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Die Bundesregierung windet sich bei Fragen zur Polizeigewalt bei Corona-Demos

Published On: 7. Januar 2022 9:47

Der UN-Sonderberichterstatter über Folter befragte die Bundesregierung zu Polizeigewalt bei Corona-Demonstrationen. In ihrer Antwort brüstet sich die Exekutive mit vorbildlichen Leitlinien. Geforderte Informationen gibt sie kaum preis. Einzig die Verfahrensstatistiken erlauben eine Ahnung vom Ausmaß mutmaßlicher Polizeigewalt.

Die Vereinten Nationen haben unter Konservativen keinen guten Ruf. Die Verantwortung dafür trägt die UN selbst. Korruptionsaffären, Anti-Israel-Resolutionen, zweifelhafte Besetzungen und Zahnlosigkeit in politischen Krisen stellen die Weltorganisation infrage. Einzig der moralische Zeigefinger linksideologischer Prägung steht einwandfrei. Kritiker sehen in dem einstigen Wunschprojekt der freien Völker, das den Krieg nach 1945 ächten sollte, nur noch ein interessengeleitetes Milliardengrab.

Doch es gibt sie noch, die Stellen, an denen die UN funktioniert. Nils Melzer zählt darunter. Das soll keine Laudatio für den Schweizer Rechtswissenschaftler sein. Aber als Sachverständiger der UN hat er bereits im Fall Julian Assange gezeigt, dass er es sich nicht einfach macht. Er könnte es dabei belassen, die üblichen Verdächtigen anzuprangern; an machtlosen Drittweltländern mit Folter und Diktatur mangelt es nicht.

Polizeigewalt bei Corona-Demos wird kaum wahrgenommen

Proteste in den Niederlanden

Stattdessen bringt der UN-Sonderberichterstatter seit 2019 den Fall Assange vor, spricht von „psychischer Folter“ und fordert dessen sofortige Freilassung. Freunde hat er sich damit keine gemacht. Das betrifft nicht nur Washington und London, sondern auch Berlin – wo man ihn beschied, dass man sich für die Angelegenheit nicht interessiere. Den UN-Sonderberichterstatter für Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe – so der volle Titel – verbindet also eine gewisse Vorgeschichte mit Deutschland.

Der 51-jährige Melzer geriet erst kürzlich in die Nachrichten wegen der Vorgänge in Amsterdam. Vielsagend: nicht etwa seine Kritik an staatlichen Übergriffen und die Polizeigewalt schaffte es in den Massenstrom – das war Angelegenheit alternativer Medien – sondern der Umstand, dass er ein falsches Video in einen Tweet eingebettet hatte. Kritisiert ein UN-Vertreter den Staat, dann schlafen die linksliberalen Bluthunde; findet sich Material, Kritiker zu delegitimieren, so nehmen sie die Fährte auf.

Dabei ging diese Woche ein anderes Anliegen Melzers im Amsterdamer Chaos unter. Denn Melzer hatte am 26. August eine Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Thema: Polizeigewalt bei Corona-Demonstrationen. TE hat dazu berichtet. Seit dem 14. Dezember liegt eine Antwort vor, die Melzer auf Twitter am 2. Januar öffentlich gemacht hat. Zitat: „Ich werde nun die Antwort analysieren und überlegen, welche weiteren Maßnahmen erforderlich sind.“

Vorab gesagt: die neueren Entwicklungen bildet das Regierungspapier nicht ab. Die Eskalation der letzten Wochen war damals noch ein undenkbares Szenario. „Spaziergänge“ waren noch Spaziergänge, die Demonstrationen prägten die „Querdenker“. In München und Stuttgart gab es kein Versammlungsverbot, in Reutlingen keine Reiterstaffeln. Und dennoch lassen einige Details aufhorchen, weil die steigende Nervosität manches Polizeibeamten nicht vom Himmel gefallen ist.

