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„Die Amerikaner waren äußerst brutal“ – mit Dr. Michael Lüders

Published On: 25. März 2022 11:57

Milena Preradovic: Was wissen wir eigentlich noch von dem Krieg in Afghanistan, außer dass er nach 20 Jahren desaströs endete und die Taliban wieder an der Macht sind? Momentan ist Afghanistan eh weit weg. Wir schauen gebannt in die Ukraine. Aber beide Kriege haben auch einiges gemeinsam. Zum Beispiel zynische Aggressoren, die kaltherzig Abertausende Opfer einpreisen. Und auch wenn wir hier im Westen dazu neigen, zwischen guten und bösen Kriegen zu unterscheiden, es geht immer nur um Macht und nie um die Menschen. Das zeigt das neue Buch meines Gastes ganz deutlich. Der Krieg in Afghanistan strotzt vor Verbrechen gegen die Menschlichkeit und wurde außerdem auch noch arrogant und dumm geführt. Zur Verantwortung gezogen wurde und wird wohl keiner. Darüber reden wir jetzt in Punkt Preradovic. Hallo, Dr. Michael Lüders.

Dr. Michael Lüders: Hallöchen! Hallo! Alles Gute nach Österreich, nach Deutschland. Wo immer wir unsere Zuschauer und Zuschauerinnen haben.

Milena Preradovic: Sehr gerne. Ich stelle Sie kurz vor. Die meisten kennen Sie aus vielen Sendungen als Nahostexperte. Sie sind Politologe, Islamwissenschaftler und Politikberater, haben arabische Literatur in Damaskus studiert, Politik, Islamwissenschaften und Publizistik in Berlin. Sie sind Präsident der deutsch arabischen Gesellschaft. In Nachfolge von Peter Scholl Latour haben unter anderem das Auswärtige Amt beraten, waren als Nahost Korrespondent für die ZEIT tätig und sind Autor von zahlreichen Büchern. Ihr neues Buch heißt Hybris am Hindukusch – Wie der Westen in Afghanistan scheiterte. Wie ich finde, ein Buch ohne ideologische Brille, aber ein Buch, das mich auch ziemlich schockiert hat. Ich habe übrigens später noch ein paar Fragen zu den Folgen des der des russischen Krieges gegen die Ukraine. Da haben Sie sich in einem Video geäußert, also das später, aber jetzt zuerst zu Afghanistan. Also 20 Jahre lang führte die NATO unter US Führung Krieg in Afghanistan mit unzähligen Opfern und Billionen Kosten. Was hat dieser Krieg am Ende gebracht?

Dr. Michael Lüders: Ja, die Frage ist sehr berechtigt. Und wenn man sie offen und ehrlich beantwortete, lautet die Antwort kurz und bündig Im Grunde genommen für die kriegsführenden Staaten Nichts außer Spesen nichts gewesen. Und für die Afghanen selber war das natürlich eine Katastrophe, denn dieser 20-jährige Krieg hat das Land doch erheblich zerstört und verwüstet, hat zehntausenden Zivilisten den Tod gebracht und am Ende sind die Taliban, das ist die böse Ironie, die man ursprünglich 2001 von der Macht vertreiben konnte, zurückgekehrt nach Kabul. Sie haben jetzt wieder seit dem 15. August letzten Jahres die Macht inne. Das ist natürlich eine dramatische Entwicklung gewesen, und ein eklatantes Scheitern war dieses des 20-jährigen NATO Engagements. Das war der letzte, längste Militäreinsatz der USA aller Zeiten, länger noch als der Krieg in Vietnam. Und am Ende dann die Blamage, wenn man so will, weil zum Zweiten Mal die USA sich Sandalen-Kriegern geschlagen geben mussten nach der Niederlage in Vietnam 1975. Nun also die Niederlage gegenüber den Taliban. Das ist schon ein Phänomen, dass dermaßen schlicht gestrickte Menschen, vielfach ja auch Analphabeten, es geschafft haben, quasi wirklich in Sandalen und mit Kalaschnikows eine Weltmacht zu besiegen.

Milena Preradovic: Darauf komme ich später auch noch mal, aber ich habe mich immer gefragt, was ist eigentlich das Ziel dieses Einsatzes? Gab es da irgendeine Strategie, wo man hin wollte?

Dr. Michael Lüders: Dieser Krieg in Afghanistan war die unmittelbare Reaktion auf die Terroranschläge des 11. September 2001. Osama Bin Laden war damals Gast der Taliban in Afghanistan und dies lieferte den USA dann die Rechtfertigung dafür, in Afghanistan militärisch zu intervenieren. Obwohl 15 der 19 Attentäter aus Saudiarabien kamen. Obwohl diese Anschläge in den USA maßgeblich in Hamburg vorbereitet worden waren. Aber man kann natürlich schlecht Hamburg oder Saudiarabien, enge Verbündete mit anderen Worten bombardieren. Das geht nicht. Dann hat man sich entschieden für Afghanistan. In den Worten des späteren US Präsidenten Donald Trump ein shithole-Country und innerhalb der US Führung gab es dann auch Diskussionen, weil eigentlich wollten die sogenannten Neocons, die Neokonservativen, die damals politisch das Sagen hatten, in der Regentschaft von George W. Bush eigentlich am liebsten den Irak angreifen, ein Land, für das sie schon seit langem in einem Regime-Change vorbereitet hatten. Nur hatte der Irak mit 9/11 beim besten Willen nichts zu tun, auch wenn die CIA später viel Energie und Zeit darauf verwendet hat, genau diesen Nachweis zu führen. Ohne Erfolg. Man hat sich dann also, wenn man so will, aus dramaturgischen Gründen entschieden, in Afghanistan zu intervenieren und dann erst zwei Jahre später, 2003, im Irak. Das Ziel war im Wesentlichen erst einmal Rache für diese Terroranschläge. Und zweitens wollte man ein als unappetitlich geltendes Regime, das der Taliban nämlich, beseitigen. Weder die Amerikaner noch die NATO Verbündeten der USA, darunter Deutschland, hatten aber einen Plan für die Zeit danach. Wie sollte es eigentlich weitergehen in Afghanistan? Man hat dann versucht, demokratische Strukturen zu schaffen. Der eine oder andere Mag sich noch erinnern, dass es unmittelbar nach dem Sturz der Taliban eine große, international beachtete Konferenz gab auf dem Petersberg bei Bonn, wo unter der Ägide der Vereinten Nationen eine politische Neuordnung aus der Taufe gehoben wurde, unter Führung des charismatischen Präsidenten Hamid Karsai bzw Präsident wurde er dann erst später. Aber er war der Interimspräsident und es sollte also gewissermaßen hier eine neue Ordnung erstellt werden. Der Denkfehler war nur, dass man die mächtigste Formation in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht, die Taliban nämlich, von den Verhandlungen über die Zukunft Afghanistans ausgeschlossen hat. Nun kann man sagen Gut, das war ja einerseits berechtigt, das waren ja auch unangenehme Zeitgenossen, und sie haben Osama bin Laden beherbergt. Man kann es verstehen, dass zunächst der Impuls war, die nicht. Andererseits, wenn man die Verhältnisse nüchtern betrachtet hätte in Afghanistan, hätte man wissen müssen, dass die Taliban so mächtig sind, dass man sie nicht einfach ignorieren kann. Das hat man aber getan, obwohl die Taliban signalisiert haben, dass sie bereit sind, an dieser politischen Neuordnung mitzuwirken. Donald Rumsfeld allerdings, der damalige Verteidigungsminister, gab damals zu Protokoll: Wir sind nicht interessiert an Kapitulation und Verhandlungen. Und in völliger Fehleinschätzung der gegebenen Verhältnisse erklärte dann George W. Bush, der US Präsident im Mai 2003: Wir haben die Taliban vernichtet. Von wegen, hat man keineswegs. Die Taliban haben sich dann neu formiert. Es ist dies ein schönes Beispiel dafür, was passiert, wenn man nicht zuletzt aus Überheblichkeit gegebene Verhältnisse in einem Land völlig falsch einschätzt und dann überrollt wird von dem, was dann losgetreten wird und wie die Reaktionen dann ausfallen.

Milena Preradovic: Sie schreiben, die NATO, also vorwiegend die US Armee, sei äußerst brutal vorgegangen. Was heißt das genau?

