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Wir sind die Niedersachsen – seekrank und planlos

Published On: 6. Dezember 2021 11:23

Obwohl Niedersachsen so gut wie kaum ein anderes Bundesland durch die Pandemie gekommen ist, prescht die Landesregierung in Hannover derzeit mit einer chaotischen Corona-Regelung nach der anderen vor. Der neueste Geniestreich: Im Land mit den bundesweit niedrigsten Inzidenzen gilt seit letzter Woche flächendeckend 2G-Plus für „Ungeboosterte“. Wer doppelt geimpft ist, darf nur dann ein Restaurant, einen Friseursalon oder eine Kultureinrichtung betreten, wenn er sich gegen das Virus testen lässt – ein Prozedere, das in den meisten Fällen ohne immense Warteschlangen und kilometerweite Umwege gar nicht möglich ist. Somit gibt es in Niedersachen faktisch einen Lockdown auch für Geimpfte. Die Anreize, die mit dieser Regelung gesetzt werden, sind fatal und in jeglicher Sichtweise kontraproduktiv. Von Jens Berger.



Mein Landkreis meldet zur Zeit eine Inzidenz von 147 und zählt damit zu den zwanzig bundesweit am wenigsten von Covid 19 betroffenen Kreisen. In den Krankenhäusern liegen gerade mal zwei testpositive Intensivpatienten. Dennoch ist es seit letzter Woche auch Geimpften de facto nicht mehr erlaubt, ins Restaurant zu gehen. 2G-Plus heißt die Parole, die von der Landesregierung ausgeben wurde. Das heißt, Ungeimpfte haben generell keinen Zutritt zu Cafés, Kneipen, Restaurants, Hotels, Sportstätten, Theatern, Kinos, Fitnessstudios, Friseursalons oder Kosmetikstudios und selbst für die kommenden privaten Silvesterfeiern müssen Umgeimpfte zu Hause bleiben.

Für Geimpfte und Genesene sieht die Lage aber nur auf dem Papier besser aus. Denn 2G-Plus heißt, dass Geimpfte nur dann Zutritt zu den genannten Angeboten haben, wenn sie einen tagesaktuellen negativen Test vorweisen können. Und selbst wer mit Freunden Silvester feiern will und geimpft ist, muss laut Landesverordnung einen aktuellen Test vorlegen und mit FFP2-Maske feiern. Selbst wenn man diese Schikane mitmacht, sind diese Test sind aber gar nicht so einfach zu bekommen. Die vorhandenen Testkapazitäten sind nämlich bereits durch die 3G-Regelung am Arbeitsplatz mehr als ausgelastet. Nun kommen also zu den Ungeimpften, die den Testbescheid zwingend brauchen, um ihren Broterwerb nachzugehen, noch die Geimpften, die einfach nur ein Schnitzel essen, ein Bier trinken, sich die Haare schneiden lassen oder Sport treiben wollen.

Das Chaos war vorprogrammiert. Vor den wenigen Testzentren in den Städten gibt es lange Schlangen und auf dem Land muss man oft erst einmal viele Kilometer fahren, um überhaupt die Gelegenheit zu bekommen, stundenlang vor einem Testzentrum anzustehen. Termine in den Zentren und in den Apotheken sind teils bereits über Wochen ausgebucht und nun vermeldet der Corona-Krisenstab des Landes auch noch, dass es bei den Testkits zu „Lieferschwierigkeiten“ komme und es „noch einige Wochen dauern wird, bis das wieder reibungslos laufe“. De facto ist dies also ein Lockdown. Wer den irrsinnigen Mehraufwand nicht eingehen will, verzichtet auf den Restaurant- oder Kneipenbesuch und schaut lieber Netflix anstatt ins Kino zu gehen. So wie im letzten Jahr, als der Lockdown noch Lockdown hieß. Impf Dich frei? Aber nicht doch. Weil zwei bedauernswerte Patienten auf der Intensivstation liegen, sind wir einmal mehr im Ausnahmezustand. Ein Ausnahmezustand, den wohl als neue Normalität bezeichnen muss.

Wirklich erstaunlich ist dieses Chaos nicht. Schließlich wurde die Testkomponente für Ungeimpfte beim älteren 3G-Modell ja nicht etwa aus epidemiologischen Gründen konzipiert, sondern war (und ist) einzig und allein als Schikane und Druckmittel gegen Ungeimpfte gedacht. Ihnen soll das Leben so schwer wie möglich gemacht werden, um die Spritze als vielleicht doch lohnenden Ausweg zu präsentieren. Mit der Forcierung von 3G auf 2G-Plus geht nun die Schikane auf Geimpfte und Genesene über. Das ist in gewisser Weise paradox, denn zu was will man Geimpfte und Genesene nötigen?

Diese Frage hat sich wohl auch die niedersächsische Landesregierung gestellt und darauf eine Antwort gefunden, die zeigt, wohin es führen kann, wenn man sich in den eigenen falschen Narrativen verheddert. Seit letzten Samstag gilt das „Plus“ bei 2G-Plus nämlich nur noch für alle Genesenen und alle Geimpften, die nicht geboostert sind. Wer seine dritte Spritze bekommen hat, muss sich der Test-Schikane nicht mehr unterwerfen und darf auch ungetestet sein Schnitzel essen und sein Bier trinken.

