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„Es wird Blut fließen, viel Blut“

Published On: 3. April 2022 11:30

Arno Luiks Interviews beginnen oft mit provozierenden Fragen, schon mit der ersten Antwort wird der Leser in diese Gespräche hineingezogen – und liest Dinge, die er anderswo nicht gelesen hat. 2009 hat Luik Eric Hobsbawm getroffen, herausgekommen ist ein lesenswertes Interview mit manchmal fast prophetischen Aussagen des mittlerweile leider verstorbenen Historikers. Das Interview ist abgedruckt in dem Gesprächsband „Als die Mauer fiel, war ich in der Sauna. Gespräche über den Wahnsinn unserer Zeit”, eine faszinierende Zeitreise, in der sich Geschichte auf eine mitreißende Weise entfaltet: anekdotisch, politisch, intim.

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Eric Hobsbawm treffe ich 2009, kurz nach der weltweiten Finanzkrise, in seinem kleinen Reihenhaus in London, ein paar Hundert Meter vom Grab jenes Mannes entfernt, dem er seine Analysekraft verdankt: Karl Marx. Hobsbawm treibt in diesen Tagen um, wie die Regierenden mit zig-Billionen Euro die Banken stützen, die diese weltweite Krise verursachten. Wissen die, was sie da tun?, fragt er. Nein, sagt Hobsbawm, einer der wichtigsten Historiker unserer Zeit. Schlimmer noch als die Weltwirtschaftskrise, die er in den frühen 1930ern in Berlin miterlebte, sei der Zusammenbruch des Finanzsystems heute. Er hat Angst, dass der Kapitalismus sich über eine fürchterliche Katastrophe rettet. Nach drei Stunden Gespräch kommt seine Frau ins Zimmer und sagt: »Nun müsst ihr aufhören. Eric wird müde.« In der Küche wartet ein kleines Essen auf uns, und dazu trinken wir zwei Flaschen deutschen Riesling.

Herr Hobsbawm, Sie haben das Verschwinden von vielen Systemen erlebt: den Untergang der Weimarer Republik, die Zerschlagung des Faschismus, das Absterben der DDR, den Kollaps des Kommunismus und nun …

Wenn Sie das so aufzählen, merke ich, dass ich fast so etwas wie ein Museumsobjekt bin. Als ich ein Kind war, war der König von England auch noch der Kaiser von Indien, die Welt bestand zum großen Teil aus Monarchien, Kaiser- und Kolonialreichen. Und fast alle sind flöten gegangen.

Und nun erleben Sie vielleicht auch noch das: das Ende des Kapitalismus.

Nein, ich glaube nicht, dass ich dieses Ende, über das ich mich freuen würde, noch erlebe. Als Historiker weiß ich aber, dass es keine Dauerlösungen gibt. Auch der Kapitalismus, egal, wie zäh er ist und wie sehr er auch in den Köpfen der Menschen als etwas Unabänderliches erscheint, er wird verschwinden, früher oder später.

Klar, dass Sie das so sehen müssen.

Wieso denn?

Sie als alter Marxist, der hier in London in Rufweite vom Grab von Karl Marx lebt.

Spotten Sie nicht. Dass ich Marxist geworden bin, liegt an meinen persönlichen Erfahrungen in den 30er Jahren, in der Großen Depression.

Sie lebten damals in Berlin, Sie wissen also, was das heißt: Krise.

Ich habe als junger Mensch zwischen Schule und Straßenkämpfen mitbekommen, was es bedeutet, wenn Arbeitslosigkeit sich durch die Gesellschaft frisst. Das ist wie eine alles zersetzende Krankheit. Die Angst kroch in das Bürgertum. Mir war damals klar, dass wir auf der Titanic sind und dass wir bald den Eisberg rammen würden. Das einzig Ungewisse war, was passieren würde, wenn es so weit ist. Wer würde ein neues Schiff bereitstellen?

Sie wussten, dass ein System zu Ende gehen würde?

Ja. Ich lebte in einer Welt, an deren Fortbestand keiner mehr glaubte. Eigentlich war ich literarisch interessiert, ein Schöngeist eben. Aber das war unmöglich 1931/32 in Berlin, man wurde politisiert, ich wurde Mitglied des Sozialistischen Schülerbunds. Die Krise war wie ein Vulkan, der politische Eruptionen hervorrief. Vor der letzten Reichstagswahl habe ich noch Flugblätter verteilt, es war gefährlich, aber für mich als Jugendlichen war da auch so ein Element von Indianerspielen, wie bei Karl May, dabei. Am 25. Januar 1933 organisierte die KPD ihre letzte legale Demonstration, einen Massenmarsch durch die dämmrigen Straßen Berlins zum Karl-Liebknecht-Haus. Wir sangen Lieder wie »Der kleine Trompeter«, auch ein Lied über die Bauernkriege, »Wir sind des Geyers schwarzer Haufen«, die »Internationale«, es war da ein kollektives Hochgefühl, Massenekstase trotz Zukunftsangst.

