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Der Niedergang der Linkspartei und die Sehnsucht der Vielen

Published On: 21. November 2021 11:45

Die Linkspartei ist bei der Bundestagswahl krachend gescheitert und muss um ihr Überleben bangen. Damit sind alle Voraussagen insbesondere linker Kritiker eingetroffen, dass die Linkspartei scheitern werde, wenn sie die sogenannte „Identitätspolitik“ (Gendern, politische Korrektheit, Antirassismus, feministische Themen) weiterhin so betone. Eine neue „Klassenpolitik“ sei nötig, heißt es von linken Kritikern oft. In dieser Sichtweise steckt ein Denkfehler, meint unser Autor Udo Brandes.



Der Niedergang der Linkspartei wird von ihren (linken) Kritikern häufig damit begründet, dass sie sich viel zu sehr der Identitätspolitik widme, ein Thema, das vor allem einem urbanen akademischen Milieu wichtig sei, aber nicht den klassischen Wählerzielgruppen der Linken. Diese Identitätspolitik führe u. a. zu der absurden Logik, dass ein schwarzer Arzt sich aufgrund seiner Hautfarbe als gesellschaftlich Benachteiligter sehen könne, ein weißer Arbeiter in der deutschen Fleischindustrie aber aufgrund seiner Hautfarbe als Privilegierter anzusehen wäre. So müsse man sich nicht wundern, wenn die traditionelle Wählerschaft sich von der Linkspartei abwende. Krankenschwestern, Postboten, Bauarbeiter usw. hätten andere Sorgen als die politische Korrektheit.

Linke Kritiker dieser Entwicklung haben deshalb immer wieder gefordert, dass die politische Kategorie der „sozialen Klasse“ Maßstab linker Politik sein müsse und eine neue, sogenannte „Klassenpolitik“ (= Durchsetzung der Interessen einer Klasse) notwendig sei. Das würde konkret bedeuten, dass die Linkspartei wieder primär für eine materielle Umverteilungspolitik von oben nach unten steht und die Interessen der unteren, benachteiligten Klassen der Bevölkerung vertritt.

Der Denkfehler dabei

Auch wenn diese Diagnose im Grundsatz stimmt, steckt in dieser Sichtweise doch ein Denkfehler: Identitätspolitik ist bereits „Klassenpolitik“. Nur eben nicht für die unteren Klassen. Sondern für eine ambitionierte, akademisch gebildete Schicht, die sich von denen „da unten“ abgrenzt und mit Identitätspolitik Klassenkampf von oben betreibt. Und es sieht so aus, als ob sich in der Linkspartei diese Fraktion durchgesetzt hat und auch zukünftig den Kurs bestimmen wird. Was sich unter anderem daran erkennen lässt, dass die wichtigste Repräsentantin einer wirklichen linken Politik in der Linkspartei, Sahra Wagenknecht, nach wie vor massiv angegriffen wird. Wie die taz kürzlich berichtete (siehe hier), überlegt die Gruppe in der NRW-Linkspartei, die vergeblich versucht hat, Wagenknecht aus der Partei auszuschließen, einen Gang vor die Bundesschiedskommission der Partei, um ihr Ziel doch noch zu erreichen. Und inzwischen wird Sahra Wagenknecht sogar allen Ernstes nahegelegt, die Linkspartei zu verlassen und der AfD beizutreten (siehe dazu den Bericht des Spiegels hier), nur weil sie es gewagt hat, die Unlogiken der Coronapolitik öffentlich zu benennen (zum Beispiel, dass Geimpfte genauso die Infektion weitergeben können wie Ungeimpfte).