Melzer macht nur seinen Job

Nach Corona-Maßnahmen-Demo

Damit es nicht zu Missverständnissen kommt: Melzer ist kein Teil exekutiver Gewalt. Er ist Sachverständiger, damit Berichterstatter im Wortsinn: er erstattet der UN gegenüber Bericht, fasst zusammen, was in der Welt geschieht, wo es Übertritte gibt und auf welche Vergehen es einzugehen gilt. Er hat de jure Zugang zu den Haftanstalten aller Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, aber er kann ihnen nichts vorschreiben. Seine Position ist die eines Wissenschaftlers, auf dessen Arbeit spätere Entscheidungen fußen.

Melzer macht also im wahrsten Sinne „seinen Job“, wenn er in Amsterdam und Berlin nachfragt. Weiter gehen seine Befugnisse nicht. Im Zusammenhang mit Corona-Demos nennt der Sonderberichterstatter 7 Fälle, in denen er einen übermäßigen Gebrauch von Polizeigewalt vermutet. Davon ereignet sich einer bei einer Demonstration am 19. April 2021 in Dresden, die restlichen am 1. August 2021 in Berlin. So nennt Melzer das Beispiel einer Frau, die ohne ersichtlichen Grund von der Polizei zu Boden geworfen wird und verlinkt nachfolgendes Video:

Neben einer genaueren Stellungnahme zu den 7 Fällen erinnerte Melzer daran, dass ein polizeiliches Vorgehen von gesetzlichem Zweck, Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit und Vorsicht abgesichert sein müsse. In den genannten Fällen könnte der Sonderberichterstatter aber nichts davon entdecken. Zudem ruft Melzer in Erinnerung:

„Ich möchte die Regierung Ihrer Exzellenz weiter darauf aufmerksam machen, dass auch in Fällen, in denen eine Versammlung nicht mehr rechtmäßig oder friedlich ist, die Teilnehmer ihre Menschenrechte behalten, wie sie durch diese und andere anwendbare Instrumente geschützt sind. Also kann keine Versammlung jemals als außerhalb des Schutzes des Gesetzes liegend angesehen werden.“

Bundesregierung ignoriert 60-Tage-Frist des UN-Sachverständigen

Melzers Brief endet mit sechs konkreten Fragen. Die Bundesregierung soll erstens zusätzliche Informationen zu den Umständen und zweitens zu Ermittlungen in den genannten Fällen abliefern; drittens die Schritte erklären, die gegen die mutmaßlichen Täter unternommen wurden; viertens zusätzlich erklären, welche Mechanismen wirken, damit Opfer von Polizeigewalt sicher darüber berichten können; fünftens die Zahl der Beamten übermitteln, die seit Januar 2020 auf Demonstrationen auffällig geworden sind und gegen die ein Disziplinarverfahren angestrengt wurde; und sechstens kommentieren, was für Schritte die Regierung unternommen hat, um die Situation zu verbessern.

Abschließend wünscht Melzer eine Beantwortung seiner Fragen innerhalb der nächsten 60 Tage und ruft dazu auf, Maßnahmen einzuleiten, um eine Wiederholung solcher Vorfälle zu vermeiden. Hier hat die Bundesregierung schon geantwortet, bevor sie das eigentliche Papier an den Rechtswissenschaftler versandte. Denn bekanntlich hat die Bundesregierung weder das eine noch das andere getan.

Zweierlei Maß im Corona-Staat

Die eigentliche Zusendung an Melzer beginnt mit einem betont arroganten Ton. Freiheit werde in Deutschland durch das Grundgesetz geschützt, Gewalt sei nur ein letztes Mittel, Polizeiarbeit bei Demonstrationen grundsätzlich deeskalierend und „versammlungsfreundlich“. Es gebe „kein Muster für die exzessive Gewaltanwendung von Polizeibeamten gegenüber friedlichen Demonstranten in Deutschland“. Die Belehrung ist nicht etwa ein Vorwort, sondern die Beantwortung der ersten beiden Fragen des UN-Sachverständigen.

