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Warum Politik so häufig scheitert

Published On: 23. Januar 2022 19:42

Werden wir gut regiert – oder bleibt die Politik hinter ihren Möglichkeiten zurück? Und wenn das so ist – woran liegt das? Wie kommen politische Fehlentwicklungen zustande, und wie kann man sie vermeiden? Von Thilo Sarrazin

Es gibt gut regierte und schlecht regierte Länder. Das gilt im historischen Vergleich, es gilt aber auch, wenn man zu einem beliebigen Zeitpunkt den Blick über die Welt schweifen lässt und sie betrachtet, wie sie gerade ist. Das gilt global. Aber selbst im regionalen oder auch nationalen Rahmen stehen besser und schlechter regierte Einheiten recht unverbunden nebeneinander. Ad hoc und mit wünschenswerter Eindeutigkeit lässt sich kaum sagen, wodurch sich der Unterschied denn nun ergibt. In der Summe macht Deutschland einen wesentlich besser regierten Eindruck als Frankreich, und dieser Eindruck lässt sich durch die Wirtschafts- und Sozialdaten leicht erhärten. Aber was sind die Ursachen solcher Unterschiede?

Selbst innerhalb von Nationen gibt es große Unterschiede. Diese zeigen sich zum Beispiel, wenn man beliebige Daten des Bundeslandes Bayern mit jenen des Bundeslandes Bremen vergleicht. Da beginnen aber auch schon die Probleme mit der Faktenanalyse und der Ursachenzuschreibung. Der Bürgermeister von Bremen kann in jeder beliebigen Diskussionsrunde faktenreich darstellen, weshalb Bremen mindestens genauso gut regiert wird wie Bayern und aus der Ungunst der Umstände das Beste gemacht hat. Die Bremer loben ihre hohe Abiturientenquote, und die Bayern loben den Umstand, dass ihre Schüler wesentlich mehr lernen – selbst wenn sie kein Abitur machen. Das Beispiel zeigt bereits, dass ganz wesentlich subjektive Ziele und Maßstäbe darüber bestimmen, was man für gutes Regieren hält und was nicht: Wer die Gleichheit formaler Bildungsabschlüsse in den Mittelpunkt stellt und in der Tiefe seines Herzens das Abitur für alle möchte, wird eine andere Bildungspolitik betreiben als jener, der das individuelle Leistungsvermögen herausfordern und möglichst gut entwickeln will. Andere Menschenbilder bedingen eben auch andere Politikentwürfe.

Wer als deutscher Politiker der Meinung ist, dass alle Menschen auf der Welt, sobald sie die deutsche Grenze passiert haben, vor dem Grundgesetz die gleichen Rechte und an den Sozialstaat die gleichen Ansprüche haben sollten, wird eine andere Flüchtlings- und Einwanderungspolitik betreiben als jener, der die Interessen der deutschen Bevölkerung in den Mittelpunkt stellt.

Vor der Wahl in der Hauptstadt

Stellen wir uns vor, die UNO versammelte in einem Konklave einen neokonservativen Republikaner aus dem amerikanischen Mittelwesten, einen Muslimbruder aus Ägypten, einen grünen Fundi aus Kreuzberg und einen Wirtschaftsexperten aus der chinesischen KP mit dem Auftrag, gemeinsame Ziele und Maßstäbe guten Regierens zu entwickeln. Unterstellen wir ferner, alle vier seien intelligent, gebildet und guten Willens. Dennoch werden sie nach ihrem Konklave mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr vorzuweisen haben als den gemeinsamen Willen, Kriege zu vermeiden und den Hunger in der Welt zu bekämpfen. Wer Maßstäbe guten Regierens entwickeln will, kommt um Wertmaßstäbe nicht herum. Solange man die Existenz einer letzten und höchsten göttlichen Instanz ausschließt – denn das ist bereits eine Wertung –, sind Werte grundsätzlich beliebig und stehen in keinem Rangverhältnis zueinander. Allerdings unterliegen sie den universalen Gesetzen der Logik – ebenfalls eine Wertung – und sollten möglichst widerspruchsfrei gestaltet werden, damit sie sich nicht gegenseitig aufheben und das auf ihnen gegründete politische Handeln ad absurdum führen.