Dr. Michael Lüders: Wenn man nun ein Land wie Afghanistan unter seine Kontrolle bringen will, wie macht man das? Zunächst einmal hat man also ein eine Regierung eingerichtet. Man könnte auch sagen ein Regime, das zunächst einmal wenig Legitimität hatte. Man hat vor allem, das muss man vorwegschicken Afghanistan ist ja kein Land wie Deutschland oder ein europäisches Land. Es ist ein Land, in dem religiöse und ethnische Gruppen vor allem eine ganz wesentliche, entscheidende Rolle spielen. Die größte ethnische Gruppierung in Afghanistan, das sind die Paschtunen. Die leben sowohl in Afghanistan wie auch in Pakistan. Die koloniale Grenzziehung hat sie auf zwei Länder verteilt die koloniale Grenzziehung, die sie damals, im 19. Jahrhundert, von Großbritannien vorgenommen wurde. Und die Paschtunen sind eigentlich traditionell diejenigen, die die Herrscher und Machtelite stellen in Afghanistan. Hamid Karsai war zwar ein Paschtune, aber er hatte unter den paschtunischen Stämmen, die von großem Einfluss sind, relativ wenig Rückhalt. Es waren vor allem königstreue Paschtunen. Die Monarchie in Afghanistan ist allerdings schon 1973 gestürzt worden, und es war die ethnische Minderheit der Tadschiken, die im Norden Afghanistans beheimatet sind, die maßgeblich das Rückgrat der neuen politischen Ordnung gebildet haben, während also die große Mehrheit der Paschtunen also keine Rolle spielte. Und wenn man nun also eine solche schwache Regierung an die Macht bringt, muss man natürlich zusätzlich versuchen, die Macht zu festigen. Das haben die Amerikaner getan, indem sie die CIA, die CIA hineingebracht haben nach Afghanistan. Die CIA hat dort quasi als ein Staat im Staat agiert, hat eigene Machtstrukturen aufgebaut mithilfe von Warlords, Kriegsfürsten, mithilfe von Drogenhändlern, mithilfe von Straßenräuber, kann man sagen, mit lokalen kriminellen Größen, die dann gewissermaßen im Sold der CIA standen und in Zusammenarbeit mit den Amerikanern dann die Taliban versucht haben zu bekämpfen mit der allergrößten Brutalität. Es reichte, dass jemand behauptete, der Herr X oder Y habe Kontakt mit den Taliban, und dann haben die Amerikaner ihn verhaftet oder verhaften lassen. Er wurde dann die betreffende Person ins Gefängnis geworfen, teilweise nach Guantanamo geschickt. Und das alles war natürlich sehr brutal, sehr unangenehm. Und die Amerikaner sind dazu übergegangen, mithilfe ihrer afghanischen Verbündeten, also dieser Fraktion aus extremen Gewalttätern und Dealern, muss man sagen Drogenhändler vielfach. Afghanistan ist der weltweit wichtigste Markt für den Opiumanbau. Und diese, diese Warlords, sind vielfach eben auch Drogenhändler. Und der Deal war mit den Amerikanern: “Wir helfen euch, die Taliban zu bekämpfen und im Gegenzug können wir aber unsere Drogen außer Landes bringen, in Richtung Pakistan oder nach Tadschikistan oder anderswohin. Und ihr behindert unsere kriminellen Aktivitäten nicht.” Das war also eine ganz, ganz böse Allianz, kann man sagen, die für die breite Bevölkerung in Afghanistan eigentlich nichts gebracht hat?

Milena Preradovic: Ja, ja. Wenn Sie sagen, wenn sie sagen Drogen. Es ist ja auch so, dass 2010, also sagen wir mal, 2020, doppelt so viel Opium hergestellt wurde in Afghanistan wie 2010. Also quasi haben die Amerikaner ja dabei zugeguckt, wie die Afghanen oder besser gesagt ihre verbündeten Warlords dort 80 % des Bedarfs an Heroin des weltweiten Heroins hergestellt haben, obwohl sie auf der anderen Seite 9 Milliarden, das habe ich alles aus Ihrem Buch, 9 Milliarden $ ausgegeben haben, um den Drogenanbau dort zu bekämpfen? Das hört sich doch völlig absurd an!

Dr. Michael Lüders: Ja, das ist doch absurd. Und die Amerikaner wussten das natürlich auch. Sie haben es aber akzeptiert. Also wenn ich sage, die Amerikaner, um es mal konkret, sagen die CIA und letztendlich das Weiße Haus, die breite Bevölkerung in den westlichen Ländern, die Öffentlichkeit in den USA beispielsweise hat von diesen ganzen Machenschaften wenig erfahren. Die offizielle Linie der Regierung Bush und später auch der Regierung Obama war eigentlich immer, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen, ihnen zu vermitteln, Alles wird gut, wir haben die Dinge unter Kontrolle, noch ein bisschen müssen wir Krieg führen. Und dann, am Ende werden die Guten siegen und die Taliban haben keine Chance mehr, an die Macht zu kommen. Und man hat sich da möglicherweise auch selber in Gewissheiten gewiegt, die gar nicht gegeben waren. Die unglaubliche Brutalität der Kriegsführung der NATO, insbesondere der Amerikaner, muss man sagen, wie zum Beispiel nächtliche Überfälle auf Dörfer veranstaltet haben, die viel mit Drohnen operiert haben, die auf Verdacht hin die Männer ganzer Dörfer verhaftet haben als angebliche Taliban Unterstützer. Das alles hat dazu geführt, die vielen Toten unter den Zivilisten auch dass sich die Überlebenden natürlich mit dem Wunsch, sich zu rächen, dem Widerstand angeschlossen haben gegen diese US geführte Besatzung in Afghanistan. Und der Widerstand wiederum wurde angeführt von den Taliban. Und die Taliban sind wirklich ein Phänomen. Wir alle haben von denen gehört, das sind wirklich sehr rückwärtsgewandte, vermeintliche Gotteskrieger mit einem wirklich äußerst konservativen, um nicht zu sagen reaktionären Weltbild. Aber eins muss man ihnen lassen Sie können, auch wenn sie vielfach kaum lesen und schreiben können, sie sind in der Lage, strategisch zu denken, und sie kennen ihr Land hervorragend. Afghanistan ist ein Land, das sich bestens für den Guerillakampf eignet, weil es so gebirgig ist. Das bedeutet, es gibt unendlich viele Möglichkeiten, sich zurückzuziehen. Und als die Amerikaner die Taliban 2001 von der Macht verdrängt hatten, die hatten die Macht in Afghanistan von 1996 bis 2001. Dann wurden sie vertrieben und sind in den Untergrund gegangen, vielfach nach Pakistan. Es leben in Pakistan ebenfalls sehr, sehr viele Paschtunen. Das ist die zweitgrößte Ethnie dort in Pakistan. Und das bedeutete für die pakistanische Regierung wiederum, dass sie nicht nach Belieben gegen die Taliban vorgehen konnte im eigenem Land, denn dann hätten sie sich die Paschtunen zu ihren Feinden gemacht. Und vielfach war es auch so, dass der pakistanische Geheimdienst eng kooperiert hat mit den Taliban, auch mit Osama bin Laden. Wir erinnern uns, er wurde ja dann, ich glaube, 2011 war es in Abbottabad, in Pakistan, von den Amerikanern zur Strecke gebracht. Das ist eine Garnisonsstadt unweit von Islamabad, der Hauptstadt Pakistans. Und die Pakistaner fanden es nicht sehr erfreulich, dass die Amerikaner den Krieg in Afghanistan auch zunehmend nach Pakistan getragen haben. Und die Solidarität der einfachen Menschen war den Taliban immer gewiss, denn die die Todesraten der Bevölkerung in der Bevölkerung unter den Zivilisten war extrem hoch und dementsprechend auch der Wunsch, Vergeltung zu üben an den Amerikanern und denen, die sie bei diesem Krieg unterstützt haben.

Milena Preradovic: Ja, ich habe gelesen, dass auch Hochzeitsgesellschaften gerne attackiert wurden und zwar andauernd. Das ist nicht einmal passiert und man hat sich entschuldigt und damit war es vorbei. Und dass durch diese Drohnenkrieg halt extrem viele Menschen umgekommen sind, sehr viele Frauen, sehr viele Kinder. Und dann habe ich auch noch gelesen, dass es den Fall dieser australischen Soldaten gab, bei denen Neuankömmlinge als Mutprobe Bauern gejagt und dann erschossen haben. Und da habe ich mich gefragt haben die Bündnissoldaten die Afghanen eigentlich als Menschen gesehen?

