieges und der West-Ost-Blockkonfrontation. Bereits vor der Kapitulation Japans hatten sich die USA und die Sowjetunion darauf verständigt, Korea in zwei Besatzungszonen aufzuteilen und einstweilen treuhänderisch zu verwalten. Nördlich des 38. Breitengrads hatte die Rote Armee das Sagen und stützte durch ihre Präsenz die antijapanischen Partisanenverbände des späteren Präsidenten Kim Il-Sung. Im südlichen Teil landeten US-amerikanische Militärverbände an, die dem konservativen Politiker Rhee Syngman zur Macht verhalfen.

Im Nachbarland China zeichnete sich bereits ein Sieg der von Mao Tse-tung geführten Kommunistischen Partei ab. So wurde die koreanische Halbinsel zum konfliktträchtigsten Schauplatz der West-Ost-Konfrontation. Mitte August 1948 konstituierte sich im Süden der Halbinsel mit Washingtons Hilfe die Republik Korea. Drei Wochen später zog der Norden nach und rief – mit sowjetischer Unterstützung – die Demokratische Volksrepublik Korea aus. Damit war die Teilung des Landes besiegelt. Doch keine der beteiligten Parteien wollte dies als endgültig hinnehmen.

Es kam zum Krieg, der drei Jahre dauerte. Über eine Million Zivilisten im Norden und Süden wurden getötet. Laut Angaben der Vereinten Nationen kamen außerdem eine Million Soldaten aus Nordkorea und China sowie 250.000 aus Südkorea und knapp 55.000 US-amerikanische GIs ums Leben. Bis heute ist und bleibt Korea durch eine 240 Kilometer lange, sogenannte „entmilitarisierte Zone“ geteilt. Eine Verharmlosung ohnegleichen: Denn tatsächlich stehen sich dort eine Million Soldaten gegenüber, darunter im Süden ein Kontingent von reichlich 28.000 GIs. Und es ist im Rahmen des seit Ende der 1970er Jahre existierenden Combined Forces Command (CFC) der Befehlshaber der dort stationierten US-Soldaten (seit dem 2. Juli 2021 General Paul J. LaCamera), der im Kriegsfall ebenfalls das Oberkommando über die südkoreanischen Streitkräfte ausübte, eine Funktion, die am präzisesten als neuzeitliche Version eines Prokonsuls zu kennzeichnen wäre.

Antikommunismus als martialische Staatsdoktrin oder „Mit Blick auf Vietnam haben wir uns geirrt, schrecklich geirrt.“

Um angeblich eine Machtübernahme der Kommunisten in Südvietnam Mitte der 1960er Jahre zu verhindern, bombardierten US-Streitkräfte das bereits am 2. September 1945 unabhängig gewordene Nordvietnam und auch den Süden des Landes. Die Hintergründe dieses mörderischen Zerstörungswerks kamen 1971 ans Licht: in der Sonntagsausgabe der New York Times vom 13. Juni. In ihr erschien der erste Teil einer Serie über die sogenannten Pentagon-Papiere. Ihre Veröffentlichung erschütterte die Regierung des amtierenden US-Präsidenten Richard Nixon in ihren Grundfesten. Die Pentagon-Papiere waren von Nixons Verteidigungsminister Robert McNamara in Auftrag gegeben worden. Es handelte sich dabei um streng geheime Dokumente zur amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In ihnen kam eine Haltung zum Ausdruck, die der Politiker J. William Fulbright als Kreuzzugsdenken bezeichnete. In seinem 1966 erschienenem Buch „Die Arroganz der Macht“ schrieb Fulbright, damals Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses des US-Senats:

„Macht verwechselt sich mit Tugend und neigt auch dazu, sich für allmächtig zu halten. Erfüllt von ihrer Mission, glaubt eine große Nation leicht, sie habe nicht nur die Pflicht, sondern auch die Möglichkeiten, den Willen Gottes zu tun. Gott werde doch gewiss nicht seinem auserwählten Bevollmächtigten das Schwert verweigern.“