Eine echte Kursänderung der Linkspartei ist nicht zu erwarten

Wie es derzeit aussieht, wird es in der Linkspartei keine wirkliche Diskussion und Analyse über die Ursachen der krachenden Wahlniederlage geben. Und dann auch keine wirkliche Neupositionierung und Kursänderung. Mit anderen Worten: Die Linkspartei hat im Grunde mehrheitlich die Entscheidung getroffen, dass sie nicht oder bestenfalls nur nebenbei die Interessen der „Normalo-Arbeitnehmer“ vertreten will. Das heißt: Nicht das Arbeitermilieu und kleinbürgerliche Schichten, die einen eher traditionellen Lebensstil pflegen, sind ihre Hauptzielgruppe, sondern eine gut qualifizierte, urbane Akademikerschicht. Dementsprechend ist Identitätspolitik auch keine linke Politik, sondern eine Politik für die Interessen einer privilegierten Akademikerschicht. Die profitiert einerseits wirtschaftlich davon. Andererseits erhöht sie ihren eigenen sozialen Status, indem sie ihren Sprachcode und ihre Moral politischer Korrektheit zum einzig legitimen moralischen Maßstab erklärt. Was konkret bedeutet, dass die Kultur anderer sozialer Schichten herabgesetzt, abgewertet und teilweise sogar aggressiv bekämpft wird.

Das Gendern ist so etwas wie ein Ausweis der „richtigen“ Gesinnung

Wenn man Identitätspolitik mit dem alten Zunftwesen der Handwerker vergleicht, wird der ökonomische Aspekt sehr schön deutlich. Bei Wikipedia wird das Zunftwesen u. a. wie folgt beschrieben:

„Das Leben des einzelnen Gruppenmitgliedes wurde von der Zunft entscheidend bestimmt. Nur in dieser Einbindung konnte der Zunfthandwerker seiner Arbeit nachgehen. Die Gemeinschaft der Amtsmeister regelte die Arbeit und Betriebsführung des Einzelnen, die Qualität seiner Produkte, kontrollierte seine sittliche Lebensführung, sicherte ihn in individuellen Notfällen und betete für das Seelenheil ihrer verstorbenen Mitglieder.“

Auf diese Weise waren die Zunftangehörigen wirtschaftlich abgesichert und vor Konkurrenz geschützt. Aber kann man das wirklich mit der gegenwärtigen Identitätspolitik vergleichen? Ich glaube schon. Jemand wie ich könnte nicht mehr so ohne Weiteres für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk arbeiten. Also jemand, der darauf besteht, seine Texte in korrektem Deutsch zu schreiben, und sich u. a. weigert, das Partizip Präsens als geschlechtsneutrale Bezeichnung zu verwenden, weil dies sprachlogisch falsch ist (kurze Erläuterung dazu: Ein Fahrradfahrer kann bei einem Unfall ums Leben kommen; aber man kann kein toter Fahrradfahrender sein, weil Tote nach bisherigem Erkenntnisstand nicht mehr Fahrrad fahren können).

Auch bei vielen anderen Institutionen hat sich der Trend zur politischen Korrektheit durchgesetzt, und von Mitarbeitern wird erwartet, sich sprachlich daran anzupassen. Eine kleine Anekdote dazu: Ich habe mal ein Interview mit einem Repräsentanten einer Stadtverwaltung geführt und den Text zur Freigabe an die Pressestelle geschickt. Ich bekam das vorher ungegenderte Interview komplett gegendert zurück. Ich habe es dann natürlich wieder entgendert. So etwas ist kein Einzelfall. Immer mehr Städte führen jetzt sogar gegenderte Verkehrsschilder ein (ein neueres Beispiel siehe hier).

Darüber hinaus ist Politische Korrektheit auch ein lukratives Geschäftsmodell. Konzerne veranstalten z. B. Antirassismusseminare oder sie beauftragen Coaches mit Trainings für sensible Sprache. Vereine wie „Decolonize Berlin“ werden vom Berliner Senat mit Millionenbeträgen finanziert.