Dr. Michael Lüders: Ich glaube, dass jeder Krieg zu einer Verrohung führt, derer, die den Krieg führen. Und ich glaube, dass viele einfache Soldaten doch der Versuchung erlegen sind, sich einmal auszuleben, ihre Machtfantasien vor Ort auszuleben. Und da kam es dann doch zu teilweise äußerst üblen Übergriffen auf die Zivilbevölkerung. Das wiederum machte dann in der islamischen Welt nicht allein in Afghanistan, sondern in der islamischen Welt insgesamt sehr viel Furore und hat zum Hass auf die Besatzer beigetragen. Ich beschreibe auch eine berühmte Szene, wie drei US Soldaten auf getötete Taliban uriniert hatten und das Ergebnis war, dass es also fast zu einem Aufstand kam in Afghanistan aus Empörung darüber in Verbindung auch mit dem Verbrennen von Koran Exemplaren. Das alles trug zu einer starken Emotionalisierung bei. Es ist, glaube ich, ein menschliches Phänomen, dass in Kriegen Menschen verrohen und autoritär gesinnte, einfache Menschen, die auf einmal über sehr viel Macht verfügen. Die können natürlich in einem solchen Krieg, in einem solchen Krieg ihre niederen Instinkte ausleben. Und die Wahrscheinlichkeit, dass sie dafür juristisch zur Rechenschaft gezogen werden, sind sehr, sehr gering. Es gibt nur ganz, ganz wenige westliche Soldaten, die für ihre Übergriffe auf die Zivilbevölkerung juristisch belangt worden sind. Das ist der Erwähnung kaum wert. Und insbesondere die USA haben auch großen Wert darauf gelegt, dass die Gesetze in Afghanistan, aber auch auf internationaler Ebene so neu gefasst werden, dass US Soldaten und generell auch NATO Soldaten nicht zur Rechenschaft gezogen werden können für das, was sie dort gemacht haben in Afghanistan. Die Amerikaner sind so weit gegangen, dass sie, wenn sie zum Beispiel in einer bestimmten Region eine militärische Operation durchgeführt haben, dann waren sie natürlich daran interessiert, die Zahl der zivilen Toten möglichst gering zu halten. Und dieses Ziel hat man dann erreicht, indem man schlichtweg jeden Mann im wehrfähigen Alter zum Terroristen erklärt hat in diesem betreffenden Gebiet. Und wenn man dann 100 Männer im Alter von 14 bis bis 80 umgebracht hat, dann konnte man formal sagen Das waren ja alles Terroristen, kein einziger Zivilist. Aber in Wirklichkeit waren die Getöteten halt Bauern, in erster Linie Subsistenz Bauern, die also von dem leben, was der Boden hergibt. Über diese ganzen Geschichten haben wir in Deutschland, in in westlichen Ländern relativ wenig erfahren. Es ist natürlich auch nachvollziehbar, denn diejenigen, die dafür verantwortlich sind, haben kein Interesse daran, dass das nun groß in die Öffentlichkeit kommt. Aber es gehört zur Wahrheit dazu, dass in jedem Krieg die Menschlichkeit als erstes stirbt. Und es gibt immer eine gewaltige Kluft zwischen der offiziellen Rhetorik, man könnte auch sagen der Kriegspropaganda oder freundlicher formuliert dem Meinungs-Management, wie es über die Medien betrieben wird, um auf diese Art und Weise die Bevölkerung hinter die Regierung zu bringen. Das ist die eine Seite der Medaille, aber die andere Seite ist eben der hohe Blutzoll, den die Bevölkerung in einem Land wie Afghanistan getragen hat. Wir kennen die genaue Zahl der Toten nicht in diesem 20-jährigen Krieg. Das waren aber nicht unter 300.000 Tote. Man könnte jetzt sagen: Na ja, aber da war die NATO doch vergleichsweise human. Denn die sowjetische Besatzung Afghanistans, die von 1979 bis 1989 andauerte, auch dort kennen wir die genauen Zahlen an Toten nicht, aber die Schätzungen reichen von 500000 bis 2 Millionen.

Milena Preradovic: Gab es eigentlich auch deutsche Kriegsverbrechen in Afghanistan?

Dr. Michael Lüders: Ja, gab es durchaus auch. Die Deutschen waren ja Teil einer Kriegskoalition in Afghanistan im Rahmen der internationalen Schutztruppe Englisch, abgekürzt ISAF oder ISAF. Und die Deutschen haben, anders als die USA oder Großbritannien nicht aktiv die Taliban bekämpft im paschtunischen Kernland, was auch zum Teil sehr gefährlich war. Die Amerikaner und die Briten hatten relativ hohen Blutzoll zu beklagen unter ihren eigenen Soldaten. Die Deutschen waren im Norden des Landes vor allem unterwegs in den von ethnischen Minderheiten kontrollierten Regionen, von Usbeken, von Tadschiken und anderen dominiert. Und dort hatten sie die Aufgabe, in zwei Militärlager vor allem die Polizei auszubilden, also Afghanen zu Polizisten auszubilden und auch teilweise eben zu Soldaten. Und es begab sich nun also, dass ich glaube, es war im Jahr 2009, dass damals ein Oberst Oberst Klein einen Angriffsbefehl gegeben hat an die Amerikaner. Es war ein Tanklastwagen entführt worden und der blieb nun in einer Furt stecken. Und da das nun Benzin war, das dieser Tanklastwagen transportierte, kam aus den umliegenden Dörfern sofort die Menschen, um Benzin abzuzapfen für ihre Autos. Und der deutsche OberKommandierende, also besagter Oberst Klein, forderte dann Unterstützung an Luftunterstützung durch die USA und wider besseren Wissens oder bzw auf der Grundlage von völlig falschen Informationen afghanischer Mittelsmänner, die er hätte überprüfen müssen, gab er dann den Angriffsbefehl. Und das Erstaunliche ist Die Amerikaner, die Bomberpiloten, haben noch ausdrücklich gefragt: “Sollen wir die Menschen ins Visier nehmen oder den Tanklastwagen?” Die waren fünfmal über diesen, über diesen LKW geflogen. Und die Antwort der Deutschen lautete, Neinnein, die Menschen sollen ins Visier genommen werden. Es bestehe eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben der deutschen Soldaten, was aber eindeutig eine Falschinformation war. Es sind schätzungsweise um die 100 Menschen ums Leben gekommen, die meisten von ihnen Zivilisten, viele darunter Kinder. Und das Interessante ist, dass diese Geschichte in Kundus eigentlich in der hiesigen Öffentlichkeit nur sehr scheibchenweise dann bekannt wurde. Es wurde viel getan, um das Ganze nicht so in den Vordergrund zu rücken. Am Ende gab es ein bisschen Stühlerücken. Oberst Klein wurde zwar juristisch belangt für diese seine Fehleinschätzung. Das war der höchste Todeszahlen durch einen militärischen Eingriff in der Geschichte der ISAF wie auch der Bundeswehr. Aber es hatte für diesen Oberst Klein keinerlei Konsequenzen. Er wurde von allen, von allen Anklagepunkten freigesprochen. Er war zwar vor Gericht gestellt worden, aber die Verfahren wurden schnell eingestellt. Und er hat dann noch nahtlos weiter Karriere machen können, ist dann zum General befördert worden, ist heute ein maßgeblicher militärischer Entscheider in Bonn. Also es hat seiner Karriere keinen Abbruch getan. Und man muss sagen, dass die Bundesregierung doch so gut wie alles unternommen hat, um, um Oberst Klein sozusagen in Schutz zu nehmen. Wahrscheinlich, weil man nicht wollte, dass in der Öffentlichkeit eine Debatte über die Sinnhaftigkeit dieses Krieges in Afghanistan entsteht. Die Deutschen sind traditionell sehr verbunden mit den USA. Sie haben diesen Militäreinsatz bis zum bitteren Ende, bis zum letzten Jahr mitgetragen. Die Holländer zum Beispiel sind einen anderen Weg gegangen. Sie sind 2011 nach zehn Jahren ausgestiegen, haben sich militärisch nicht mehr beteiligt am Engagement in Afghanistan. Die Deutschen aber, wie gesagt, sind weiterhin aktiv geblieben. Und ich glaube, der wesentliche Grund, warum man das Ganze unter den Teppich gekehrt hat, war, dass man eben nicht in Frage gestellt sehen wollte, dass die Bundeswehr Auslandseinsätze durchführt.

Milena Preradovic: Ja, es ist ja auch schon irgendwie absurd. Also die Taliban kamen ja auch schon wieder und wurden immer mächtiger, so ab Mitte der 2000 Jahre. Hat man da nicht mal überlegt auszusteigen aus diesem Krieg, weil man hat doch gesehen, dass es keiner ist, keinerlei größere Perspektive hat. Man hat doch gesehen, dass man von den Sandalen Kriegern langsam überrannt wird. Also wieso hat dieser Krieg am Ende 20 Jahre gedauert?