Mit Blick auf den Krieg in Vietnam und den mörderischen Kampf gegen die dort für Freiheit und Unabhängigkeit eintretende Vietminh schrieb Senator Fulbright:

„Wenn wir den Kommunismus als böse Philosophie sehen, so blicken wir durch ein verzerrendes Prisma, durch das wir eher Projektionen unserer eigenen Ansichten wahrnehmen, als das, was in Wirklichkeit da ist. Wenn wir durch dieses Prisma blicken, dann sehen wir die Vietcong, die Dorfältesten die Kehlen durchschneiden, als grausame Mörder; die amerikanischen Piloten aber, die Frauen und Kinder mit Napalm anzünden, sehen wir als tapfere Freiheitskämpfer (…)“

Die Pentagon-Papiere bewiesen, dass die USA den Krieg in Vietnam systematisch auf die neutralen Nachbarländer Laos und Kambodscha ausweiteten; die Regierung in Washington wollte den Nachschub für nordvietnamesische Truppen unterbinden und verhindern, dass auch diese Länder kommunistisch würden.

Eine ganze Region wurde jahrelang mit Krieg überzogen, einzig und allein, um die US-amerikanische – auch ökonomische – Vorherrschaft durchzusetzen. Während der ehemalige US-Verteidigungsminister Robert McNamara später wenigstens einsah, er habe sich in der Vietnam-Politik – so wörtlich – „geirrt, schrecklich geirrt“, betrieb der Außenminister Henry Alfred Kissinger auch nach der schmachvollen Niederlage der USA in Vietnam im Jahre 1975 unbekümmert eine Politik, die die International Herald Tribune als „Kissingerschen Realismus“ charakterisierte. Dazu gehörte auch, dass Washington in Lateinamerika US-freundlichen Diktatoren zur Macht verhalf und sie stützte, wie etwa Augusto Pinochet in Chile, Rafael Videla in Argentinien, Hugo Banzer in Bolivien. Die Vereinigten Staaten, die nach dem Ende der Hitler-Diktatur Westdeutschland dabei geholfen hatten, eine Demokratie aufzubauen, handelten hier knallhart gemäß der Devise: Lieber eine Militär-Diktatur als ein sozialistisches Regime.

Ähnlich wie in Lateinamerika verhielten sich die USA in Indonesien. Es ist eine enge Komplizenschaft zwischen dem indonesischen Diktator Suharto und Washington durch Dokumente belegt, die das National Security Archive der George Washington University veröffentlichte. Indonesiens starker Mann, Ex-General Suharto, putschte sich im Oktober 1965 an die Macht und errichtete ein militärisches Terrorregime. Sein Vorgänger, der charismatische Staatsgründer Ahmed Sukarno, war nicht nur ein vehementer Befürworter der sogenannten Bewegung der blockfreien Länder. Sukarno distanzierte sich auch schrittweise vom Westen und galt dort fortan als Sicherheitsrisiko.

Suhartos drakonischem Regime fiel bereits bis Ende 1966 mindestens eine halbe Million Menschen zum Opfer, andere Quellen sprechen von weit über eine Million Getöteter. Wie aus den Dokumenten hervorgeht, übermittelte der damalige US-Botschafter in Jakarta, Marshall Green, den indonesischen Sicherheitskräften Namenslisten von führenden Kadern der Kommunistischen Partei Indonesiens (PKI), die ermordet werden sollten. Über die Exekutionen wurde akribisch Buch geführt. Im Hintergrund dieser Amtshilfe aus Washington bei den Massakern in Indonesien 1965/66 standen handfeste Wirtschaftsinteressen der USA. Indonesien war schließlich das größte und bevölkerungsreichste Land Südostasiens. Es sollte unbedingt in den Einflussbereich des Westens gelangen, ohne dass man ein zweites Vietnam riskierte. Das erforderte die – notfalls auch physische – Liquidierung der PKI, die damals nach der Kommunistischen Partei Chinas und der KPdSU die weltweit drittgrößte kommunistische Partei war.