Politisch korrekte Akademiker bestimmen bereits, was gesellschaftlich legitim ist und was nicht

Man kann deshalb inzwischen sagen: Das Milieu der politisch korrekten Akademiker bestimmt sehr weitgehend, was in unserer Gesellschaft legitim ist und was nicht. Oder politologisch gesprochen: Sie haben bereits die kulturelle Hegemonie (Vorherrschaft) erobert oder sind zumindest kurz davor. Um dies mal an einem Beispiel zu demonstrieren: Svenja Flaßpöhler, die ein kritisches Buch über die zunehmende Sensibilität in unserer Gesellschaft geschrieben hat (siehe dazu meine Rezension auf den NachDenkSeiten hier), kritisiert in ihrem Buch, dass das Wort „Neger“ nicht einmal in einem kritisierenden Kontext mehr gebraucht werden dürfe – und spricht selber immer nur vom „N-Wort“ – in ihrem Buch und ihren Interviews dazu. Diese gesellschaftliche Praxis ist letztlich die Abkehr von der Aufklärung und die Hinwendung zum magischen Denken. So als wenn ein Wort an sich das Böse in sich tragen könnte. Auch gläubige Katholiken verhielten sich früher so. Der fromme Katholik wagte es nicht, das Wort „Teufel“ auszusprechen, aus Angst davor, ihn damit herbeizuholen. Deshalb sprach man vom „Gott-sei-bei-uns“.

Gendertheorien infrage zu stellen – das kann gefährlich werden

Wer die Theorien der Genderideologen nicht teilt und nicht willens ist, sich diesen sprachlich, in der wissenschaftlichen Arbeit oder im Unternehmensmanagement zu unterwerfen, dem sind im besten Fall Wege für eine Karriere als Akademiker versperrt. Im schlimmsten Fall aber muss so jemand mit gewalttätigem Mobbing rechnen. So erging es kürzlich der britischen Philosophieprofessorin Kathleen Stock, die an einer Universität in der Nähe von Brighton lehrte. Sie ist selbst lesbisch und seit langem in der LGBT-Community aktiv (LGBT = die inzwischen auch in Deutschland verbreitete Abkürzung für Lesbians, Gays, Bisexuals und Transgender). Politisch ordnet sie sich links ein. Nachdem ihr Buch „Material Girls. Why Reality Matters for Feminism“ erschienen war, begann ihr Martyrium. Darin vertrat sie ähnliche Ansichten wie die Schriftstellerin J. K. Rowling (Autorin der Harry-Potter-Romane), die im vergangenen Jahr dafür ebenfalls massive Anfeindungen zu ertragen hatte. Stock kommt in ihrem Buch zu dem Schluss, dass zwar die selbstgewählte Gender-Identität eines Menschen respektiert werden solle. Jedoch lasse sich das biologische Geschlecht von Männern und Frauen nicht ändern (siehe dazu den Bericht der NZZ hier). In einem BBC-Interview (siehe hier) berichtete sie, dass sie auf dem Weg zur Arbeit immer wieder von einem wütenden Mob beschimpft und bedroht wurde. Die Wände eines Fußgängertunnels, den sie auf dem Weg zu ihrem Büro durchqueren musste, waren vollgeklebt mit Hetzplakaten gegen sie. Ebenso die Wände der Toiletten im Uni-Gebäude. Und natürlich wurde im Internet gegen sie gehetzt. Nach dem Bericht der NZZ bekam Stock von der Universität keine bzw. so gut wie keine Unterstützung. Sie war schließlich mit den Nerven am Ende und gab auf. Wahrscheinlich ist es in Deutschland noch nicht ganz so schlimm. Aber weit davon entfernt sind wir auch nicht. Nicht ohne Grund haben Wissenschaftler jetzt ein Netzwerk für Wissenschaftsfreiheit gegründet (www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de).

Warum waren identitätspolitische Ideologien so erfolgreich?