Dr. Michael Lüders: Ja, ich glaube, der wesentliche Grund ist der, dass man, wenn man Krieg führt, man einmal hineingeht in einen Krieg. Das geht ganz einfach. Man fängt einfach an, aber wie kommt man aus einem Krieg wieder raus, ohne Gesichtsverlust? Und das ist so ein bisschen das Dilemma. Wir wissen aus freigegebenen Papieren der US Generalität und verschiedener Akteure, die an diesem Afghanistan Krieg in Washington beteiligt waren, dass die Amerikaner, dass die Führungsebene, die militärische und politische Führungsebene im Grunde genommen bereits 2005 wusste, dass sie diesen Krieg in Afghanistan niemals gewinnen kann, weil die Taliban sich als klassische Guerillabewegung wie ein Fisch im Wasser bewegten und es schlichtweg nicht möglich war, sie auszuschalten. Man kann vielleicht ein Taliban töten, aber dann kommen zehn neue, die seinen Platz einnehmen. Es war wirklich eine never ending story. Die Amerikaner haben es nicht geschafft, der Taliban Herr zu werden. Das kann man aber nicht einräumen. Die USA sind eine Weltmacht und sie waren verstrickt in zwei Kriegen im Irak und in Afghanistan. Im Irak hatten sie zunehmend Probleme mit islamistischen Terrorgruppen, die die Amerikaner angegriffen hatten, allen voran dem Islamischen Staat. Und eine Weltmacht, die nun in zwei shithole countries, um noch einmal Donald Trump zu zitieren, militärisch aktiv ist. Wie kommen Sie da wieder raus? Ohne Gesichtsverlust? Die USA können ja nicht sich geschlagen geben von Leuten aus dem Umfeld des Islamischen Staates oder der Taliban. Danach würde sie ja niemand mehr ernst nehmen. Und infolgedessen muss man einen solchen Krieg weiterführen, in der Hoffnung, man findet eine erlösende Möglichkeit, dem Ganzen wieder zu entgehen. Man hat also unendlich viel Geld investiert in eine völlig korrupte und unfähige afghanische Regierung. Die Wahlen, die es gab, zuvor die Präsidentschaftswahlen wie auch die Parlamentswahl in Afghanistan, wurde in einem Umfang gefälscht, dass es einen wirklich schwindeln lässt. Also gemessen daran war Lukaschenko in Weißrussland also geradezu ein Chorknabe, wenn man das vergleicht mit dem Umfang, wie die Wahlen in Afghanistan gefälscht worden sind. Es ging letztendlich darum, den Gesichtsverlust zu vermeiden, der dann aber am 15. August des vorigen Jahres eingetreten ist, weil dann letztendlich die Taliban wieder eingerückt sind in Kabul und die NATO sich geschlagen geben musste. Das war bitter. Es wäre eigentlich dringend notwendig und erforderlich, diesen Kriegseinsatz aufzuarbeiten, um sich zu fragen Was ist da eigentlich schiefgelaufen? Aber die aktuellen Ereignisse, der Krieg in der Ukraine haben jetzt dazu geführt, dass natürlich ein solches Nachdenken nicht stattfindet. Es war wirklich Hybris am Hindukusch, wie das Buch ja auch heißt, das dazu geführt hat, dass der Westen dort gescheitert ist. Man hat schlichtweg geglaubt, militärische Feuerkraft könnte alles überwinden und wäre in der Lage, Fakten zu schaffen, denen sich die Taliban am Ende beugen müssen. Und es ist wirklich phänomenal. Die NATO hatte ja am Ende zu ihrer Spitzenzeit unter Obama 2013 war glaube ich der Höhepunkt des US Engagements dort. Da gab es 125.000 Soldaten, westliche Soldaten in Afghanistan. Die Taliban hatten maximal zu ihren besten Zeiten 60.000 Mann unter Waffen. Also das ist weniger als die Hälfte. Und trotzdem haben sie diesen Krieg gewonnen. Das ist also ein militärischer, ich bin kein Soldat, bin kein Militär, aber es ist natürlich phänomenal zu sehen, dass diese Sandalen Krieger, diese Kalaschnikow Kämpfer in der Lage waren, diese Weltmacht zu besiegen. Und das konnten sie, weil sie eben das Land kannten wie ihre Westentasche und weil sie sich auf eine Guerilla Kriegsführung verlegt hatten, aus dem Hintergrund anzugreifen, viel Sprengstoff, Attentate zu verüben und vor allem immer wieder afghanische Soldaten und Polizisten anzugreifen, damit sozusagen den Staat von innen heraus zu schwächen. Und viele afghanische Soldaten oder Polizisten sind ja auch einfach geflüchtet bzw übergelaufen zu den Taliban. Warum auch sollten sie oder hätten sie ihr Leben riskieren sollen bei einem Monatssold von gerade einmal 60 €?

Milena Preradovic: Sie schreiben ja auch Das Bündnis, das in den Krieg nach Afghanistan zog, hatte sich nie mit diesem Land beschäftigt. Nicht mit der Mentalität, nicht mit der Struktur, nicht mit der Kultur. Also das, was jeder Tourist eigentlich tut, bevor er in Urlaub fährt, in ein fremdes Land, da liest er sich mal ein bisschen was durch. Und diese Ignoranz hatte ja viele Folgen. Und eine davon ist ja diese Diese Installierung einer Zentralregierung hat ja auch nicht funktioniert und war ja im Grunde hätte man vorher wissen können, zum Scheitern verurteilt, oder?

Dr. Michael Lüders: Ja, wenn man wirklich nachgedacht hätte, in der Tat, dann wäre man wohl zu diesem Schluss gelangt. Aber es gibt die Macht des Faktischen. Wenn ich einmal die Lawine losgetreten habe, dann kann ich sie nicht so ohne Weiteres mehr aufhalten. Und man darf nicht unterschätzen, dass es auf militärischer Ebene natürlich der NATO darum darum gehen musste, nicht als nicht als Verlierer dazustehen. Am Ende stand man als Verlierer da, aber die hat man ja, aber das hatte man eben völlig falsch eingeschätzt. Man hat eigentlich 20 Jahre lang Krieg geführt, um eine Situation herbeizuführen, die einen gesichtswahrenden Rückzug aus Afghanistan hätte ermöglichen können. Das hat man aber nicht geschafft. Stattdessen wurde man überrollt von den Ereignissen. Und ja, und die Taliban sind also wieder an der Macht. Und es findet aber keine kritische Selbstbefragung statt. Ich war selber bei meinen Recherchen auch sehr überrascht. Wenn man sich die Statements anguckt, zum Beispiel von Jens Stoltenberg, dem Generalsekretär der NATO, der hat noch drei Tage vor dem Sturz der Taliban am 15. August war das des vorigen Jahres gesagt, dass die NATO immer an der Seite der afghanischen Regierung stehen werde, sie auch weiterhin beraten werde in militärischen Fragen. Und die NATO war völlig überrascht von diesem Siegeszug der Taliban, was mich nun wiederum fassungslos gemacht hat als Nicht-Militär, weil ich mir gesagt habe das kann doch nicht wahr sein. Die hatten da zehntausende von Soldaten, die hatten dort eine hochbezahlte Generalität. Es wurde ständig ausgewertet, was da vor Ort passiert, jedenfalls in militärischer Hinsicht. Es kann doch nicht sein, dass diese Leute sämtlich nicht zur Kenntnis genommen haben wollen, dass die Taliban immer mehr vorgerückt sind. Das ist möglicherweise der Wunsch gewesen, Realität zu verdrängen, um mit dieser Realität nicht konfrontiert zu werden. Denn wenn Sie jetzt der der Einsatz gebende General sind in einem Land wie Afghanistan und Obama fragt Wie sieht es aus, gewinnen wir diesen Krieg? Dann ist es ja ganz schwierig für mich, als als oberster General zu sagen Lieber Herr Präsident, wir sind gerade dabei, hier gründlichst abzuschmieren. Das will kein Präsident hören, und es ist möglicherweise für meine Karriere auch nicht hilfreich, wenn ich Klartext rede. Also versuche ich natürlich immer wieder, Optimismus zu vermitteln. Es gibt zahlreiche Beispiele, die ich auch nenne im Buch dafür, wie führende US Generäle im Pentagon, gegenüber dem US Senat und an anderen Stellen die Dinge sich schöngeredet haben, als stünde der Sieg unmittelbar bevor. Noch ein bisschen mehr Waffen, ein paar Soldaten mehr und dann ist der Sieg unser. Und im Grunde genommen ging die Geschichte immer weiter in Richtung in Richtung Abgrund. Das ist schon ein Phänomen und es ist auch beängstigend, weil man sich leicht vorstellen kann, dass diese Realitätsverleugnung natürlich nicht nur in Afghanistan zur Anwendung kommt, sondern auch auf anderen Kriegsschauplätzen der Gegenwart, der Gegenwart.

Milena Preradovic: Mit Sicherheit. Aber so könnte man nicht mal einen Kindergarten führen, wenn man ganz ehrlich ist. Nur da gehen eine Menge Menschen drauf. Obama hat nicht nur die Soldaten aufgestockt, er hat auch noch mehr Geld nach Afghanistan geschafft. Und in Ihrem Buch habe ich gelesen, dass die New York Times einen US Regierungsvertreter zitiert hat mit den Worten Die größte Quelle der Korruption in Afghanistan waren die Vereinigten Staaten. Wie ist das abgelaufen?