Heute ist die Region Südostasien aus der Sicht der US-amerikanischen Militärs und außenpolitischen Strategen eine „neue Zufluchtsstätte für Terroristen“. So wurden denn unmittelbar nach 9/11 die Philippinen offiziell als „zweite Front im Kampf gegen den internationalen Terrorismus“ deklariert – eine Steilvorlage für die jeweiligen Präsidenten des Landes, Opposition und Dissens als „terroristisch“ zu denunzieren und entsprechend harsch zu agieren. Erklärtes Ziel der Regierungen in Washington und Manila ist ferner die Zerstörung der durch Kidnapping und Lösegelderpressung medial bekannt gewordenen Gruppe der „Abu Sayyaf“ (Vater des Scharfrichters). Strategisch geht es um mehr: In der an Rohstoffen überaus reichen Region Südostasien, wo gleichzeitig der weltweit größte Teil der Muslime lebt (Indonesien, Malaysia, Brunei, Südthailand & Südphilippinen), sollen tatsächliche oder vermeintliche Ableger des Al-Qaida-Netzwerks zerstört werden. Gegenwärtig bildet die Region Indo-Pazifik überdies erklärtermaßen den Hauptfokus der US-amerikanischen und NATO-Militärstrategie.

Neue Weltordnung“ als Präludium des (endlosen) „Krieges gegen den Terror(ismus)“

„Aus diesen schwierigen Zeiten kann (…) eine neue Weltordnung hervorgehen: Eine neue Ära, freier von der Bedrohung durch Terror, stärker in der Durchsetzung von Gerechtigkeit und sicherer in der Suche nach Frieden. Eine Ära, in der die Nationen der Welt im Osten und Westen, Norden und Süden prosperieren und in Harmonie leben können. (…) Heute kämpft diese neue Welt, um geboren zu werden, eine Welt, die völlig verschieden ist von der, die wir kannten. Eine Welt, in der die Herrschaft des Gesetzes das Faustrecht ersetzt (…) eine Welt, in der der Starke die Rechte des Schwachen respektiert.“

Mit diesen Worten verkündete der frühere US-Präsident George Herbert Walker Bush am 11. September 1990 die sogenannte Neue Weltordnung – auf den Tag genau elf Jahre vor den Terroranschlägen gegen das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington. Kurz zuvor hatte ein anderer US-Amerikaner einen weitaus weniger publicityträchtigen Auftritt. Am 30. August 1990 wagte es der damals 22-jährige Marinekorporal Jeff Paterson, seinem obersten Landesvater und Kriegsherrn öffentlich den Gehorsam aufzukündigen. Paterson weigerte sich, in ein Flugzeug mit dem Ziel Saudi-Arabien einzusteigen. Er war der erste Soldat, der während des Aufmarsches von US-Truppen am Golf den Kriegsdienst verweigerte, also noch zu einer Zeit, bevor die USA im Januar 1991 den Bombenkrieg gegen Irak begannen. Paterson begründete seinen mutigen Schritt mit den Worten:

„Als Dienst habender Korporal der US-Marine wurde ich im August 1990 in den Nahen Osten beordert – der Golfkrieg stand unmittelbar bevor. Vier Jahre zuvor – ich dachte, ich wüsste mit meinem Leben nichts Besseres anzufangen – hatte ich mich in der Rekrutierungsstelle von Salinas in Kalifornien gemeldet und den Militärbeamten gesagt, sie sollten mich dorthin schicken, wo ich am meisten gebraucht werde. (…) Vielleicht würde ich noch heute so wie die jungen Menschen denken, die sich gegenwärtig von der Armee anheuern lassen, wenn ich nicht vier Jahre im Marine-Infanteriekorps zugebracht hätte. Die meiste Zeit übte meine Einheit den Kampf gegen Bauern, die es wagten, ‚amerikanischen Interessen’ in ihrer Heimat entgegenzutreten – speziell in Nicaragua, El Salvador, Guatemala. Ich habe schreckliche Armut in den Philippinen gesehen, von der US-Regierung subventionierte Prostituiertenringe für die Truppen in Südkorea und ungehemmten Rassismus gegenüber der Bevölkerung auf Okinawa und in Japan. Mit dieser Wirklichkeit konfrontiert, habe ich den Prozess meiner persönlichen Ent-Amerikanisierung begonnen.“

