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Aktuelle Antisemitismusdebatten als Zeugnis fortwährenden Unverständnisses

Published On: 6. November 2021 14:00

Der Anschlag von Hanau, die Mbembe-Debatte oder die immer wiederkehrenden, meist hitzigen Diskussionen um den Nahost-Konflikt machen eines klar: Wir brauchen dringend eine fundierte Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen zwischen Antisemitismus und (anti-muslimischem) Rassismus. In der Öffentlichkeit ist die Frage, ob und wie diese beiden Phänomene miteinander verglichen werden dürfen, enorm umstritten, was eine sachliche und wissenschaftliche Beschäftigung lange erschwert hat. Sabine Schiffer und Constantin Wagner möchten durch ihre Forschungsergebnisse und ihr Buch „Antisemitismus und Islamophobie. Ein Vergleich“ eine Grundlage für eine neue, aufgeschlossene Diskussion schaffen.



In den letzten Jahren werden immer wieder neue und letztlich doch die gleichen Debatten über Antisemitismus geführt, den es immer noch gibt – wenn auch nicht unbedingt überall dort, wo er vermutet oder behauptet wird, und stattdessen an vielen Orten, an denen er nicht entlarvt wird. Wir gehen im Folgenden verstärkt auf die Unsicherheiten in den Debatten ein und versuchen uns so erneut der Aufgabe zu nähern, wie Antisemitismus effektiv bekämpft werden kann und muss und ob und wie Erkenntnisse aus der Antisemitismusforschung als Vorurteilsforschung für andere diskriminierende Diskurse nutzbar gemacht werden können.

Als Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung (ZfA), 2008 zu einer Konferenz mit dem Titel »Feindbild Jude – Feindbild Muslim« einlud, schlugen die Wellen hoch. Das Vergleichen von antisemitischem und antimuslimischem Ressentiment galt einigen Aktivisten rund um den Polemiker Henryk M. Broder bereits als Verharmlosung von Antisemitismus und Relativierung des Holocaust.

Eine Person aus Broders Fangemeinde, Jan-Philipp Hein, interviewte 2011 für den Kölner Stadtanzeiger die Nachfolgerin von Wolfgang Benz, Stefanie Schüler-Springorum. Um hier nur verkürzt auf die aufgeregte bis unsäglich zuspitzende Debatte einzugehen, die sogar dem renommierten Antisemitismusforscher Benz Antisemitismus unterstellte, sei an dieser Stelle auf einige erhellende Äußerungen im Interview hingewiesen.

Zunächst einmal heißt es im Teasertext zum Interview suggestiv: »Ihr Vorgänger sorgte für Aufsehen, weil er Israel-Hass mit Islamfeindlichkeit verglich.« Das tat Benz nicht, denn es ging um Antisemitismus allgemein und nicht um »Israel-Hass«. Dies mag eine kleine Ungenauigkeit sein, die – wie wir noch sehen werden – jedoch eine ganze Debattenentwicklung beeinflusst und System hat. Prof. Springorum antwortet auf die Frage nach der Aufgabe des Zentrums und dem Vergleich von Antisemitismus und Islamfeindschaft:

»Man kann Antisemitismus und Islamfeindschaft miteinander vergleichen, weil dann ja auch die Unterschiede deutlich werden. Und ich sehe durchaus Parallelen zwischen der heutigen Situation und der Situation im frühen 19. Jahrhundert, also der Emanzipationszeit. Andere Kollegen sagen, es gäbe diese Parallelen auch im späten 19. Jahrhundert. Dieser Disput ist Grund genug, das historisch zu erforschen, also der Frage nachzugehen, wann welche Gruppen mit welchen Argumenten ausgegrenzt werden.«

Dieses von wissenschaftlichem Interesse geleitete Statement, das sich jeder Zensurforderung entzieht, steht für sich und ist eine Aufforderung, sich ergebnisoffen mit den diversen Epochen zu befassen, um Schlüsse und Lehren aus dem Erkannten zu ziehen. Als Aufgabe des Zentrums betont sie neben der Wissenschaft auch das Wirken in der Öffentlichkeit. Sie verweist dann noch auf das Spezifikum des Antisemitismus, dass das Ressentiment gegen Juden auch stets mit einer Welterklärungsfunktion einhergehe und alles Wirken von Juden auf einen großen Plan zurückführt. Hein lenkt dann das Interview auf Linkspartei und Israelfrage.