Dr. Michael Lüders: Ja. Das Phänomen war, dass unter Obama die Überlegung wuchs, wie können wir diesen Krieg gewinnen? Und es gab also zwei Schienen, auf dem man hier engagiert war oder tätig wurde. Zum einen natürlich die militärische Ebene, inklusive der CIA Aufstandsbekämpfung. Auf der anderen Seite glaubte man, wenn man jetzt Afghanistan mit Geld zupflastern, also extrem hohe Geldsummen in Richtung Kabul kanalisiert, in Richtung der Regierung, dann kann die viel zivilgesellschaftliche Projekte fördern, dann kann sie Infrastruktur aufbauen, dann kann sie dazu beitragen, dass der Lebensstandard der Menschen sich hebt. Und dann werden diese afghanischen Politiker wiedergewählt und finden die Sympathien der Bevölkerung. Soweit die Theorie. In der Praxis hat es aber überhaupt nicht funktioniert, weil die afghanische Regierung unter Hamid Karsai, aber auch unter seinem Nachfolger Ashraf Ghani im Grunde genommen eine Ansammlung von korrupten Charakteren war, die in einem immensen Tempo Hunderte von Millionen Dollar sich auf eigene Konten vor allem in Dubai überwiesen haben. Und das Ergebnis war, dass dieser enorme Diebstahl an Geldern, die aus den USA kamen, dazu geführt hat, dass die größte Bank im Land, die Kabul Bank, ihrerseits geleitet von einem Gangster, kann man sagen, der Hunderte von Millionen dort gestohlen hatte aus dieser Bank. Diese Kabul Bank ist dann kollabiert und das Ergebnis war, dass die USA sehr, sehr viel Geld offenbar über Frankfurt am Main mithilfe einer deutschen Bank Bargeld nach Afghanistan per Flugzeug gebracht haben. Weil man muss sich vorstellen, dass 80 % des Personals staatlicher Behörden, also das Beamte und Angestellte würden wir sagen in Deutschland, die wurden bezahlt aus dem Ausland und die hatten ihre Konten mehrheitlich bei der Baader Kabul Bank, die aber jetzt insolvent gegangen war, pleite gegangen war, weil sie einfach geplündert wurde von denen, die dort das Sagen hatten. Und da hat man also sehr, sehr viel Geld. Wenn ich mich richtig erinnere, waren das waren es mehrere Milliarden nach, also in bar mit Flugzeugen von Frankfurt nach Kabul geschafft, um die Menschen, um den Menschen ihren Lohn auszahlen zu können, damit das Ganze nicht kollabiert. Das war eine sehr, sehr gefährliche Situation. Aufgearbeitet worden ist dieser Skandal um die Pleite der Kabul Bank nicht, denn das wäre zu peinlich gewesen, weil auch Hamid Karzai war darin involviert über einen Bruder von ihm, der im Aufsichtsrat saß. Also es liest sich dieses mein Buch “Hybris am Hindukusch”, es liest sich teilweise wirklich wie ein schlechter Krimi. Ich war selber bei der Recherche teilweise fassungslos und habe mir gedacht Das kann doch alles gar nicht sein. Das glaube ich jetzt nicht, das ist doch so, das hätte man doch alles wissen können. Es war doch offenkundig, was da geschieht. Aber wenn man es wirklich versucht runterzubrechen auf die kleinste Einheit, dann muss man sagen Wenn eine maßgebliche politische Institution einmal eine Entscheidung getroffen hat, dann kann sie noch so falsch sein, dann kann sie sich als noch so falsch erweisen. Die entsprechenden maßgeblichen Akteure werden nicht sagen Sorry, wir haben uns geirrt, wir müssen eine Neubewertung vornehmen und wir müssen unsere Strategie ändern, sondern sie werden im Gegenteil noch mehr Geld, noch mehr Engagement, noch mehr Repression anwenden, in der Hoffnung, dass sie die Dinge in ihrem Sinne verändern können. Dabei kann man sich aber erheblich verrechnen. Und der wesentliche Grund für den Siegeszug der Taliban, das muss man ganz klar und deutlich sagen, ist nicht, dass die Afghanen deren rückständige Ideologie und deren Frauenfeindlichkeit so toll fänden, dass sie sie nun also gerne unterstützt hätten. Sondern es war einfach die mächtigste militärische Formation, die den Amerikanern und der NATO die größten Schäden zugefügt hat. Und jeder, der Rache nehmen wollte dafür, dass Angehörige der eigenen Familie ums Leben gekommen sind durch Bombardements oder Drohnenangriffe, hat sich diesen Taliban angeschlossen. Und der Wunsch war, diese Besatzer, die eben nicht als Befreier wahrgenommen wurden, wieder aus dem Land zu werfen.

Milena Preradovic: Bei uns werden die Taliban ja als Terrorgruppe gesehen. Ist das eigentlich die richtige Betrachtung? Und und noch noch mal dazu gefragt Sind die Taliban auch korrupt?

Dr. Michael Lüders: Ja, das ist das Erstaunliche, dass von allen politischen Akteuren in Afghanistan die Taliban die am wenigsten Korrupten sind. Es ist ganz erstaunlich, dass auch die Führungsebene nach allem, was wir wissen, nicht empfänglich zu sein scheint für Bestechungsgelder. Es gibt dort in Anführungsstrichen eine große Ehrlichkeit, und das erklärt auch maßgeblich den Erfolg der Taliban. In den 90er Jahren wurden sie so stark. Natürlich sie sind, haben sie sich immer terroristischer Mittel bedient, gar keine Frage. Und die Beherbergung von Osama Bin Laden war ihr größter Fehler. Aber nichtsdestotrotz die Taliban. Sie konnten in den 1990 er Jahren stark werden als Ergebnis der Ereignisse in dem Jahrzehnt zuvor, während der sowjetischen Besatzung. Die Besatzung stieß natürlich auf großen Widerstand in der Bevölkerung und die USA und Saudi Arabien haben erkannt, dass man mithilfe von Mujaheddin, der sogenannten Glaubenskämpfer, die vielfach von Pakistan aus operierten, die sowjetische Besatzung schwächen kann. Und man hat also diese Mudschaheddin maßgeblich gefördert, darunter auch Osama bin Laden. Das war einer der größten Organisatoren im Widerstand der Mudschaheddin gegen die sowjetische Besatzung in Afghanistan. Die Amerikaner haben sozusagen diejenigen Kräfte gestärkt, zunächst einmal im Kampf gegen die Sowjetunion, die sich dann später gegen sie gewendet haben. Das ist also, wenn man so will, eine böse Ironie der Geschichte. Und es gelang zwar in der Tat dann, die sowjetische Besatzung zu beenden. Dann aber haben sich die verschiedenen Mudschahedin Kommandanten gegenseitig zerfleischt im Kampf um Macht und Einfluss, und das Land zerfiel in Anarchie. Die Hauptstadt Kabul, die bis dato vom Krieg weitgehend verschont geblieben war, wurde völlig zerstört von verschiedenen Mudschaheddin Kommandanten. Im Land herrschen Anarchie und Chaos. Es war lebensgefährlich, von A nach B über Land zu reisen und in dieses Machtvakuum, in dieses Vakuum an Anarchie und Chaos. Da sind dann, von der zweitgrößten Stadt ausgehend, in Afghanistan, Kandahar, im Süden gelegen, ist dann die Bewegung der Taliban entstanden. Taliban heißt übersetzt Religions-Studenten und die kommen von den sogenannten Madrassas aus den den religiösen Schulen. Das ist ein Phänomen. Die gibt es in Afghanistan, die gibt es in Pakistan, maßgeblich finanziert aus Saudi Arabien. Und die diese Madrassas sind sehr attraktiv für einfache Menschen mit wenig Geld, weil sie ihre Söhne dorthin schicken können, die dort versorgt werden. Also ein Esser weniger in der eigenen Familie. Aber sie werden natürlich entsprechend indoktriniert und bekommen ein Islamverständnis vermittelt, das sehr rudimentär ist, sehr dschihadistischer orientiert ist und als Mullah Omar, ein Dorf-Heiliger, auf einmal anfing, inmitten des Chaos, das es gab, von Kandahar aus für Ruhe und Ordnung in seinem Bezirk zu sorgen, in dem er mit mit Getreuen gegen die größten Verbrecher vorgegangen ist, damit großen Erfolg hatte.