Die Neue Weltordnung, die Präsident Bush Senior ausmalte, sollte die Schwachen schützen und das „Gleichgewicht des Schreckens“ beenden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren viereinhalb Jahrzehnte vom Kalten Krieg und der Konfrontation zwischen West und Ost geprägt. Beide Supermächte, die USA und die Sowjetunion, drückten ihren jeweiligen Einflusssphären den Stempel auf und ließen – wie in Mosambik, Angola oder Afghanistan – notfalls blutige Stellvertreterkriege führen. Die Machtbalance funktionierte, solange beide Seiten stillschweigend die Regel befolgten, nicht im Revier des Anderen zu wildern. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der realsozialistischen Regime änderte die Situation. Die USA wähnten sich nunmehr als unanfechtbare Weltmacht Nummer Eins. Für zahlreiche Politiker, Publizisten und Akademiker im Westen ein Grund zum Jubeln. Stellvertretend für diese triumphalistische Grundhaltung frohlockte beispielsweise John Lewis Gaddis, Geschichtsprofessor an der Yale University und Autor zahlreicher Publikationen über die Ära des Kalten Krieges:

„Zum ersten Mal seit über fünfzig Jahren stellt keine Großmacht oder Machtgruppe mehr eine eindeutige Gefahr dar für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten.“

Um diesen Sieg dauerhaft auskosten zu können, arbeiteten Militärstrategen und Politiker in Washington umgehend Pläne aus, wie dieser Erfolg zu sichern sei. Schon 1991 veröffentlichte die Regierung von Bush Senior ihren „Base Force Review“. Im Kern beinhaltete dieses Strategiepapier Folgendes: Galt bis dahin das „Anderthalb- Kriege-Konzept“, das neben einem größeren Konflikt mit der Sowjetunion oder der Volksrepublik China eine begrenzte Militäroperation als machbar ihn Betracht zog, sollten fortan zwei größere regionale Konflikte – notfalls gleichzeitig – führbar sein. Bis zum Ende von Präsident Bill Clintons Amtszeit Anfang 2001 blieb diese Strategie gültig. Das änderte sich unter seinem Nachfolger. Den Gegnern der Vereinigten Staaten schrieb US-Präsident George W. Bush, der Sohn des Architekten der Neuen Weltordnung, in seiner Antrittsrede am 20. Januar 2001 ins Stammbuch:

„Die Feinde unserer Freiheit und unseres Landes sollten sich nicht täuschen. Amerika wird sich weiter in der Welt engagieren, freiwillig und aus historischen Gründen (…) Ohne Arroganz werden wir uns entschlossen zeigen. Wir werden Aggression und bösen Absichten mit Entschiedenheit und Stärke begegnen. Allen Nationen gegenüber werden wir für die Werte eintreten, die unsere Nation geschaffen hat. Während des vergangenen Jahrhunderts war Amerikas Glaube an Freiheit und Demokratie ein Fels in der Brandung. Nun ist er ein Samenkorn im Wind, das in vielen Nationen Wurzeln fasst.“

Dann fanden ausgerechnet in „Gottes eigenem Land“, als das sich die USA gern bezeichnen, die Anschläge vom 11. September 2001 statt. In das Entsetzen über diese Terrorakte mischten sich tiefe Trauer, Rache- und Vergeltungsgelüste sowie nachdenkliche Stimmen. In einem Kommentar, der auch in mehreren westeuropäischen Zeitungen erschien, meldete sich unter anderem der bekannte uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano zu Wort:

„Die Geißel der Welt nennt sich nun Usama bin Laden. Die CIA hatte ihm alles beigebracht, was er in Sachen Terrorismus wissen musste: Bin Laden, geliebt und bewaffnet von der Regierung der USA, war früher einer der wichtigsten ‚Freiheitskämpfer’ gegen den Kommunismus in Afghanistan. Bush Vater war Vizepräsident, als Präsident Ronald Reagan sagte, diese Helden seien ‚das moralische Äquivalent der Gründerväter Amerikas’. Hollywood stimmte mit dem Weißen Haus überein. Damals wurde Rambo 3 gedreht – die afghanischen Muslime waren die Guten. Jetzt, dreizehn Jahre später, in Zeiten von Bush Sohn, sind sie die bösesten Bösen.“

