
Die tiefere Bedeutung des olympischen Strickens
Dieser Text ist dem Stricken und dem Häkeln gewidmet. Bisher sind beide Betätigungen noch keine olympische Disziplinen. Aber sie spielen bei Olympia und im Geschlechter-Bingo eine unterschätzte Rolle.
Die Olympischen Spiele in Tokio wecken nostalgische Gedanken. Nein, hier soll es nicht um Erinnerungen an die Zeit gehen, als deutsche Nationalmannschaften noch wussten, wie man Fußballspiele gewinnt. Dieser Text ist dem Stricken und dem Häkeln gewidmet. Bisher sind beide Betätigungen noch keine olympische Disziplinen. Aber sie spielen in der Sportler-Enklave und im olympischen Internet eine prominente Rolle. Der strickende Gold-Medaillen-Boy Tom Daley dürfte die älteren Semester unter uns an jene bärtigen und langhaarigen Herren im Bundestag erinnern, die anno dazumal strickend und häkelnd die Frühzeit der Grünen prägten.
Tom Daley ist mit seinen 27 Jahren ein Enkel der grünen Strick-Veteranen. Aber er ist aus ganz anderem Holz geschnitzt. Er ist nicht politisch ambitioniert, sondern holt als athletischer Wasserspringer Medaillen für seine englische Heimat. Und in den Springpausen strickt er eben, wie einst die Früh-Grünen. Über zwei Millionen „Followers“ schauen ihm im Netz dabei zu, wie er mal eine Tasche mit olympischen Ringen, mal einen rosa Hundemantel strickt oder häkelt.
So ändern sich die Zeiten. Ein Sportler ohne Hang zur politischen Provokation setzt das fort, was den Grünen verlorengegangen ist. Würde heute ein Grüner im Bundestag zu stricken beginnen, er würde wahrscheinlich einen Platzverweis wegen parteischädigender Aktivitäten erhalten. Nein, die Grünen stricken nicht mehr.
Der Gegenentwurf zum klassischen Geschlechterbild
Sie haben es getan, als sie noch eine Alternative für den deutschen Mainstream waren. Ihre strickenden und häkelnden Männer waren der Gegenentwurf zum klassischen Geschlechterbild. „Weibliche Handarbeit“ hieß in grauer Vorzeit mal das Schulfach, das die Buben ausschloss und den Mädchen ihre Rolle zuwies.
Die Grünen mussten kommen, um zu demonstrieren, dass die alten Rollen durchbrochen werden können und dass der neue Mann sich seinen Schal oder seinen Norweger-Pullover selber stricken kann. Die Strick- und Häkelrevolution als Beitrag zur Geschlechtergleichheit ist noch lange nicht abgeschlossen, auch wenn die Selbstverständlichkeit, mit der Tom Daley zu Nadel und Wolle greift, dies suggerieren könnte. Aber die Grünen haben sich inzwischen größere Themen auf den Leib gehäkelt.
Den Atomausstieg haben sie, den Umweg über Angela Merkel nutzend, schon hingekriegt. Mit dem Klimawandel ringen sie noch. Um ihm endgültig den Garaus zu machen, müssen sie sich in die Regierung hineinarbeiten. Um regieren zu können, müssen sie sich der Stromlinie annähern. Also im Grunde eine Art CDU werden, was wiederum bedeutet: auf keinen Fall stricken und auch keine Turnschuhe tragen wie einst der wilde Joschka Fischer.
Der trug auch Jeans. Die trägt er heute nicht mehr, so wie er auch die Turnschuhe gegen die zum Armani passenden Budapester eingetauscht hat. Jeans könnte er aber längst wieder tragen, ohne aufzufallen, denn auch das politische Großbürgertum ist inzwischen in Jeans zu bewundern. Und mit offenem Hemdkragen, mit dem einst die Strick-Grünen ihre Anzug und Krawatte tragenden Abgeordneten-Kollegen schockierten.
Geschwisterliche Fraktionsgemeinschaft
Man kann von einem Wandel durch Annäherung sprechen: Die Grünen sind bürgerlich geworden und die Bürgerlichen grün. Fast könnten sie, wie CSU und CDU, eine geschwisterliche Fraktionsgemeinschaft bilden. Zur klassischen Koalition reicht es ja demnächst vielleicht. Darf man – als neuzeitliches Gegenstück zur früher erträumten Volksfront – von einer Bürgerfront sprechen?
Aber, wie gesagt, die Revolution des Geschlechterwesens ist noch lange nicht abgeschlossen. Ein strickender Wassersportler männlicher Ausführung löst noch nicht die Gender-Frage. Noch greift kein Hammerwerfer zur Häkelnadel. Und noch ist kein Schwergewichtsboxer beim Stricken erwischt worden. Andererseits macht Aline Rotter-Focken, die als Schwergewichtsringerin Gold für Deutschland holte, nicht den Eindruck, als ginge sie, nachdem sie ihre Gegnerin auf die Matte gelegt hat, nach Hause, um sich einen Pulli zu häkeln. Einerseits tut sich was, andererseits bleibt noch viel zu tun.
Hier soll aber auch nicht verschwiegen werden, dass die gewollte oder unfreiwillige Gender-Einebnung nicht immer eine reine Freude ist. So durften bei den Spielen in Tokio die Läuferinnen Christine Mboma und Beatrice Masilingi aus Namibia nicht antreten, weil sie zu viel natürliches Testosteron im Körper hatten. Also zu viel Männlichkeit. Zwei klare Fälle von „divers“, also nicht eindeutiger geschlechtlicher Zugehörigkeit. Zu männlich für den Frauen-Wettbewerb, zu weiblich für die Männerriege. Zwei persönliche Tragödien, die nur zu lösen wären, wenn sich die Sportorganisationen für eine dritte Geschlechter-Rubrik entscheiden könnten, wie sie anderswo längst üblich ist. Divers im Sport? Das kann dauern. Die Mühlen der Funktionäre mahlen langsam.
Hätten die beiden etwas zu männlichen Afrikanerinnen vielleicht demonstrativ stricken sollen, um die in ihren Verbänden ergrauten Funktionäre von ihrer Weiblichkeit zu überzeugen? Das hätte wohl nichts gebracht, weil gleichzeitig Tom Daley vorführt, dass Stricken und Häkeln kein sportgerichtlich verwertbarer Beleg für eine bestimmte Geschlechtszugehörigkeit ist.