
Ein Inselreich schwimmt davon
Johnson und die Seinen haben sich für eine „splendid isolation“ entschieden. Seither bewegt sich das Königreich in einem Krisenmodus, der alles andere als splendid ist.
By Jingo! Das ist die englische Variante einer Gefühlslage, die bei uns „Deutschland über alles“ stellt. Ein gegen Russland gerichteter Gassenhauer aus der viktorianischen Zeit hat den Begriff des Jingoismus geboren. Er war lange scheintot, erlebt aber im Brexit-England eine kraftstrotzende Wiedergeburt. Unter dem Segel des Jingoismus schwimmt das Inselreich immer weiter vom Kontinent weg und versucht, sich als Global Britain irgendwo in der Nähe der Azoren zu platzieren. Und landet bisher im Nirgendwo.
Wie konnte es dazu kommen? Weil der Brexit, ein aus britischer Sicht durchaus nachvollziehbarer Schritt, aus dem Ruder gelaufen ist. Die Briten – eigentlich als pragmatische Politiker weltweit ein Vorbild – haben sich einer Regierung mit ideologischen Scheuklappen anvertraut. Statt einen maßvollen Brexit zu wählen, haben sie sich in die Hände einer nationalistischen Truppe um Boris Johnson begeben. Die lehnt den norwegischen oder den Schweizer Weg ab, der sich klug am gemeinsamen Brüsseler Markt orientiert und damit unnötige Probleme der totalen Unabhängigkeit vermeidet. Johnson und die Seinen haben sich für eine splendid isolation entschieden. Seither bewegt sich das Königreich in einem Krisenmodus, der alles andere als splendid ist.
Der Abschied vom Kontinent und das Hochziehen der Burggrabenbrücken bedeutet, dass kaum noch polnische Lastwagenfahrer auf die Insel kommen, um Obst und Gemüse zu transportieren, das sowieso zur Mangelware wird, weil auch die rumänischen Obst- und Gemüsepflücker nicht mehr reingelassen werden. In den Regalen der Supermärkte klaffen ungewohnte Lücken. Langsam aber stetig wandern auch Finanzdienstleister aus dem Weltzentrum in Richtung Kontinent ab. Hält das an, tut das dem Land, das ganz wesentlich von der „City“ lebt, besonders weh.
Leere Versprechungen und arrogante Untätigkeit
Touristen, die trotz der unfreundlichen Stimmung die Insel betreten, müssen damit rechnen, dass sie unter dem Verdacht, Arbeit zu suchen, in Handschellen abgeführt und nach ein, zwei Nächten in Haftzellen auf den Kontinent abgeschoben werden. In den Restaurants und Pubs fehlen die Mitarbeiter, die früher in ausreichender Zahl von jenseits des Kanals kamen, um sich ein bisschen Geld zu verdienen und Englisch zu lernen. Fischer, denen man die große Freiheit versprochen hat, kriegen dank der neuen Zollbestimmungen als Drittland ihre Ware erst rüber auf den Kontinent, wenn sie das Etikett „frisch“ längst verloren haben. Eine Insel- und Küsten-Industrie stirbt leise vor sich hin. Die ärmeren Regionen wie Wales und Cornwall müssen sich ohne die vielen Millionen Euro durchschlagen, die sie von Brüssel bekommen haben. Jetzt steht ihnen das Wasser bis zum Hals, denn London lässt sie hängen.
Leere Versprechungen und arrogante Untätigkeit pflastern den Weg der Brexit-Ideologen. Das rabiate Grenzsystem verkörpert Innenministerin Priti Patel, deren Eltern aus Indien nach England eingewandert sind. Heute müssten sie unter dem Patel-Regime draußen bleiben und ihre Tochter in Gujarat zur Welt bringen. Ein besonders schöner Beleg für die Allgemeingültigkeit des Satzes von F. W. Bernstein: Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche.
So stirbt die Idee, dass England, das historisch und kulturell nie ganz in die Europäische Union passte, nach der Scheidung als wertvoller Nachbar weiter eng und freundschaftlich mit dem Kontinent zusammenarbeitet. Auch aus dem Traum, in Anlehnung an das Empire von einst, den Abschied vom Kontinent durch lukrative Handelsabkommen mit den Verwandten im Commonwealth zu kompensieren, ist bisher nicht viel geworden. Die CANZUK-Idee, also Kanada, Australien und Neuseeland mit dem Königreich zu einer neuen Union zu vereinen, hat bisher nicht gezündet. Ein Handels-Abkommen mit Australien ist so einseitig, dass die britische Landwirtschaft bereits um ihre Zukunft bangt. Von Brüssel bekommt sie ja nichts mehr. Von London hat sie nichts zu erwarten.