Als Hitler an die Macht kam, da …

Als er am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, es war ein kalter Tag, auf dem Heimweg von der Schule mit meiner Schwester las ich die Schlagzeilen, ich kann sie immer noch, wie im Traum, vor mir sehen. Ja, ich habe es gespürt: Das ist ein historischer Wendepunkt.

Und jetzt? Stehen wir wieder an einem Wendepunkt?

Ich denke, ja. Der 15. September 2008, der Tag, an dem die Lehman-Bank zusammenbrach, wird den Lauf der Geschichte mehr verändern als der 11. September 2001, als die Türme des World Trade Centers zusammenbrachen.

Riskieren Sie doch mal einen Blick in die Zukunft.

Wir Historiker sind keine Propheten. Ich kann nur sagen: Wir kommen wohl noch nicht an den Jüngsten Tag. Aber Teile der Welt können untergehen.

Warum bloß?

Zunächst mal: Mir, der ich die Große Depression miterlebt habe, fällt es immer noch unfassbar schwer zu verstehen, wieso die Ideologen der entfesselten Marktwirtschaft, deren Vorgänger schon einmal so eine fürchterliche Katastrophe, also Armut, Elend, Arbeitslosigkeit, letztendlich auch den Weltkrieg mitverursacht haben, in den späten 70ern, den 80er, 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wieder das Sagen haben konnten.

Warum? Wie erklären Sie sich das?

Der Mensch hat ein unglaublich kurzes Gedächtnis. Wir Historiker schreiben die Verbrechen und den Wahnsinn der Menschheit auf, wir erinnern an das, was viele Menschen vergessen wollen. Aber fast nichts wird aus der Geschichte gelernt. Das rächt sich nun. In den letzten 30, 40 Jahren wurde eine rationale Analyse des Kapitalismus systematisch verweigert.

Wir haben jede Menge Wirtschaftswissenschaftler, Experten, die den ganzen Tag nichts anderes tun.

Wir haben vor allem Theologen des Marktes mit einem kindlich-kindischen Glauben, dass der Markt alles von allein regeln wird. Sie verschließen die Augen vor der Wirklichkeit, das macht sie so gefährlich für die Menschheit. In den vergangenen Jahren weigerten sie sich einfach, die Krisen, die sich immer mehr aufbauten, überhaupt wahrzunehmen. Verblendete. Ignoranten.

Manche in den USA sprachen – ganz euphorisiert – vom Ende der Geschichte. Gab es denn gar keinen Grund für diesen Optimismus?

Nein. 40 Prozent der Weltbevölkerung leben von einem Dollar am Tag. Das ist doch keine Basis für eine stabile Gesellschaftsordnung. Von wegen Ende der Geschichte. Die Krisen wurden am Rand immer größer und immer dramatischer. Bei uns im Zentrum kamen sie gelegentlich als Börsenkräche an, die bald wieder repariert waren, das Spiel konnte weitergehen.

Das Spiel ist aus.

Ja, das kann man wohl so sagen. Diese Krise hat eine völlig neue Qualität. Das Einzige, an dem sich die Politiker ein wenig orientieren können, ist die Zeit zwischen 1929 und 1933.

Nun haben wir, sagt die New York Times, sogar eine Krise, die womöglich dramatischer ist als die der Großen Depression. Und diese Depression damals sei erst durch den Weltkrieg bereinigt worden.

Roosevelts heute so gefeierter New Deal hat die Krise tatsächlich nicht beendet, er verhinderte allenfalls politische und soziale Aufstände in den USA. Niemand bekam in den 1930er Jahren die Krise wirklich in den Griff. Und heute – obwohl sich Geschichte nicht wiederholt – ist es ähnlich dramatisch wie damals, nein schlimmer: Keine Regierung weiß, was sie tun soll.

Wie bitte? US-Präsident Barack Obama pumpt Billionen Dollar in die Wirtschaft, Angela Merkel und die Bundesregierung legen milliardenschwere Konjunkturprogramme auf, auf dem G-20-Gipfel haben sie erklärt: Wir halten zusammen! Wir wissen, was wir tun!

Haben Sie das Gefühl, die wissen wirklich, was sie tun? Stecken da Konzepte, Analysen dahinter? Nein, aufgeschreckt wie Krankenschwestern eilen die Politiker ans Bett des Kapitalismus und tun so, als ob sie etwas täten.

Sie wissen nicht, wohin sie gehen?