Auch die Bearbeitung der einzelnen Fälle durch die Bundesregierung lässt einen selbstgerechten Duktus erkennen. Die Polizei wirft einen Demonstranten vom Fahrrad – gerechtfertigte Gewalt, weil der Mann das Grundgesetz vorgelesen und sich eine Menschenmenge um ihn gebildet hatte, was gegen die Corona-Maßnahmen verstieß. „Aufgrund seines Widerstands war es notwendig, die Festnahme mit direkter Gewalt durchzuführen. Die Festnahme des Mannes war durchaus verhältnismäßig, insbesondere um eine weitere Mobilisierung von Sympathisanten zu verhindern.“

400 Körperverletzungen bei Demos in Bayern

In einem anderen Fall belässt es das Papier bei der Information, dass der verantwortliche Polizist aus Bayern kam und gegen ihn ermittelt werde; das Geschehen bewertet die Regierung dagegen nicht. Stellvertretend die Erklärung der Bundesregierung zum obigen Fall 7: der Vorfall ist bekannt und wird untersucht, die Hintergründe bleiben unbekannt, es gibt auch keine genauere Einordnung. Business as usual?

Insbesondere die Antwort auf Frage 5 erweist sich als reichhaltig. Dabei geht es um die auffällig gewordenen Polizisten bei Demonstrationen zwischen Januar 2020 und August 2021. Baden-Württemberg führt 84 Polizeibeamte auf, die in Verbindung zu „versammlungsbezogenen Zwischenfällen“ stehen. In 51 Fällen fielen Beamte wegen Körperverletzung auf, in 28 wegen unrechtmäßiger Inhaftierungen. Weitere Vergehen waren Nötigung, Diffamierung und Strafvereitelung im Amt. 57 Fälle wurden zurückgewiesen, in 27 Fällen laufen die Verfahren noch. Bisher gab es kein einziges Disziplinarverfahren. Bei den Zahlen ist zu bemerken, dass gegen mehrere Beamte zugleich mehrere Verfahren laufen, zudem gibt es einige unbekannte Beamtenzahlen und Verfahren.

Friedlichen Corona-Protest aufgelöst

Bayern besitzt keine detaillierte Auflistung wie Baden-Württemberg, meldet jedoch 1.352 gemeldete Zwischenfälle. 400 davon beinhalteten Körperverletzung, nur in 9 kam es zu einem Verfahren. Brandenburg kennt 21 Verfahren gegen Polizisten, diese waren jedoch zum Antwortzeitpunkt entweder nicht abgeschlossen oder aus Mangel an ausreichenden Gründen zurückgewiesen worden. In Bremen gebe es ein Verfahren gegen einen Polizisten, das nicht abgeschlossen sei. Hamburg kennt sechs Fälle, bei dreien reichten die Gründe nicht aus, bei einem waren die detaillierten Sachumstände nicht feststellbar, die restlichen nicht abgeschlossen. In Mecklenburg-Vorpommern seien 5 Fälle bekannt, in denen aber kein Fehlverhalten festgestellt werden konnte, ein weiteres Verfahren wegen Beleidigung sei noch nicht beendet worden.

Berlin, Hessen und NRW ohne Zahlen

Die übrigen Bundesländer zeigen ein ähnliches Bild. In Niedersachsen gab es 24 Verfahren, in zwei Fällen wurden gegen Kaution eingestellt, die restlichen wegen nicht ausreichender Gründe fallen gelassen oder sind nicht abgeschlossen. In Rheinland-Pfalz gab es 22 Verfahren gegen 44 Polizisten. Ergebnis? Kein Fehlverhalten, keine ausreichenden Gründe, nicht abgeschlossene Verfahren. In Sachsen: 36 Beamte, die in Verfahren verwickelt waren, gegen 19 wurde das Verfahren eingestellt, bei 17 weiteren steht das Ergebnis noch nicht fest. In Sachsen-Anhalt waren elf Beamte auffällig geworden, bei vieren wurde ein Disziplinarverfahren eröffnet, das noch nicht abgeschlossen sei; in den restlichen Fällen gab es keine ausreichenden Gründe.