Der Kern von Politik ist erstens das Erringen, der Ausbau und die Verteidigung von Macht und zweitens ihr Einsatz für die Ziele, die angestrebt werden. Macht ist nach Max Weber die Fähigkeit, einem anderen seinen Willen aufzuzwingen. Sie ist Voraussetzung und Instrument politischer Gestaltung. Ohne Macht kann man weder gut noch schlecht regieren.

Wer die politische Macht hat, kann Gesetze und die unterschiedlichsten Statuten und Regularien des Staates und der Gesellschaft ändern, selbst wenn die Möglichkeiten dazu vielfach formalisiert und begrenzt sind. Das gilt für die überkommene Stammesgesellschaft ebenso wie für die moderne parlamentarische Demokratie. Nur unter autokratischen und diktatorischen Regierungsformen lassen sich solche Begrenzungen teilweise – und nur sehr selten und dann auch nur für kurze Zeit ganz – aufheben.

Politisches Denken und Handeln ist von Motiven, Zielen und Wünschen geleitet. Diese können auf die Gestaltung der Gesellschaft oder auf die eigene Rolle in ihr gerichtet sein. Der politisch Handelnde kann Utopist, Idealist, Realist, machthungriger Psychopath oder schlicht ein Ausbeuter oder Umverteiler von Ressourcen sein, auf die er durch politische Macht Zugriff erhält. Ein Wahrheitssucher ist er eher nicht, denn mit der Wahrheit hat der politische Akteur im Regelfall abgeschlossen.

Wer nach Erkenntnis, nach künstlerischer oder wissenschaftlicher Selbstverwirklichung strebt, geht eher nicht in die Politik, und wer nur schlicht seinen Lebensunterhalt sichern, seinen Wohlstand mehren und seine Familie ernähren will, wird sich ebenfalls nicht der Politik verschreiben. Zu allen Zeiten und in allen gesellschaftlichen Systemen war die Politik das Geschäft einer kleinen Minderheit.

Wer in die Politik strebt, muss Macht wollen, und er muss seine Ziele zäh und beharrlich verfolgen können. Denn aus den Wechselwirkungen von politischen Motivationen, dem Charakter von Politik und den inneren Gesetzen des politischen Handelns erwachsen immer wieder typische Fehler und Irrtümer, die dem politischen Prozess quasi immanent sind. Diese typischen politischen Fehler passieren auch in Staaten und Gesellschaften, die im Weltmaßstab vorbildlich sind. Wir werden generell weit unter unseren Möglichkeiten regiert, auch das Deutschland der Gegenwart.

Wenn man die Natur solcher Fehler erkennt und Wege findet, ihre Entstehung wie ihre Auswirkungen einzuschränken, dann steigen die Chancen für gutes Regieren. Die großen Fortschritte der Menschheit in Kultur und Zivilisation sind nicht zuletzt erzielt worden, weil der Raum des Politischen eingehegt und mit Regularien versehen wurde. Auch dies war ein durch und durch politischer Prozess, denn er beruhte auf politischen Entscheidungen. Letztlich ist alles Handeln politisch, auch die Einhegung von Politik und ihre Unterordnung unter höherrangige Ziele, die immer wieder neu verhandelt werden müssen. (…)

Viele Zeitgenossen beklagen die Unsinnigkeit oder Schädlichkeit bestimmter politischer Entscheidungen auf Gebieten, von denen sie etwas verstehen, und wundern sich, dass die Politik auf sachliche Argumente einfach nicht hören will. Man denke nur an die argumentativen Breitseiten, die renommierte Ökonomen in großer Eintracht Ende 2013 und Anfang 2014 gegen die neuen gesetzlichen Regelungen zum Mindestlohn abfeuerten. Zu ihrem fassungslosen Erstaunen erreichten sie damit die Politik großenteils gar nicht, denn hier wirkten gleich mehrere Mechanismen politischer Verzerrung oder Fehlsteuerung in die entgegengesetzte Richtung. (…)