Die Bevölkerung war ihm dankbar dafür. Immer mehr Menschen strömten ihm zu und es gelang ihm recht bald, die Macht zu übernehmen. Kandahar. Dann wurde der pakistanische Geheimdienst auf ihn aufmerksam, auf Mullah Omar, den Führer dieser Bewegung. Ein einfacher Dorfschullehrer war das und konnte kaum lesen und schreiben. Aber er war ein genialer Stratege und Taktiker, der wusste, wie man Krieg führt. Die Pakistaner, der pakistanische Inlandsgeheimdienst ISI, hat ihn massiv unterstützt. Denn Pakistan, alles hängt mit allem zusammen. Braucht Afghanistan als Rückfall Position, falls es mal zu einem Krieg mit dem Erbfeind Indien kommt. Da brauchen die Pakistaner aus ihrer Sicht Afghanistan als Rückzugsposition, falls alle Dämme brechen. Deswegen Aus der Sicht Pakistans darf niemals in Kabul jemand die Macht übernehmen, der gegen Pakistan eingestellt sein könnte und pro indisch sein könnte. Deswegen haben die Pakistaner, der Inlandsgeheimdienst, auch die übelsten Mujaheddin unterstützt, zunächst und dann die Taliban, weil sie wussten, die tun dann schon, was wir ihnen anempfehlen. Und so kam es dann auch. Sie haben die Macht übernehmen können. Aber der große Fehler war eben, Osama bin Laden zu beherbergen. Das gab den Amerikanern Anlass, dann nach 9/11 gegen sie vorzugehen. Aber die Taliban war nicht zu besiegen, weil sie eben sehr, sehr viel Unterstützung in der Bevölkerung hatten. Aufgrund der hohen Todeszahlen durch die Luftangriffe kam die einfache Bevölkerung immer wieder zurück zu den Taliban und von Pakistan aus konnten sie dann ihr Comeback organisieren. Mit großem Erfolg. Und sie haben nicht einfach blindwütig Krieg geführt, sondern sie haben versucht, möglichst ohne Kämpfe die Macht zu übernehmen, indem sie beispielsweise, was ich viel ziemlich genial finde eigentlich, sie haben zum Beispiel, wenn sie militärisch am Vorrücken waren, den zuständigen Gouverneur angerufen oder den zuständigen Bürgermeister und haben gesagt:” Wir kommen, morgen sind wir da, du kannst dich ergeben, dann passiert dir nichts, du kannst kämpfen, dann verlierst ihr, dann verlierst du den Widerstand, dann musst du mit den Folgen leben.” Natürlich haben die meisten dann gesagt okay, willkommen und haben aufgegeben, konnten vielfach dann noch in ihren Positionen bleiben, wurden noch nicht mal abgesetzt. Also es war eine sehr geschickte Strategie der Taliban und sie haben auch dazugelernt. In ihrer ersten Regierungszeit haben sie andere ethnische Minderheiten und religiöse Minderheiten massiv verfolgt, teilweise zu Tausenden massakriert. Das haben sie dann später nicht mehr getan. Also Sie haben dann versucht, diese Exzesse einzudämmen. Aber nichtsdestotrotz, ich meine, die Taliban sind jetzt nicht die idealen Skatbrüder, sag ich mal, also die muss man schon ernst nehmen, Ärger darf man mit denen nicht haben.

Milena Preradovic: Ja, aber auch die Amerikaner in Afghanistan scheinen mir nicht die idealen Skatbrüder zu sein. Wenn man hier bei uns Berichte sieht über Afghanistan und vor allem jetzt, dann sieht man Menschen in Angst. Da sieht man Menschen, da heißt es, dass die Menschen quasi die Taliban verabscheuen, weil sie ihnen die Freiheiten wieder nehmen. Und ich frage mich, gilt das tatsächlich für ganz Afghanistan oder gilt das für diese neu entstandene Mittelschicht in großen Städten wie Kabul?

Dr. Michael Lüders: Man muss in Afghanistan in der Tat unterscheiden zwischen der Hauptstadt Kabul, die immer eigentlich schon die weltoffene Stadt war innerhalb von Afghanistan und den Gebieten außerhalb Afghanistans, außerhalb der Hauptstadt, die extrem konservativ sind, arm sind. Man muss sich vorstellen, wenn man dort übers Land fährt, da ist vielfach kein Strom, kein fließend Wasser, es gibt keine Schulen, es gibt keine Ärzte oder kein Krankenhaus, dass es mindestens 50 Kilometer entfernt. Dementsprechend ist die Kindersterblichkeit sehr hoch, weil viele Mütter bei der Geburt bereits sterben, mangels der entsprechenden Versorgung. Es ist ein extrem einfaches Leben, das die Menschen dort führen. Unterwegs, unter extrem harten Bedingungen. Kabul Wie gesagt, immer ein bisschen in Anführungsstrichen, weltoffener. Und es hat auch in Kabul eine Mittelschicht gegeben. Gibt es auch immer noch, die von der westlichen Militärpräsenz profitiert hat, zum Beispiel, weil man als Dolmetscher tätig war oder andere Jobs gemacht hat für die ausländischen Vertreter. Aber die einfache Bevölkerung hat immer von der Hand in den Mund gelebt. Und Unterstützung hatte die Regierung Karsai, wenn überhaupt, eigentlich nur in der Hauptstadt Kabul. Und das Land hat stets eine ganz andere Richtung und Linie verfolgt. Der sensationelle Erfolg der Taliban erklärt sich wesentlich dadurch, dass sie Ruhe und Ordnung geschaffen haben in den 90er Jahren, in einem Land, wo nichts mehr ging, wo überall Anarchie und Chaos herrschte und dass sie quasi die Sicherheit gebracht hat. Man konnte durch Afghanistan reisen. Ich habe es selber gemacht damals. Man konnte gefahrlos von A nach B reisen. Die Taliban haben rigoros jedem Dieb die Hand abgehackt und jedem Wegelagerer Hand und Bein, Hand und Fuß. Das haben sie nicht oft getan. Aber die Strafen wirkten dermaßen abschreckend, dass keiner, der bei Verstand war, auf sie gekommen wäre, irgendwelche Überfälle oder Diebstähle zu begehen. Und dementsprechend haben sie in kürzester Zeit eine in Anführungsstrichen Rechtssicherheit geschaffen. Die Menschen konnten wieder aufatmen, konnten das Haus verlassen, ohne Angst ermordet oder entführt oder vergewaltigt zu werden. Und das ist sozusagen das erklärt den großen Erfolg, dass die Ideologie der Taliban das ist für die meisten zweitrangig gewesen. Aber es ist gleichzeitig auch so, dass die meisten Menschen auch sehr konservativ sind, sehr religiös sind, sodass die Taliban jetzt nicht, was viele glauben, wie Pol Pot dann in den Jahren in Kambodscha nun von oben ein Terrorregime eingepflanzt hätten, sondern es sind im Grunde genommen einfache Leute aus dem einfachen Volk gewesen mit einem extrem rückwärtsgewandten Weltbild, die aber gleichwohl die eigene Bevölkerung ernst genommen haben und versucht haben, unter den schwierigen Bedingungen das Beste für die einfachen Menschen zu machen. Und das erklärt ihren, ihren sensationellen Erfolg, diese, diese Robin Robin Hood Attitüde, die vor allem Mullah Omar hatte und mit der er sehr gepunktet hat in der Öffentlichkeit.

Milena Preradovic: Die Taliban haben den Westen rausgekickt und da frage ich mich, wer sichert sich jetzt Einfluss in Afghanistan?