Schottland und Nordirland driften ab
Das Inselreich schwimmt politisch nicht nur hinaus in die Weiten des Atlantiks. Es zeigt auch Auflösungserscheinungen. Schottland, das nie die EU verlassen wollte, hat erst vor sieben Jahren für den Verbleib im EU-Land Großbritannien gestimmt. Jetzt will die Mehrheit weg von den englischen Nationalisten, von denen sie sich verraten fühlt, da sie keine Rücksicht auf die Wünsche des nördlichen Nachbarn nehmen. Europäische Politiker sind inzwischen boshafterweise dabei, heftig mit den Schotten zu flirten und ihnen zu versichern: Ihr seid herzlich willkommen, wenn ihr den Engländern den Rücken kehrt. Nicola Sturgeon, die Regierungschefin des Freistaats Schottland, will den Abschied durchpauken, aber sie lässt sich Zeit, in der Hoffnung, dass Boris Johnson den englischen Laden noch tiefer in den Sumpf fährt.
Ein schleichender Abschied ist auch in Nordirland zu spüren. Zwar klammern sich die nordirischen Protestanten weiter lautstark ans Königreich. Aber die Wirtschaft lehnt sich immer enger an die zur EU gehörige Irische Republik an. Sie profitiert vom Sonderstatus Nordirlands, das weiterhin als Teil des gemeinsamen EU-Marktes gilt. So trocknet der schwieriger gewordene Handel mit der königlichen Nachbarinsel allmählich aus, während der Warenverkehr zwischen dem irischen Norden und dem Süden wächst und gedeiht. Wer leere Supermarkt-Regale sucht, muss nach England gehen. In Nordirland sind die Regale voll.
Wohin die normative Kraft des Faktischen noch führt und wie schnell sie wirkt, ist schwer zu sagen. Aber es scheint, dass Boris Johnsons Herz nicht sehr heftig für Nordirland schlägt. Er hat zwischen diesem Teil des Königreichs und der Hauptinsel ein Grenzregime akzeptiert, mit dem er nichts als Ärger hat. Er hat diese lästige Grenze innerhalb des Königreichs nur hingenommen, um seinen Brexit über die Bühne zu bringen. Jetzt will er davon nichts mehr wissen und die Sache neu verhandeln. Den Grundsatz, dass man Vereinbarungen wenigstens mehr als ein paar Monate einhalten soll, hat er – wie so vieles – nie ganz ernst genommen. Aber auch das Abdriften der Nordiren in Richtung Süden scheint ihm keine schlaflosen Nächte zu bereiten. Er handelt gerne nach dem Beckenbauer-Motto: Schaun mer mal, dann sehn mer scho.
Klassische englische Antwort auf harte Zeiten: die stiff upper lip
Schlaflose Nächte scheint ihm hingegen die Fülle der wirtschaftlichen Probleme zu bereiten, die er sich und seinem Land mit dem harten Brexit und Priti Patels eisernem Grenzregime eingehandelt hat. Darum wird jetzt schon darüber spekuliert, dass Boris Johnson vielleicht bereits im nächsten Jahr, also zwei Jahre vor Ablauf seiner Amtszeit, Neuwahlen plant. Der Gedanke dahinter: Lieber bald wählen als später, wenn sich beim Volk immer mehr herumspricht, dass der Johnson-Brexit alle Merkmale eines Flops hat.
Auch hier gilt: Schauen wir mal, dann sehen wir schon. Noch schwimmt die Insel draußen im Atlantik, nicht so frisch und frei wie erhofft, eher einsam und ein bisschen verloren. Aber die Briten haben ein besonderes Verhältnis zu schwierigen Zeiten. Die Nachkriegszeit mit ihren Essensmarken und patriotischen Liedern von Vera Lynn ist vielen älteren Semestern in liebevoller Erinnerung. Die klassische englische Antwort auf harte Zeiten ist die stiff upper lip. Und wer weiß, vielleicht erweist sich die steife Oberlippe auch als Retter für Boris Johnson auf seiner ins Nirgendwo treibenden, aber stolzen Insel.