Man fragt sich: Wieso konnten sich die Verfechter Politischer Korrektheit bzw. der Identitätspolitik in der Gesellschaft so weitgehend durchsetzen, dass schon fast jede Pommesbude gendert? Ich glaube, es gibt dafür zwei Gründe:

Identitätspolitik, Genderideologie, Politische Korrektheit – das alles ist an den Elite-Universitäten der USA entstanden. Es war dort also von Anfang an eine Ideologie des herrschenden Establishments. Denn das Establishment dort speist sich zu einem großen Teil aus den Absolventen der US-Elite-Universitäten. Von dort aus wanderte es an die europäischen Universitäten und von dort aus in die Institutionen der Gesellschaft, also Verwaltungen, Medien, Unternehmen usw. Und auch hier ist es eine Ideologie des Establishments. Und wie Marx und Engels in „Die Deutsche Ideologie“ so schön formuliert haben:

„Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, das heißt die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.“

Hierbei ist zum Verständnis ein Begriff der US-amerikanischen Soziologen Barbara und John Ehrenreich nützlich. Sie prägten in den 70er Jahren den Begriff der Professionellen Mittelklasse (im englischen Original: professional-managerial class, kurz: PMC). Dieser besagt einfach formuliert, dass es eine akademisch gebildete Mittelklasse gibt, die die Normen und Werte – und vor allem: Interessen – der herrschenden Klasse im Alltag umsetzt, seien es nun Journalisten, Lehrer, Ärzte, Manager, Juristen usw. Diese Klasse profitiert durch Privilegien (hohes Einkommen, Macht, Ansehen) davon, sich mit der Ideologie der herrschenden Klasse zu identifizieren und diese zu vertreten.

Zum anderen sind identitätspolitische Ideologien geradezu ideal für die neoliberale Machtelite. Denn so können die durch soziale Ungleichheit bedingten Konflikte quasi stillgelegt werden. Denn Gerechtigkeit ist dann ein Problem von „Diversität“, und nicht ein Problem der Benachteiligung sozialer Klassen und der falschen Verteilung. Was natürlich hochgradig verlogen ist. Denn für einen Fahrer von Amazon ändert sich nichts an den Arbeitsbedingungen und Löhnen, wenn der Vorstand des Konzerns diverser wird. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass ausgerechnet die reaktionäre, neoliberale Hillary Clinton ein Anhänger politischer Korrektheit ist.

Es gibt eine Sehnsucht nach echter sozialdemokratischer Politik

Ich bin überzeugt, es gibt in der Bevölkerung eine große Sehnsucht nach einer wahrhaft sozialdemokratischen Politik. Also einer Politik, die den Kapitalismus nicht abschafft, aber ihn im Interesse der Gemeinschaft wirkungsvoll reguliert. Und wichtige Bereiche der Gesellschaft einer kapitalistischen Profitorientierung entzieht. Wie zum Beispiel das Gesundheitswesen, das Bildungswesen, die Energieversorgung, die Müllentsorgung und anderes mehr. Auf die SPD, die Grünen und die Linkspartei kann man dabei nach meiner Einschätzung aber nicht mehr zählen. Wann immer sie in letzten Jahren an der Macht waren, haben sie neoliberale Politik gemacht oder unterstützt. Deshalb glaube ich, dass nicht nur die Linkspartei, sondern auch Grüne und SPD sich schon bald in einer Krise wiederfinden könnten. Von den verbesserten Wahlergebnissen der beiden Parteien sollte man sich nicht täuschen lassen. Denn nach dem, was bisher bekannt ist aus den Koalitionsverhandlungen für eine Ampel-Regierung, wird es im Kern ein „Weiter-so“ mit der neoliberalen Politik der letzten Jahre geben.

Was also tun? Braucht unser Land eine neue, wirklich linke Partei? Und wäre das die Lösung? Vielleicht. Aber es könnte auch sein, dass eine neue linke Partei nach wenigen Jahren wieder von angepassten Funktionären beherrscht wird und keine Alternative mehr darstellt. Der deutsch-italienische Soziologe Robert Michels nannte so eine Entwicklung schon 1907 das „Eherne Gesetz der Oligarchie“. Es besagt, dass Großgruppen wie Parteien aus Effizienzgründen eine Bürokratie aufbauen, deren Spitze sich zu einer oligarchischen Machtelite entwickelt, die eigene Interessen verfolgt, statt die ihrer Basis. Ich bleibe trotzdem Optimist. Denn wie der Fall der Mauer zeigte: Die Geschichte hält immer wieder Überraschungen bereit.

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