Aber wo ist da die Logik? Rein epidemiologisch wirkt die Boosterung ohnehin nur bei den Risikogruppen und hier senkt sie zwar die Wahrscheinlichkeit eines schweren Krankheitsverlaufs, doch selbst dieses gesenkte Risiko ist immer noch höher als das von doppelt Geimpften mittleren Alters oder Ungeimpften jüngeren Alters. Pi mal Daumen entspricht das Risiko eines geboosterten 80-Jährigen dem eines doppelt geimpften 60-Jährigen oder aber eines ungeimpften 40-Jährigen. Der ungeimpfte 20-Jährige, der in Niedersachsen überhaupt keine Kneipe betreten darf, hat wohlgemerkt ein deutlich geringeres individuelles Risiko auf einen schweren oder gar tödlichen Krankheitsverlauf ein geboosterter 80-Jähriger. Epidemiologisch ist diese Regelung also nicht sinnvoll zu erklären.

Bliebe die Lenkungswirkung. 3G hat zum Ziel, Ungeimpfte zur Spritze zu nötigen. Man kann (und sollte) diese Nötigung kritisieren. Aber zumindest das Ziel der Nötigung ist verständlich. Aber was soll das Ziel der Nötigung der Sonderregelung für Geboosterte bei 2G-Plus sein? Doppelt Geimpfte zum Boostern zu nötigen? Das ist für sämtliche Menschen unter 60 Jahren epidemiologisch sinnlos, da es bei ihnen schlicht keinen messbaren Nutzen gibt. Der Nutzen kann sogar negativ sein, wenn der genötigte doppelt geimpfte Unter-60-Jährige sich nun seine Booster-Impfung holt und der Omi, die auf ihre Boosterung wartet, ihren Termin wegnimmt.

Lesen Sie dazu bitte: Deutschland im Booster-Wahn.

Hinzu kommt, dass selbst wenn sich nun viele Geimpfte erfolgreich nötigen lassen, es ohnehin keine freien Termine und Kapazitäten für zusätzliche Boosterungen gibt. Gleiches gilt übrigens auch für Erstimpfungen, deren Steigerung ja wochenlang so hoch gehangen wurde, dass man mit kaum noch zu fassender Boshaftigkeit die Ungeimpften als eine Art moderner „Volksschädlinge“ verunglimpft hat und dies teilweise immer noch tut.

Und wie sieht es mit den Genesenen aus? Mit welcher Begründung werden Gebossterte gegenüber den Genesenen bessergestellt? Der Gruppe also, die ganz ohne Impfung den wohl besten Immunschutz gegen das Virus hat?

Last but not least darf man nicht vergessen, dass für Millionen Menschen, die keiner priorisierten Gruppe angehören, eine Boosterung – zumindest unter Einhaltung der medizinischen Empfehlungen – gar nicht möglich ist. Ich habe mich beispielsweise nicht vorgedrängelt, mich regulär über die zentrale Planung des Landes für die Impfung angemeldet und wurde dementsprechend im September das zweite Mal geimpft. Selbst wenn ich mich – was für meine Altersgruppe jedoch nicht nötig ist – boostern lassen wollte, so wäre dies nach den Empfehlungen von STIKO und Co. erst sechs Monate nach der zweiten Impfung, also im kommenden März, möglich. Diese Empfehlung wird jedoch nicht nur von den verängstigten und genötigten Menschen, sondern auch von Ärzten und Impfzentren komplett ignoriert. Ich werde also zu einer Boosterung genötigt, die nicht nur ohnehin sinnlos ist, sondern auch aufgrund des viel zu geringen zeitlichen Abstands zur Zweitimpfung nach allen bekannten wissenschaftlichen Erkenntnissen gar nichts bringen kann. Nur wer, wie beispielsweise unser neuer Gesundheitsminister Karl Lauterbach, die Erkenntnisse und Empfehlungen aller maßgeblichen Behörden komplett ignoriert, kann auf die Idee kommen, Menschen zu einer nicht nebenwirkungsfreien medizinischen Behandlung zu nötigen, die von vorne bis hinten sinnlos ist.

Aber wahrscheinlich bringt es ohnehin nichts, sich diesen Fragen mit Hilfe der Logik zu näheren. Es wird wohl eher so sein, dass die niedersächsische Landesregierung schlicht vom puren Chaos übermannt wurde, als sie die 2G-Plus-Regelung verabschiedet hat. Nach dem ersten heftigen Widerstand insbesondere der Gastronomie-Verbände kam ausgerechnet der CDU-Politiker und niedersächsische Wirtschaftsminister Bernd Althusmann auf die „glorreiche“ Idee, Geboosterte von der Testpflicht auszunehmen. Geboosterte sind in der Regel über 70 Jahre und gehören damit zur einzig noch intakten Stammwählerschaft der CDU. Und auch wenn die Regel nach wie vor sinnlos und kontraproduktiv ist, so stellt sie doch immerhin eine Bevorzugung dieser CDU-Wähler da. Dass der planlos agierende SPD-Ministerpräsident Stephan Weil über dieses Stöckchen gesprungen ist, zeigt einmal mehr, in welch umnachteten Zustand sich sowohl die SPD als auch das Land Niedersachsen in Sachen Corona befinden. Sagte man den Niedersachsen früher einmal nach, sie seien „sturmfest und erdverwachsen“, so gilt das heute sicher nicht mehr. Die Landesregierung erweckt eher den Eindruck, als sei sie „seekrank und planlos“.

Titelbild: Velimir Zeland/shutterstock.com

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