Als eine der vehementesten Kritikerinnen gegen Bushs Kriegskurs erwies sich Cynthia McKinney. Die demokratische Abgeordnete aus Georgia forderte im Kongress, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Dieser solle klären, inwieweit Vater und Sohn Bush von der Katastrophe am 11. September profitiert hätten. George Bush Senior habe nämlich, so McKinney, für Public-Relations-Auftritte für den weltweit größten Vermögensverwalter Carlyle fürstliche Honorare eingestrichen. Und mit Carlyle habe es eine besondere Bewandtnis. Die streitbare Cynthia McKinney begründete ihre Anfrage mit dem Hinweis auf Bushs weit verzweigte Geschäftsverbindungen, die bis nach Saudi-Arabien reichten:

„Es ist doch bekannt, dass der Vater des Präsidenten durch seine Beteiligung am Carlyle-Konzern Geschäftsinteressen mit der Baufirma der Familie Usama bin Laden teilte und bei Rüstungsfirmen engagiert ist, deren Aktienkurse seit dem 11. September dramatisch gestiegen sind.“

Dieser Vorwurf brachte den konservativ-republikanischen Journalisten Jonah Goldberg zur Weißglut. In einer Talkshow beschimpfte er Frau McKinney:

„Sie sind so dumm wie Kristallsalz und so ekelerregend wie Arafats seit drei Wochen nicht gewechselte Unterhosen.“

Ähnlichen Angriffen, sogar handfesten Attacken sah sich auch die US-Kongressabgeordnete Barbara Lee ausgesetzt. 1999 votierte sie gegen den NATO-Krieg in Jugoslawien und stimmte als Einzige im Kongress gegen Präsident Bush, als dieser dann später gegen Afghanistan losschlug. Im Land „der Freiheit und Demokratie“ stand Frau Lee nach Morddrohungen unter Polizeischutz. In Europa ehrte der „Verein Aachener Bürgerpreis“ die beherzte Bürgerrechtlerin Anfang September 2002 mit dem Aachener Friedenspreis. McKinney und Lee zählten zu einer Minderheit, die im politischen Washington den Hasstiraden erzürnter Medienleute und evangelikaler Prediger überlassen wurden und ausgesetzt waren, denen es oblag, sie schließlich matt zu setzen.

„ … ohne Scham die Regeln der Weltordnung festlegen und durchsetzen.“

Im Frühjahr 1991 publizierte der einflussreiche US-amerikanische Politikberater Charles Krauthammer in der vom Council on Foreign Relations (CFR) herausgegebenen Zeitschrift Foreign Affairs einen Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel „Das unipolare Moment“. Darin hieß es:

„Unsere beste Hoffnung auf Sicherheit (…) ist Amerikas Stärke und die Willenskraft, eine unipolare Welt zu führen und ohne Scham die Regeln der Weltordnung festzulegen und sie auch durchzusetzen.“

Diese Regeln schrieb elf Jahre später nach den Anschlägen vom 11. September 2001 der neue Verteidigungsminister Donald Rumsfeld fest. Vor Offizieren an der National Defense University in Washington verknüpfte Rumsfeld am 31. Januar 2002 die Neue Weltordnung mit der neuen Militärdoktrin seines Landes. Bei ihm war jetzt nicht mehr wie zehn Jahre zuvor von zwei „Konflikten“ oder Kriegen die Rede, sondern von vier:

„Wir müssen jetzt handeln, um auf vier größeren Kriegsschauplätzen die Fähigkeit zur Abschreckung zu erreichen. Wir müssen in der Lage sein, zwei Aggressoren gleichzeitig zu besiegen, und dabei die Möglichkeit haben, eine groß angelegte Gegenoffensive zu starten und die Hauptstadt eines Feindes zu besetzen, um dort ein neues Regime zu installieren.“

