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Italien im „semestre bianco“, im weißen Halbjahr

Published On: 7. August 2021 11:00

„Green Pass“, Energiepolitik, illegale Migration: Alles hat das Potenzial, die sehr heterogene Koalition in Rom zu sprengen. Aber die muss vorerst auf Gedeih und Verderb zusammengehalten werden.

Von Hermann Schulte-Vennbur.

Am 3. August hat das „weiße Halbjahr“ begonnen: Die italienische Verfassung bestimmt, dass der Staatspräsident in den letzten sechs Monaten seiner Amtszeit nicht mehr das Recht hat, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Dies sieht zunächst nach einer Stärkung des Ministerpräsidenten aus, der auch ohne parlamentarische Mehrheit im Amt bleiben könnte. Die Unterstützungsmehrheit, von Koalition kann man nicht sprechen, für Draghi reicht von Links (5 Stelle, Partito Democratico) bis Rechts (Lega, Forza Italia) und ist in zentralen Fragen der italienischen Politik entsprechend gespalten. Die Disziplinierung dieser heterogenen Mehrheit im „semestre bianco“ könnte schwieriger werden: Draghi kann nicht mehr drohen, zum Staatspräsidenten zu gehen mit der Bitte, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen.

Ähnlich wie in Frankreich gibt es in den Großstädten von Mailand bis Palermo massive Proteste gegen die Einführung eines „Green Pass“ (heißt auch in Italien so), der zumindest nach den ersten Entwürfen auch für einen Besuch in einer Bar und für Zugfahrten verpflichtend sein soll und faktisch zu einem Impfzwang führen würde. Der Philosoph und Politiker Massimo Cacciari, Ex Bürgermeister von Venedig und in den 80ern Mitglied des Partito Comunista, befürchtet, dass der Green Pass, möglicherweise wegen ständig zu erneuernder Impfungen, zu Mikro-Lockdowns führen wird, hinein in eine Gesellschaft des Überwachens und Bestrafens.

Auch die Italiener selbst lieben das Klischee, dass der italienische Staat zwar jede Menge Regeln setzt, sie aber nicht wirklich kontrolliert. Zumindest im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 fuhren durch mein kleines ligurisches Bergdorf dreimal am Tag die Carabinieri und kontrollierten, ob auch niemand auf der Straße war. Eine restriktive Ausgestaltung und Überwachung der Regeln des Green Pass mag auch als Signal nach Brüssel gedacht sein, um sich die Milliarden des Recovery Fund zu verdienen.

Wende zu einer realistischen Umweltpolitik

Im Hinblick auf die Gelder und die Auflagen des Fonds wurde das Ministerium für Umweltschutz umbenannt in Ministero della Transizione Ecologica und mit der Zuständigkeit für die Energiepolitik ausgestattet. Auf Druck des Movimento 5Stelle wurde als Minister Roberto Cingolani berufen, ein Physiker von internationalem Ruf. Nicht nur die 5Stelle hat der Minister überrascht: „Ich kann es nicht mehr hören, wie die Industrie dämonisiert wird“. Auch Umweltschutz, so erklärte er: „… müssen wir in einer nachhaltigen Weise machen und zur Nachhaltigkeit gehört es auch, Arbeit zu garantieren“. Die Nuklearenergie hält der Physikprofessor für „einen Zug, den man nicht verpassen darf.“ Die Nuklearfusion könne die erneuerbare Energie schlechthin werden. Eine ökologische Transformation, die nicht auch den Menschen und seine Bedürfnisse im Auge hat, riskiere ein „bagno di sangue“, ein Blutbad zu werden.

Konkret bedeutet dies für Cingolani, dass im Rahmen eines Energiemixes und um Versorgungssicherheit zu garantieren, auch auf fossile Rohstoffe bei der Energieerzeugung nicht verzichtet werden kann und sollte. Und an die Automobilindustrie gerichtet, besteht er in einem Interview mit dem Corriere della Sera darauf, dass der Übergang zu einer ökologischen Produktion weder Arbeiter noch Unternehmen beschädigen dürfe. Der radikalen Umweltideologie wirft der Minister vor, ein Feind des Umweltschutzes zu sein: „C`´e un grande nemico: l´` ideologia“.  

Die Anhänger dieser Umweltideologie, die von der politischen Protest- zur radikalen Umweltpartei mutierten 5Stelle, haben daraufhin verlangt, Cingolani die Kompetenz über die Verwendung der Gelder aus dem Recovery Fund zu entziehen. Und der „Garant“ der 5Stelle, Beppe Grillo, tobte, bald gebe es ein Blutbad, aber für Cingolani – eine leere Drohung, gedacht zur Befriedung des umweltradikalen Flügels.

Die Regierung Draghi bleibt „metastabil“

Bei der Ausgestaltung des Green Pass lassen sich Kompromissformeln denken und die unterschiedlichen Konzepte in der Umweltpolitik entwickeln ihre Sprengkraft nur langsam, ohne die Draghi-Mehrheit aktuell zu gefährden. Anders das Thema der illegalen Immigration: die Zustände auf Lampedusa sind unhaltbar, die Aufnahmezentren mittlerweile um den Faktor 4 bis 5 überfüllt. Im ersten Halbjahr 2019 konnte Salvini als Innenminister seine restriktive Politik gegenüber der illegalen Immigration, übrigens auch mit Unterstützung der 5Stelle, durchsetzen und es kamen ca. 3.000 Migranten. Im ersten Halbjahr 2021 sind es unter seiner Nachfolgerin Luciana Lamorgese bereits fast 30.000.

Draghi hat Lamorgese, eine parteilose Karrierebeamtin, auf Druck des Staatspräsidenten Mattarella aus der gescheiterten Vorgängerregierung Conte II übernommen. Bisher sind keinerlei Anstrengungen der Ministerin zu erkennen, das Problem auch nur als solches wahrzunehmen. Angesichts der dramatischen Lage sind Salvinis Einlassungen zu dem Thema moderat und sicher kein Ultimatum für Draghi: An die Innenministerin gewandt, erklärte er, da mache jemand seinen Job nicht. Das Problem ist, dass die Ministerin ihren Job mit der in dieser Frage gespaltenen Draghi-Mehrheit auch dann nicht machen könnte, wenn sie denn wollte.

Draghi reagiert auf das innerhalb der Mehrheit kaum lösbare Problem ähnlich wie die Ministerin: Er macht nichts und schiebt es Richtung Brüssel. Dort wird erklärt, man sei für die Anlandungen in Italien nicht verantwortlich. Das Problem der illegalen Massenimmigration zeigt die Grenzen der „Draghi-Mehrheit“ und hätte normalerweise das Potenzial, eine Regierung zu sprengen. Zu rechnen ist damit nicht: Die Regierung wird zusammengehalten durch die Notwendigkeit, Konzepte für die Verwendung der ca. 200 Mrd. des Recovery Plan vorzulegen und umzusetzen. Im Übrigen ist Draghi als Persönlichkeit unumstritten und als Ministerpräsident gegenwärtig unersetzlich. Jeder, der ihn zu Fall bringen würde, wäre für das sich anschließende politische Chaos verantwortlich.

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