Die Kaprizierung der Problematik auf Israel, die sich hier andeutet und in Kombination mit einer verstärkten Kritik an linken Positionen einhergeht, dominiert inzwischen den Antisemitismusdiskurs. Dies wird uns noch eingehender beschäftigen (siehe Kapitel 5.5), denn dies beeinflusst auch die nach wie vor umstrittene Definition von Antisemitismus (siehe unten).

Unsicherheiten in der Rechtsprechung bezüglich antisemitischer Volksverhetzung und einige Endlosdebatten um Antiisraelismus und Judenhass zeugen von dem Bedarf einer klaren Definition, die Orientierung gibt. Eine international anerkannte gibt es bisher nicht, obwohl die Wissenschaft – wie weiter oben angeführt – die Kernpunkte von Antisemitismus klar umreißt.

Die sogenannte »EU-Arbeitsdefinition« des European Monitoring Center on Racism and Xenophobia (EUMC, heute FRA) gelangte 2005 durch einen Leak des Israel-Korrespondenten und Aktivisten Ulrich Sahm an die Öffentlichkeit. Die Kernthesen des Papiers lauten in der nicht autorisierten Übersetzung auf dem Webportal haGalil:

»Antisemitismus ist eine gewisse Vorstellung zu Juden, die als Hass gegen Juden ausgedrückt werden kann.

Rhetorische und physische Ausbrüche von Antisemitismus sind gegen Juden und nicht-jüdische Individuen gerichtet, und/oder gegen ihr Eigentum oder gegen Institutionen jüdischer Gemeinden und religiöse Einrichtungen.

Zusätzlich können solche Ausbrüche auch den Staat Israel zum Ziel haben, wenn er als jüdisches Kollektiv gesehen wird.«

Dass das Papier nicht ausgereift ist, sieht man unter anderem daran, dass etwa die Bezeichnung »Juden als Volk« immer wieder eingemischt wird, was einzelne Aussagen sehr unpräzise macht. Vor allem aber das Einschließen antiisraelischer Äußerungen in die Definition erregt seither immer wieder Anstoß bzw. gibt Anlass für unzählige Debatten.

Vor allem in Bezug auf die Frage nach der Grenze zwischen berechtigter Kritik an der Politik Israels und deren Instrumentalisierung zur Diffamierung des Jüdischen allgemein werden die Unsicherheiten deutlich. Natürlich kann man nicht primär von einem antisemitischen Anliegen ausgehen, wenn jemand etwa die Militärpolitik des Landes Israel kritisiert – so kritisieren beispielsweise große Teile der Friedensbewegung jedwede Militärpolitik eines jeden Landes. Aber die Möglichkeit, dass es sich im Falle Israels um eine Stellvertreterkritik eines verkappten Antisemiten handelt, ist gegeben, liegt zum Teil tatsächlich vor und muss auf jeden Fall überprüft werden.

Was tun, um hier unterscheiden zu können? Als verbindlich galt lange in etwa folgende Regel: Antisemitisch in Bezug auf Kritik an Israel sei

  • wenn das Existenzrecht Israels in Frage gestellt wird
  • wenn Praktiken in Israel mit Praktiken in Nazideutschland verglichen werden
  • wenn Kritik an Israel kollektiv auf »die Juden« übertragen wird.

Bei Punkt drei gibt es nichts zu deuteln, weshalb entgegen der gerichtlichen Entscheidung im Fall des Angriffs mit Molotowcocktails auf die Synagoge in Wuppertal während des Gaza-Krieges 2014 dies natürlich als antisemitischer Akt zu bewerten ist. Denn hier wird die Synagoge – als Symbol für das Judentum – in Haftung genommen für die Politik Israels. Das stellt eine Verallgemeinerung dar, die diese Politik als »jüdisch« identifiziert. Auch wenn die jungen Palästinenser mit der Tat auf die Völkerrechtsverletzungen im Gaza-Streifen aufmerksam machen wollten, sie haben nicht die israelische Botschaft als Ziel ausgewählt, sondern eine Synagoge. Das impliziert, dass »die Juden« als Verantwortliche gemeint waren und das ist Antisemitismus.

Punkt eins und zwei sind hingegen mehrfach erklärungsbedürftig.