Schleswig-Holstein meldet vier Verfahren, von denen drei zurückgewiesen wären und eins noch nicht beendet sei; es laufe zudem ein Disziplinarverfahren. In Thüringen ist ein Disziplinarverfahren gegen einen Polizisten im Gange, der wegen Körperverletzung bei einer Demonstration am 20. März 2021 in Kassel auffiel. Gegen drei Kollegen, die in den Vorfall involviert waren, laufe ein Verfahren, aber es gebe (noch) kein Disziplinarverfahren. Verfahren gegen 4 weitere Beamte wurden entweder nicht eröffnet oder wegen nicht ausreichender Gründe eingestellt. Das Saarland meldet keine Zwischenfälle.

Interessant ist an den Antworten nicht nur, was die Bundesregierung weiß – sondern auch das, was sie nicht weiß. Die Polizei ist Ländersache, daher kann sich Berlin nur auf Daten aus Ländern stützen. Und da fallen erhebliche Lücken auf, will man das Geschehen aufarbeiten. Das gilt insbesondere für das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen, für das keine Daten verfügbar seien, oder nur auf einem „äußerst zeitaufwendigen“ Weg. Für Hessen seien keine Statistiken zu dem Thema vorhanden. Aus Berlin ist zu vernehmen: „Daten zur Fragestellung können von der Berliner Polizei im automatisierten Verfahren nicht recherchiert werden.“

Dienst nach Vorschrift in der Bananerepublik

Die letzte Frage Melzers wird – ähnlich wie die ersten beiden – von der Bundesregierung im Grunde nicht beantwortet. Statt aufzulisten, welche Maßnahmen die Exekutive anstrebt, um die Situation oder Polizeivorschriften zu verbessern, antwortet die Regierung mit Allgemeinplätzen aus den verschiedenen Direktiven der Länder. Statt zukünftige Leitlinien zu bieten, wiederholt man schlicht die alten. Zur Erinnerung: für dieses Papier, das nahezu alle kritischen Klippen umschifft, und nur die Hälfte der eigentlichen Fragen abdeckt, haben die Mitarbeiter fast vier Monate gebraucht.

Zusammengefasst: das Antwortverhalten der Bundesregierung gegenüber dem UN-Sachverständigen ähnelt dem gegenüber Journalisten aus den nicht-etablierten Medien und dem gegenüber Abgeordneten aus den nicht-etablierten Parteien. Die Vereinten Nationen sind immer wieder das Etikett, dass sich Deutschland umlegt, wenn es um die Weltenrettung geht, klopft die UN jedoch einmal wegen Missständen an, verhält sich das globale Vorzeigekind Deutschland auch nicht viel besser als manche Bananenrepublik. Nur: wir haben es hier mit der besten Republik aller Zeiten zu tun. Da werden Demokratie und Freiheit beschworen, Leitlinien und Direktiven, ohne, dass man auf den eigentlichen Punkt eingeht.

Der Grundton des Papiers stellt heraus: alles in Ordnung, hier wird Dienst nach Vorschrift erledigt, die Einzelfälle werden untersucht, in fast allen Fällen wird das Verfahren eingestellt. Das klingt in der Theorie gut. Praktisch erweckt es den Eindruck, dass man in Deutschland nicht einmal auf die Idee kommt, dass etwas faul im Staate sein könnte, wenn sich allein in Bayern 400 Fälle von Körperverletzungen bei Demonstrationen ereignen – ausgehend von Beamtenseite. Stattdessen vermittelt Deutschland den Eindruck: von uns kann die UN noch etwas lernen. Offen bleibt, ob das Melzer genauso sieht. Zur Polizeigewalt auf Corona-Demos hat die Bundesregierung im Grunde nur eine Antwort gegeben: es kann nicht sein, was nicht sein darf.

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