Dr. Michael Lüders: Ja, im Moment ist die Lage in Afghanistan eine einzige Katastrophe, denn die USA haben sofort nach ihrem Abzug alle Auslandskonten Afghanistans, also der afghanischen Zentralbank, gesperrt. Insgesamt handelt es sich dabei um etwa 9,5 Milliarden US Dollar Ressourcen. Wie gesagt, der afghanischen Zentralbank, auf die sie keinen Zugriff mehr haben. Die neuen Machthaber, die Taliban und das 9,5 Milliarden, das ist nicht viel Geld, das ist eigentlich gar nichts. Vor allem, wenn man es vergleicht mit den Kriegskosten, die hier dieser Krieg in Afghanistan verursacht hat. Das ist ein Racheaktion, wenn man so will, der Amerikaner dafür, dass die Taliban sie besiegt und natürlich auch letztendlich gedemütigt haben. Das Dilemma ist nur dadurch, dass die Taliban, die neue Regierung, keinerlei Ressourcen mehr haben, dadurch, dass bislang 80 % der Saläre, der Gehälter für Arbeiten, für Angestellte und Beamte aus dem Ausland kamen. Das alles ist weggebrochen. Das heißt, über Nacht hatten die Leute überhaupt kein Geld mehr. Es ist eine wirtschaftlich verheerende Lage eingetreten, und die Armut nimmt extrem zu. 90 % der Afghanen leiden mittlerweile unter Hunger. Die Afghanen haben. Die afghanische Regierung unter den Taliban hat keine Möglichkeit, irgendetwas im Ausland einzukaufen. Das Land wird komplett boykottiert, sanktioniert durch die USA. Für die Bevölkerung eine desaströse Lage. Hunderttausende sind schon geflüchtet nach Pakistan und in den Iran, hauptsächlich aus Hunger. Und das wird bei uns alles mehr so am Rande wahrgenommen. Das alles ist ein Desaster. Trotzdem Mittel und langfristig hat Afghanistan durchaus wirtschaftliche Chancen. Das Land verfügt über nennenswerte Bodenschätze, vor allem Metalle und Seltene Erden. Und es sind vor allem Russland und China, die sich dort stark engagieren, die anfangen, diese Bodenschätze jetzt zu heben. Im Gegenzug. So werden sie die Infrastruktur Afghanistans wieder aufbauen. Aber China und Russland, gut für Russland ist im Moment alles ganz anders. Aber die Chinesen müssen natürlich aufpassen, wenn sie jetzt offen verstoßen gegen diese Sanktionsbestimmungen der USA gegenüber Afghanistan und riskieren sie selber sanktioniert zu werden von den USA. Das wollen sie nicht riskieren. Also sie müssen sehr sehr vorsichtig umgehen, aber mittel und langfristig ist eigentlich genügend Geld da, um das Land zu entwickeln. Die Taliban werden sich mangels Alternativen sicherlich in Richtung China und Russland orientieren und nicht in Richtung Westen. Und es wird alles davon abhängen, ob die Taliban es schaffen, Ruhe und Ordnung im Land zu bewahren. Es gibt andere gewalttätige Gruppen, die dort sehr, sehr wirkmächtig sind, vor allem der Islamische Staat, der immer wieder große, verheerende Terroranschläge dort verübt. Die westlichen Staaten werden, wie ich meine, eigentlich gut beraten, die Taliban im Kampf gegen diesen Islamischen Staat beizustehen. Einmal angenommen, die Taliban Herrschaft würde kollabieren, was passiert dann? Dann wird der Islamische Staat, dann werden andere Dschihadisten die Machtübernahme übernehmen. Es würde dann die Zentralstaatlichkeit in Afghanistan aufhören zu bestehen. Und dann könnte Afghanistan ein Homeland werden für Dschihadisten und Gewalttäter und sonstige Desperados aus allen Teilen der Welt. Und das kann man eigentlich nicht ernsthaft wollen. Das wäre wirklich äußerst gefährlich. Und ja, das Problem ist nur, dass wir das nicht so wahrnehmen wollen. Zu Recht sagen wir, die Taliban sind nicht die idealen Betbrüder, aber sie haben nun mal die Macht. Sie werden die Macht wohl auch behalten. Im Augenblick gucken wir ausschließlich auf die Ukraine. Aber das Leben geht natürlich auch in anderen Teilen der Welt weiter. Und wenn wir nicht aufpassen und die Lage in Afghanistan völlig außer Kontrolle gerät, vor allem wegen der extremen Armut und dem Hunger, den die Menschen dort leiden. In der Vergangenheit konnte vielfach Subsistenz Landwirtschaft betrieben werden. Also die Leute bauten dann auf ihren eigenen Äckern das an, was sie zum Leben brauchen. Aber aufgrund des Klimawandels hat es jetzt wiederholt extreme Dürren gegeben in Afghanistan, sodass auch diese Möglichkeit mit der Subsistenzwirtschaft entfällt. Also die Rahmendaten Afghanistans sind katastrophal und das ganze Feld nur bei uns in unserer Wahrnehmung unter den Tisch, weil wir jetzt im Augenblick nur auf einen Konflikt gucken, nämlich den in der Ukraine.

Milena Preradovic: Zu dem Krieg würde ich auch noch mal gern mit mit Ihnen kommen. Eins ist klar Russland ist der Aggressor und der Westen steht momentan geschlossen gegen Putin. Also momentan zumindest. Die Deutschen wollen sich von russischer Energie befreien und es sieht so aus, als wäre das Verhältnis EU, Russland oder auch Deutschland Russland nachhaltig gestört oder vielleicht sogar zerstört. Aber wie sinnvoll ist es eigentlich für die Europäer und auch für Deutschland, die Beziehungen zu Russland völlig zu kappen?

Dr. Michael Lüders: Also grundsätzlich muss man sagen, dass deutsche Politik in Afghanistan mit Blick auf die Ukraine und anderswo in der Regel sehr synchron erfolgt mit den politischen Vorstellungen in Washington. Was in der deutschen Politik grundsätzlich fehlt, das ist die Bereitschaft, zunächst einmal eigene Interessen zu erkennen, zu benennen und entsprechend zu handeln. Es war nicht sinnvoll, dass die Bundeswehr 20 Jahre in Afghanistan präsent war. Das hat man getan, aus, wenn man so will, Solidarität mit den USA. Aber andere, wie zum Beispiel die Niederlande, sind nach zehn Jahren ausgestiegen aus diesem Krieg, weil sie sich gesagt haben, irgendwann ist auch mal gut, wir wollen hier nicht never ending Krieg führen. Mit Blick jetzt auf die Ukraine. Das ist natürlich ein ganz anderes Problemfeld. Grundsätzlich muss man aber sagen Bei allen Kriegen gilt das, was wir die Öffentlichkeit erfahren über den Verlauf eines Krieges und das, was tatsächlich vor Ort geschieht, können möglicherweise zwei sehr unterschiedliche Paar Schuhe sein. Man muss sehr, sehr aufpassen, dass man sich vom Meinungs-Management, wie es betrieben wird, in Politik und Medien nicht so weit beeinflussen lässt, dass man den gesunden Menschenverstand ausschaltet. Ich habe erwähnt, dass in Afghanistan im Grunde genommen schon 2005 klar war, dass dieser Krieg in Afghanistan nicht gewonnen werden kann. Trotzdem wurde er noch jahrelang weitergeführt. Und erst jetzt wissen wir, dass das damals schon bekannt war. Und man stellt sich natürlich die Frage, was man wohl in fünf Jahren bekannt sein über das, was jetzt in der Ukraine passiert, das übrigens schlimm genug ist. Damit wir uns nicht missverstehen Es ist ein russischer Angriff auf die Ukraine. Der ist eindeutig zu verurteilen. Er ist völkerrechtswidrig. Wie reagiert man nun damit? Eine Möglichkeit ist natürlich, Russland dem Aggressor gegenüber klar zu signalisieren, Du gehst zu weit, da machen wir nicht mit. Wir werden dich jetzt sanktionieren als Reaktion auf diesen Einfall in der Ukraine. Das ist einerseits verständlich, andererseits muss man sich natürlich die Frage stellen, wohin sollen diese Boykottmaßnahmen gehen? Wie wie sind sie gedacht? Soll das jetzt fortgeführt werden, bis der Krieg endet? Und wenn die Russen sich zurückziehen, dann werden die wieder aufgehoben. Oder will man jetzt endgültig Rechnungen begleichen mit Russland? Wenn man jetzt endgültig diesen Rivalen der machtpolitischen Interessen etwa der USA, will man den ein für allemal auch mit deutscher Hilfe ausschalten ? Die Haltung der bundesdeutschen Politik ist ja im Augenblick, sich so schnell wie möglich aus allen wirtschaftlichen Beziehungen mit Russland zu lösen und insbesondere auch in der Energieabhängigkeit neue Wege zu gehen. 50 Jahre lang gab es Energiesicherheit insoweit, als sowohl die Sowjetunion wie auch Russland hundertprozentig zuverlässig zu allen Zeiten Gas und Öl geliefert haben. Die Hälfte des in Deutschland verbrauchten Gases und knapp 1/3 des in Deutschland verbrauchten Erdöls stammt aus Russland. Und nun erleben wir sehr viel Aktionismus von deutscher politischer Seite, diese Abhängigkeit zu verringern. Wir hatten gerade Wirtschaftsminister Habeck, der in Katar war, der in den Vereinigten Arabischen Emiraten war, um dort langfristige Verträge zu schließen, um aus dieser russischen Abhängigkeit herauszukommen. Das ist einerseits verständlich und es spricht natürlich auch nichts dagegen, die Ressourcen, die man verbraucht, im Bereich Energie zu diversifizieren. Das Problem ist nur, wir haben jetzt einen sehr starken Adhocismus. Von jetzt auf gleich werden Maßnahmen getroffen. Man handelt erst und so scheint es, denkt erst im zweiten Schritt nach. Eins muss man ganz klar sagen und wissen diese Umstellung der Energie kostet immens viel Geld. Selbst wenn Qatar oder die Vereinigten Arabischen Emirate uns jetzt Flüssiggas liefern. Es ist nicht konkurrenzfähig mit russischem Gas, das viel, viel billiger ist. Wenn man nun aus Gründen der politischen Opportunität sagt, wir wollen dieses Gas nicht mehr, wir wollen dieses Erdöl nicht mehr, wenn man sich aus 50 Jahre Energiesicherheit im Umgang mit der Sowjetunion Russland verabschiedet, dann gibt es erst einmal keine Alternativen. Bzw. Die Alternativen, die man mittelfristig aufbauen kann, sind deutlich deutlich teurer. Mindestens drei bis fünfmal so teuer wie das, was wir jetzt bezahlen. Und ich glaube, dass die meisten bei uns völlig unterschätzen, weil die Politik ja auch nicht mit offenen Karten spielt, vielfach nicht. Die Kosten, die hier auf uns zukommen, werden immens sein. Denn nicht nur für die einzelnen Verbraucher werden dann nicht mehr 100 € im Monat bezahlen für für ihre Gasversorgung. Die Hälfte der Haushalte in Deutschland bezieht seine Energiequelle aus. Aus Gas beträgt aber das monatliche, der das monatliche Entgelt nicht mehr 100 €, sondern vielleicht 400, 500 €. Und wenn im Februar des nächsten Jahres dann die Abrechnung kommt für das Jahr 2022, dann werden sich sehr, sehr viele Menschen umschauen und das wird vor allem im unteren Drittel der Gesellschaft natürlich zu enormen wirtschaftlichen Verwerfungen führen, ganz unabhängig von der Industrie, die natürlich auch auf billige, bezahlbare Energie angewiesen ist und diese Fracking Gas aus den USA zu beziehen in Form von Flüssiggas oder aus Katar. Das ist schlichtweg nicht bezahlbar. Das bedeutet, dass der deutsche Staat, also wir, die Steuerzahler dauerhaft subventionieren müssen, weil die Wirtschaft dann zu den Preisen, die das kostet, nicht wirtschaften wäre nicht konkurrenzfähig, etwa gegenüber Frankreich und anderen Ländern. Lange Rede, kurzer Sinn, wir haben jetzt politische Entscheidungen getroffen, also unsere politischen Vertreter, die ihre Berechtigung haben, aber gleichwohl, wie ich meine, doch sehr sportlich gefasst sind. Und die wirtschaftlichen Folgen, die das Ganze hat, werden doch erheblich unterschätzt. Ich denke, wir werden uns einstellen müssen auf eine hohe Inflation bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Stagnation. Das nennt man gemeinhin Stagflation. Das ist der Albtraum aller Ökonomen, weil man kann dagegen relativ wenig unternehmen, denn eine Stagflation ist meistens etwas, was sozusagen im globalen Kontext oder doch in einem größeren regionalen Kontext passiert, geografische Kontext passiert. Da kann man nicht so als Regierung ohne Weiteres dagegenhalten. Und das Ergebnis wird eben sein sehr, sehr große wirtschaftliche Verwerfungen, die uns vielleicht nicht in diesem Sommer, aber ich denke mal ab Herbst Winter massiv ereilen werden.