Wenig später, im Februar 2002, unterrichtete Rumsfeld den Kongress, seine Regierung werde den Feldzug zur Terrorismusbekämpfung allein in Afghanistan bis mindestens Oktober 2003 weiterführen. Zugleich lehnte Rumsfeld jedoch die Unterstützung der USA für eine erweiterte UN-Friedenstruppe ab, weil – so der Verteidigungsminister wörtlich: „eine US-Beteiligung finanziell wie personell auf Kosten der amerikanischen Kriegsanstrengungen gehen (würde).“

Mit Beginn des Afghanistan-Krieges werteten der Wirtschaftswissenschaftler Marc W. Herold von der University of New Hampshire und sein Team akribisch sämtliche Berichte von Hilfsorganisationen und Journalisten in Afghanistan aus. Das Ergebnis war niederschmetternd – bereits bis Ende Juni 2002 waren etwa 3.500 zivile Kriegsopfer zu beklagen. Geradezu perfide sei es gewesen, während der ersten Welle von Luftangriffen gegen Afghanistan schwere Bomben abgeworfen zu haben und sodann gelben Minen gelbe Nahrungsmittelpakete folgen zu lassen. Selig S. Harrison, Direktor des Nationalen Sicherheitsprogramms am regierungsunabhängigen Center for International Policy in Washington, beschrieb die Wirkung dieser abgeworfenen CBU-87-Clusterbomben so:

„Die CBU-87 ist eine (…) ‚Mutterbombe’, die 202 Minibomben freisetzt, von denen jede an einem kleinen Fallschirm hängt. Diese kleinen Bomben verteilen sich über eine Fläche, die zwei bis drei Fußballfeldern entspricht. Jeder B-1-Bomber kann dreißig solcher CBU-87-Clusterbomben tragen. Bis Ende Januar 2002 hatte die US-Luftwaffe etwa 600 von ihnen über Afghanistan abgeworfen. Obwohl die Minibomben eigentlich bei der Landung explodieren sollen, kommt es in mindestens fünf Prozent der Fälle nicht dazu. Das bedeutet nach Einschätzung von Experten, dass noch etwa 6.000 nicht explodierte Bomben in der Gegend herumliegen könnten, wo sie genauso gefährlich sind wie Landminen.“

Wertlose Opfer“ & „ultra-wertvolle Opfer“

Es waren tickende Zeitbomben, die auch nach den Bombenstopps ein normales Leben der afghanischen Zivilbevölkerung zunichtemachten. Aus Furcht vor Explosionen mussten Felder brach liegen, Ernten blieben aus. Schlimmer noch: Täglich wurden wahllos Menschen getötet und verstümmelt. Vor allem Kinder und Jugendliche, die unbedacht mit diesen teuflischen Minibomben in Berührung kamen. Waren den USA diese Opfer gleichgültig? Offensichtlich ja; in einer vergleichbaren Situation – bei den Auswirkungen des Irak-Embargos nämlich – äußerte sich mit Madeleine Albright eine hochrangige Regierungsvertreterin zum Thema. Am 12. Mai 1996 fragte Moderatorin Lesley Stahl in der Fernsehshow ‚60 Minutes’ Frau Albright:

„Wir haben gehört, dass eine halbe Million Kinder wegen der Sanktionen gegen den Irak gestorben sind. Ich meine, das sind mehr Kinder, als in Hiroshima umkamen. Und – sagen Sie; ist es den Preis wert?“

Darauf erklärte die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen und spätere Außenministerin:

„Ich glaube, das ist eine sehr schwierige Entscheidung, aber der Preis? – Wir glauben, es ist den Preis wert.“

Dieser ungeheuerliche Satz wurde in den führenden Medien der Vereinigten Staaten kaum zitiert. Es gab keinen Aufschrei, nicht einmal einen Einwand. Meinungsäußerungen wie die des emeritierten Wirtschaftswissenschaftlers Edward S. Herman waren eher selten:

„Das zeigt die Arbeit eines souveränen Propaganda-Systems. Die US-Regierung findet, dass der Massentod von irakischen Kindern ‚es wert’ ist. Die Medien lassen das Schicksal dieser ‚wertlosen Opfer’ im schwarzen Loch verschwinden und erlauben dadurch die unbehinderte Fortführung dieser Politik. Sind die Vereinigten Staaten selbst das Opfer des Terrorismus, tritt der umgekehrte Prozess in Kraft: Bei diesen ‚ultra-wertvollen’ Opfern inszenieren die Medien deren Leiden und Tod ausführlich und interessieren sich nicht für die tieferen Gründe, sondern nur dafür, ‚wer’ es getan hat.“

Herman fügte hinzu:

„Unermüdlich rühren die Medienkonzerne die Kriegstrommel (…). Und sie werden Zeitungen verkaufen, ihre Quoten erhöhen, das ‚nationale Interesse’ unterstützen, und den Rechten beweisen, dass sie echte Amerikaner sind.“

Dazu einige Kostproben aus den Medien wenige Tage nach dem 11. September. Im Wall Street Journal vom 9. Oktober 2001 schrieb der Wirtschaftshistoriker Paul Johnson in einem Leitartikel: „Die Antwort auf Terrorismus? Kolonialismus!“. Martin Wolf von der Financial Times forderte einen Tag später: „Es braucht einen neuen Imperialismus“. In der Washington Post hieß es am 29. Oktober 2001:

„Wenn wir Afghanistan stabilisieren wollen, müssen wir unsere postkolonialen Institutionen – die UNO, die Weltbank, Hilfsagenturen wie das Rote Kreuz – mit neuer imperialer Energie aufladen.“

Der damalige stellvertretende US-Verteidigungsminister Paul D. Wolfowitz empfahl am 14. September 2001 in der Washington Post gar, „ganze Staaten, die den Terrorismus fördern, auszulöschen!“.

US-Präsident George W. Bush, laut Verfassung gleichzeitig auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte seines Landes, bezog nun auch den „first strike“, den „Erstschlag“, in die nach ihm benannte Doktrin ein. Offiziell verkündete er sie am 2. Juni 2002 in der renommierten US-Militärakademie West Point. Vor etwa eintausend West-Point-Absolventen erklärte der Präsident in überzeugtem Brustton:

„Der Krieg gegen den Terror wird nicht in der Defensive gewonnen. Wir müssen die Schlacht auf dem Boden der Feinde führen, ihre Pläne vereiteln und den schlimmsten Bedrohungen begegnen, bevor sie auftauchen. (…) Wir Amerikaner sind bereit, wo immer nötig, mit Präventivschlägen unsere Freiheit und unser Leben zu verteidigen.“

In West Point sprach Präsident Bush auch von der Bereitschaft seines Landes, den „Krieg gegen den Terror“ in bis zu 60 Ländern zu führen. Davon müssten sich einige, so Bush, auf „Nachhilfeunterricht“ aus den USA einstellen:

„Einige Länder bedürfen besonderer militärischer Ausbildung, um den Terrorismus zu bekämpfen, und wir werden diese anbieten. Andere Staaten widersetzen sich dem Terror, aber sie tolerieren den Hass, der zu Terror führt, und das muss sich ändern.“

Anmerkungen

Dieser Essay ist drei langjährigen Freunden und warmherzigen Genossen gewidmet, die – leider zu früh verstorben – als Soziologen und Ethnologen u.a. zu den profundesten Kennern Afghanistans und Zentralasiens im deutschsprachigen Raum gehörten: Prof. Dr. Christian Sigrist, Dr. Bernt Glatzer und Dr. Hermann-Josef Wald. Zeit ihres Lebens wandten sie sich gegen eine gewaltsame Intervention in Afghanistan und setzten sich aufgrund ihrer umfangreichen Feldforschungen vor Ort strikt für Zivilität und ein vertieftes solidarisches deutsch-afghanisches Verständnis ein.

Eine umfangreiche Liste mit wichtigen Quellen, Literaturhinweisen und weiterführender Lektüre finden Sie in diesem PDF-Dokument.

Titelbild: Lukas Gojda/shutterstock.com

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