Die Historikerin Barbara Tuchman klagte vor drei Jahrzehnten: »Warum agieren die Inhaber hoher Ämter so oft in einer Weise, die der Vernunft und dem aufgeklärten Eigeninteresse zuwiderläuft? Warum bleiben Einsicht und Verstand so häufig wirkungslos?« Sie sprach von »Torheit«, und damit hatte sie recht. Sie analysierte solche Torheit anhand schlagender historischer Beispiele vornehmlich aus dem Bereich der Außenpolitik. Und doch taugt der Begriff Torheit nur zur Beschreibung, nicht zur Erklärung. Denn es ist die Dynamik widersprüchlicher Elemente und Motive, die politisches Handeln objektiv töricht werden lässt, weniger die Dummheit und Borniertheit des einzelnen Politikers. Das Problem liegt eben nicht auf der Ebene des Verstandes – dann könnte man der politischen Torheit leicht vorbeugen, indem man einen Mindest-IQ für Politiker vorgibt –, sondern auf der Ebene der Gefühle.

Keinesfalls unterschätzen darf man das Potenzial der Politik zur Desinformation in komplexen Sachfragen – vor allem dann nicht, wenn diese im Bündnis mit einem großen Teil der Medien verbreitet wird. Ein Beispiel: Selbst gebildete und verständige Zeitgenossen scheuen die inhaltliche Befassung mit Währungs- und Haushaltsfragen. Meistens glauben sie das, was dazu in den Medien steht, oder überschlagen die entsprechenden Artikel gleich ganz. So haben Politik und Medien freie Bahn. Beide interessieren sich in ihrer Mehrheit aber gar nicht für die Währungsfrage als solche, sondern ausschließlich für den europäischen Gedanken: Der Euro soll das Zusammenwachsen Europas fördern, und darum muss man an ihm um jeden Preis festhalten.

Empörungsdemokratie vs. Streitkultur

Man hat in den Neunzigerjahren sehr wohl noch versucht, den durchaus bekannten Risiken entgegenzuwirken, aber dazu hätte die somnambule politische Klasse zumindest die Absicht erkennen lassen müssen, sich an die von ihr selbst formulierten vertraglich fixierten Vorgaben zu halten. Doch es zeigte sich wieder einmal: In zentralen Fragen ist diese politische Klasse nicht willens, die logischen Implikationen symbolischer politischer Akte vorauszuberechnen und die absehbare Entwicklung auf ihre Handlungen rückwirken zu lassen.

Ergeben sich solche Mängel quasi zwangsläufig aus dem Wesen von Politik? Und welches könnten die Heilmittel beziehungsweise Präventionsmaßnahmen sein? Gut organisierter Wettbewerb nach klaren Regeln, mehr Transparenz, mehr Dezentralität und mehr Delegation?

Natürlich ist es nicht seriös, die aufgeführten Mängel einfach der Politik anzuhängen. Die handelnden und Macht ausübenden Politiker sind stets auch ein Spiegel der Gesellschaft, aus der sie stammen: In einem gesellschaftlichen System des Klientelismus zum Beispiel, in dem Beziehungen, Gefälligkeiten und Korruption dominieren, wird ein Politiker, der sich dieser Instrumente nicht bedient und sie nicht quasi verinnerlicht hat, gar nicht erst an die Macht gelangen. Das ist das vielfach unterschätzte Problem der Governance in einem Staat wie Griechenland. In einer Stammesgesellschaft, wie sie in großen Teilen Afrikas und in vielen arabischen Staaten dominiert, spielt das Leistungsprinzip bei der Elitenauswahl nur eine geringe Rolle, und für die politischen Führer ist es selbstverständlich, dass sie vor allem die eigene Familie und den eigenen Stamm bedenken.