Zu Punkt eins: Wenn etwa Kritik an der Staatsgründung Israels mitsamt der Vertreibung vieler Palästinenser geübt wird, dann liegt hier ein anderer Sachverhalt vor, als wenn man einem Land das Existenzrecht abspricht, weil es von Juden bewohnt wird. Erst bei Letzterem träfe eindeutig Antisemitismus zu. Die Thematisierung der Gründungsgeschichte des Staates und des mit ihm verbundenen Unrechts muss nicht zwingend gegen »den jüdischen Staat« gerichtet sein, weil er als solcher definiert ist. Solange man die gleichen Maßstäbe an alle Staaten anlegt, ohne Unterschied, ob es sich um Juden oder Nichtjuden handelt, dann ist daran auch nichts Antisemitisches. Alexander Pollak hat ausgehend von der EUMC-Arbeitsdefinition ein brauchbares Instrumentarium entwickelt, Antisemitismus zu bestimmen. Dabei geht es immer um Kritik am Juden als »Juden«. Er lehnt eine Eins-zu-Eins-Relation zwischen Kritik an israelischer Politik und Antisemitismus ebenso vehement ab, wie Henryk Broder sie befürwortet.

Akzeptierten wir die Argumentation des Letzteren, dann wäre Israel der einzige Staat auf der Welt, dessen Politik vor jeder Kritik gefeit wäre. Und das käme einer Sonderstellung gleich, wäre also genau der doppelte Maßstab, den ein Natan Sharansky vorgeblich kritisiert – denn er kritisiert einen Doppelstandard nur, wenn er Israel zum Nachteil gereicht, nicht wenn das Messen mit zweierlei Maß Gleichberechtigung verhindert.

In der Tat ist ein Infragestellen des Existenzrechts Israels abzulehnen, bei allem Unrecht, das bei seiner späten Gründung geschah. Zeitgemäß und konstruktiv wäre es, die gegenseitige Anerkennung eines Existenzrechts für Israel und Palästina vorauszusetzen und davon ausgehend die Möglichkeiten eines friedlichen Zusammenlebens aller Menschen vor Ort zu stärken. Um einen nichtinstrumentellen Gebrauch des Begriffs Antisemitismus zu fördern, gilt es also zu klären, welcher Sachverhalt tatsächlich vorliegt.

Wer Sharanskys »drei Ds« kennt, die er weitestgehend undefiniert in die Debatte zur Bestimmung von Antisemitismus einwirft, erkennt sie als zugrundeliegender Teil der EU-Arbeitsdefinition. Dem Politiker ist es weitestgehend gelungen, die Begriffe »Dämonisierung«, »Doppelstandards« und »Delegitimierung« Israels als sogenannten »3D-Test für Antisemitismus« einzuführen. Unter »Dämonisierung« führt er vor allem Beispiele von Vergleichen israelischer Regierungs- oder Militärpraxis mit Nazimethoden an. Als Doppelstandard gilt jede Kritik an israelischer Politik, die nicht im gleichen Atemzug auch andere Länder erwähnt – ungeachtet dessen, ob Kritiker dies in anderem Kontext eventuell tun. Der Begriff der »Delegitimierung« spielt wiederum auf eine Infragestellung des »Existenzrechts« für Israel an und kann sehr weit gefasst werden, wie wir noch sehen werden.

Sharansky selbst wird wiederum nicht von ungefähr vorgeworfen, dass er seine berechtigte Kritik an Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine nicht für vergleichbare Erfahrungen von Palästinensern gelten lässt, sondern diesen im Gegenteil ihre Unrechtserfahrungen schlichtweg abspricht und deren Benennung als einseitige Kritik an Israel – und somit als Antisemitismus – wertet. Insofern wäre zu prüfen, ob der doppelte Standard eventuell genau dort zu finden ist, wo Sharansky ihn gerade nicht sucht.

Die aktuellen Definitionen reichen nicht nur nicht aus, um Antisemitismus festzumachen, sie stiften eher noch zusätzlich Verwirrung und sie erweisen der Antisemitismusforschung einen Bärendienst. Während das Plädoyer, in Zeiten der Tabuisierung von Antisemitismus verdeckte Chiffren und Codes ausfindig zu machen, die sich hinter Kritik an israelischer Politik verstecken könnten, mehr als berechtigt ist, zeugt das Faktum, dass Gutachten des ZfA bei Debatten um möglicherweise antisemitische Lehrende an Hochschulen für Klärung sorgen müssen, davon, dass mehr Unsicherheit und Unverständnis herrschen als je zuvor.

Sabine Schiffer, Constantin Wagner: „Antisemitismus und Islamophobie. Ein Vergleich“, 416 Seiten, Westend Verlag, 1.11.2021

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