Milena Preradovic: Das sind keine schönen Aussichten. Ich habe in Ihrem Buch eine ganz interessante Passage gefunden. Da zitieren Sie den ehemaligen Nationalen Sicherheitsberater der USA, Brzeziński. Auf die Frage, ob die USA einen Krieg der Sowjetunion in Afghanistan provoziert haben, sagt er, Vorsicht, “wir haben die Russen nicht gedrängt zu intervenieren, aber wir haben wissentlich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass es dazu kommen würde.” Und da habe ich mich sofort gefragt, ob es möglich ist, dass die Amerikaner diese Strategie auch in der Ukrainekrise fahren könnten oder gefahren haben könnten. Immerhin war den USA ja völlig klar, wenn die NATO immer weiter an die russische Grenze rückt, kann das fatale Folgen haben. Das haben ja auch sehr viele amerikanische Politiker oder auch Politikberater schon gesagt.

Dr. Michael Lüders: Ja, wir wissen natürlich nicht, was jetzt im Einzelnen geplant wird in Washington. Wenn man sich die Aussagen von Präsident Biden anhört mit Blick auf seinen russischen Amtskollegen, so sagt er ja, dass Putin ein Kriegsverbrecher sei, dass er dies sei und jenes sei. Das kann man natürlich alles auch sagen. Nur wenn ich solche Formulierungen wähle, dann mache ich es ja fast unmöglich, für die russische Regierung eine gesichtswahrende Lösung zu finden. Es ist ja klar, dieser Krieg kann nur enden, wenn die russische wie auch die ukrainische Seite und auch die NATO irgendwie das Gefühl haben, man hat jetzt einen Deal gefunden. Und dieser Deal kann wahrscheinlich im Ende nur darauf hinauslaufen, dass die Ukraine eine Lösung wählt, militärisch eben nicht der NATO zugeneigt zu sein. Man könnte vielleicht sprechen von einer Finnlandisierung der Ukraine, also neutral zwischen Ost und West, wenn ich so sagen darf. Es gibt sicherlich den Versuch, diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Aber es Mag auch Strategen geben, die sich sagen, Na ja, es ist doch uns damals gelungen, in Afghanistan der Sowjetunion eine vernichtende Niederlage zu bereiten, die letztendlich dann der letzte Sargnagel wurde für die untergehende Sowjetunion. Einmal angenommen, dieser Krieg in der Ukraine dauert ebenfalls länger. Könnte es dann nicht sein, dass die russischen Ressourcen, die dort verbraucht werden, in wirtschaftlicher und in menschlicher Hinsicht, gefallene Soldaten, so hoch werden könnte, dass am Ende das System Putin insgesamt kollabiert? Ich kenne nicht die Pläne, die es in Washington geben mag. Aber es wird sicherlich den einen oder anderen geben, der in diese Richtung denkt. Ob sich dieses Denkmodell am Ende dann durchsetzt oder nicht, das kann niemand seriös beurteilen zum jetzigen Zeitpunkt. Aber es ist offenbar so, dass es keinen Druck gibt auf Selenskyj, den ukrainischen Präsidenten, jetzt doch schnell zu einem Friedensschluss mit Russland zu kommen. Er stellte auch kühne Dinge in den Raum, indem er etwa sagt, dass eine Friedensregelung mit Russland am Ende in einer Volksabstimmung bestätigt werden muss. Wenn er das sagt, dann weiß er natürlich auch, dass sich die russische Seite darauf niemals einlassen wird. Es gibt in einem Krieg kein Ergebnis, das dann am Ende per Volksabstimmung angenommen wird oder eben nicht. Also ich glaube, hier ist einiges in Bewegung, einiges im Fluss und ich befürchte, dass dieser Krieg in der Ukraine noch länger andauern könnte. Und ich könnte mir ebenfalls vorstellen, dass in dem Fall diese Einheit des Westens einig gegen die Aggression Russlands, dann auch sich durchaus verliert. Denn zu viele Staaten in Europa, vor allem die kleineren Tschechien, Slowakei, Ungarn, Österreich, aber auch Italien sind extrem abhängig von russischem Gas. Und das ist nicht zu ersetzen, auch nicht durch durch Gasimporte aus dem Ausland, die zudem sehr sehr teuer nur heranzuschaffen wären. Also ich denke, es wird früher oder später doch wieder ein Nachdenken geben und die Erkenntnis geben, dass man Russland nicht dauerhaft isolieren kann, gewissermaßen eine Mauer drum baut, um dieses politische System dort irgendwie zum Kollabieren zu bringen. Also ich denke, wir werden in den nächsten Monaten sehr viel, wie es so schön heißt, Volatilität erleben. Sehr viel wirtschaftliche Verwerfungen, sehr viel politische Verunsicherung. Und über allem schwebt die Sorge, dass es nicht ausgeschlossen ist, dass es am Ende dann doch zu einer militärischen Konfrontation zwischen der NATO und Russland in der Ukraine kommt. Und sei es, dass aus einem dummen Zufall heraus jemand im falschen Moment auf den falschen Knopf gedrückt hat. Also die Lage ist gefährlich. Und gerade wir in Deutschland und Europa sollten ein Interesse daran haben, nicht nur immer neue Sanktionen zu verhängen, nicht nur immer neue Waffen zu liefern an die Ukraine, sondern auch massiv dafür einzutreten, dass es einen Friedensschluss gibt.

Milena Preradovic: Hm, hm. Ich habe auch die Befürchtung, dass das noch lange dauert oder möglicherweise eskaliert, weil ich auch niemanden sehe, der deeskaliert auf keiner Seite. Vielen Dank, Michael Lüders, für diese wichtigen und vor allem so dringend benötigten sachlichen Einblicke. Und danke, dass Sie da waren und ich freue mich schon auf das nächste Mal.

Dr. Michael Lüders: Vielen herzlichen Dank! Danke schön und alles Liebe und Gute erstmal.

Milena Preradovic: Tja Leute, ich kann das Buch Hybris am Hindukusch wirklich empfehlen. Es erklärt nicht nur diesen Krieg in Afghanistan, es erklärt im Grunde die Denke von Großmächten und die sollte man in diesen Zeiten kennen. Ich wünsche euch eine gute Zeit. Bis bald.

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