Der unentschlossene Zauderer und Reformfeind François Hollande war 2012 auch deshalb französischer Präsident geworden, weil die Franzosen damals mehrheitlich keinen tatkräftigen Reformer als Präsidenten wollten. Die Wiederwahl seines Nachfolgers Emmanuel Macron wiederum ist 2022 bedroht, weil auch er notwendige Reformen nicht zustande brachte und die Franzosen sich außerdem vor ebendiesen Reformen fürchten. Die Persönlichkeiten und Ziele handelnder Politiker spiegeln die Widersprüchlichkeit ihrer Wählerschaft. Nur wenige starke Geister können sich den darin liegenden Zwängen entziehen. In einem komplexen Wechselspiel erschaffen sich Gesellschaften und politische Systeme »ihre« Politiker, und diese wiederum verändern die Gesellschaften und die politischen Systeme.

Allgemeine Mängel des menschlichen Denkens und Entscheidens haben nirgendwo eine so große praktische Relevanz wie im politischen Raum. Im privaten Bereich oder in Wirtschaftsunternehmen wird man nämlich mit den Folgen seiner Irrtümer nicht immer unmittelbar, aber doch relativ schnell konfrontiert. Nur in der Liebe, in der Religion und in der Politik ist es möglich, über längere Zeit Wunschträumen nachzuhängen. Willenskraft und Redetalent können in politischen Spitzenämtern und erst recht in politischen Diskussionen über weite Strecken tragen. In der Wirtschaft endet solch ein Unterfangen dagegen oft schon im übernächsten Bilanzjahr.

Tichys Lieblingsbuch der Woche

Jede Vorstellung von guter Politik beruht implizit oder explizit auf einem normativen Bild vom Menschen, seinem Glück und seiner Bestimmung, und dieses Bild vom Menschen ist in ein bestimmtes Bild von der menschlichen Gesellschaft eingebettet. Ein empirisch gehaltvolles und einigermaßen korrektes Bild von Mensch und Gesellschaft entsteht aber nicht durch einen normativen Willensakt, auch nicht durch religiöse Offenbarung oder philosophisches Grübeln, sondern vor allem durch unser vermeintliches oder tatsächliches Wissen über die menschliche Natur und die menschliche Geschichte.

Dieses Wissen mag tiefer oder oberflächlicher, vollständiger oder unvollständiger, aktuell oder veraltet sein. Es wird immer unterschiedliche Perspektiven eröffnen und damit auch unterschiedliche Urteile begründen können. Damit ergeben sich zwingend auch unterschiedliche Maßstäbe, was dem Menschen frommt und was eigentlich die Kriterien guter Politik sind. Jeder grundsätzliche Streit über diese Maßstäbe ist seiner Natur nach uferlos, gleichzeitig aber sachlich geboten und sowieso unvermeidlich, wenn die Welt nicht in Stillstand verfallen soll. Früher oder später wird man feststellen, dass man dabei ohne Werturteile, die man einfach setzt, nicht auskommt. Jede Fragestellung, jedes Sachinteresse ergibt sich aus menschlichen Antrieben und wird damit zwangsläufig von Werturteilen gesteuert.

Diese kommen letztlich aus dem vorrationalen Raum emotionaler Antriebe und sind damit niemals im strengen Sinn beweisbar. Zudem haben unsere Handlungen oder die Handlungen des Staates neben der gewünschten Wirkung immer zahlreiche Nebenwirkungen. Diese müssten umfassend abgewogen werden, was aber selten möglich ist und kaum jemals ausreichend geschieht. Mit der Ethik wird es häufig umso schwieriger, je näher die konkrete Entscheidung rückt. Angela Merkel antwortete am 14. September 2015 auf die Kritik an ihrer Entscheidung, die deutschen Grenzen für die Flüchtlinge über die Balkanroute zu öffnen: »Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.« Die größte politische Torheit, die ein deutscher Regierungschef seit dem Zweiten Weltkrieg beging, wurde moralisch begründet, während ihre Nebenwirkungen verdrängt oder missachtet wurden.

Gutes Regieren braucht Werturteile. Soll Politik aber erfolgreich sein, reichen moralische Maßstäbe nicht aus.

Leicht gekürzter und um die im Buch enthaltenen Fußnoten bereinigter Auszug aus:

Thilo Sarrazin, Wunschdenken. Warum Politik so häufig scheitert. Vollständig überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe. LMV, 512 Seiten, 20,00 €.


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