Ja, und das macht die Sache so schrecklich ungemütlich: Sie wissen einfach nicht, was sie tun sollen! Was wir im Augenblick erleben, ist ja etwas, was es nach der radikalen Moraltheologie des Marktes gar nicht geben kann und darf, es ist also etwas, was das Denkvermögen der Akteure sprengt. Wie ein blinder Mann, der durch ein Labyrinth zu gehen versucht, klopfen sie mit verschiedenen Stöcken die Wände ab, ganz verzweifelt, und sie hoffen, dass sie so irgendwann den Ausgang finden. Aber ihre Werkzeuge funktionieren nicht.

Der frühere französische Premierminister Laurent Fabius fürchtet »soziale Revolten«, und die, meint die SPD-Präsidentschaftskandidatin Gesine Schwan, könnten zu einer Gefahr für die Demokratie werden.

Alles ist möglich. Inflation, Deflation, Hyperinflation. Wie reagieren die Menschen, wenn alle Sicherheiten verschwinden, sie aus ihrem Leben hinausgeworfen, ihre Lebensentwürfe brutal zerstört werden? Meine geschichtliche Erfahrung sagt mir, dass wir uns – ich kann das nicht ausschließen – auf eine Tragödie zubewegen. Es wird Blut fließen, mehr als das, viel Blut, das Leid der Menschen wird zunehmen, auch die Zahl der Flüchtlinge. Und noch etwas möchte ich nicht ausschließen: einen Krieg, der dann zum Weltkrieg werden würde – zwischen den USA und China.

Das ist doch Unsinn.

Nein.

Okay, das ist doch einfach absurd, dieser Gedanke!

Nein. Im Augenblick, das gebe ich gern zu, erscheint dieses Szenario sehr unwahrscheinlich. Im Augenblick scheinen sich China und die USA zu ergänzen, ja sich sogar zu stützen, sie erscheinen geradezu komplementär. Doch im pazifischen wie im asiatischen Raum wird ihr Konkurrenzkampf immer härter. Es gibt keine Basis für eine dauerhafte Freundschaft zwischen diesen beiden Großmächten.

Hören Sie doch bitte auf mit Ihrem Pessimismus!

Ob es Ihnen passt oder nicht: Es gibt wenig Grund, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken! Im 19. Jahrhundert glaubten die Menschen, es gehe stets aufwärts, vorwärts, man werde zivilisierter, man werde gebildeter. Die Leute lernten lesen, schreiben, sie glaubten, es gehe nicht nur materiell, sondern gleichzeitig auch moralisch voran. Man konnte optimistisch sein.

Aber dann kam 1914.

Und da hört das alles auf. Ein schreckliches, ein extremes Zeitalter beginnt: Mehr Menschen als jemals zuvor wurden im 20. Jahrhundert in Kriegen oder auf Weisung und mit staatlicher Erlaubnis ermordet. Die Folter, die im Westen offiziell abgeschafft worden war – ein dramatischer Fortschritt in der Menschheitsgeschichte –, sie kam zurück! Und wurde am Anfang des neuen Jahrtausends durch die USA wieder zu einem staatlichen Mittel der Befragung! Die Barbarei schreitet voran. Anerkannte Werte der Zivilisation werden plötzlich wieder aberkannt.

So wie Sie reden, kann man nur sagen: Der Mensch ist blöd.

Sehen Sie, materiell hat sich die Welt für sehr viele Menschen verbessert. Man ist größer, lebt länger, man ist gesünder. Aber geistig, politisch, moralisch – da kommt der Mensch nicht hinterher, vielleicht entwickelt er sich sogar im Augenblick noch weiter zurück. Was sind die Werte des Lebens? Warum leben wir? Wozu?

Was ist Ihre Antwort?

Tja, ich könnte nun fragen, warum hält der Mensch an einem System fest, das regelmäßig die fürchterlichsten Katastrophen produziert, das die Umwelt ausbeutet und zerstört, den Ast also absägt, auf dem er sitzt? Und jetzt brechen und knacken überall die Äste. Vielleicht wird die Menschheit noch bedauern, dass sie nicht auf Rosa Luxemburg gehört hat: Sozialismus oder Barbarei.

Ich bitte Sie: Es waren Ihre politischen Freunde, die Erben Lenins, die den Gegenentwurf zum Kapitalismus zertrümmert, den Gedanken an die Utopie zerstört haben.

Ja, das stimmt. Und das rächt sich nun. Denn nun, wo wir es wirklich brauchten, gibt es kein Gegenprojekt für die Menschheit! Das ist fatal.

»Unverantwortliche Banker«, sagt die Kanzlerin, »hemmungslose Gier«, erklärt der Bundespräsident, hätten die Grundlagen des Gemeinwesens verzockt. Mich erinnert das an mittelalterliche Deutungsversuche. Gab es früher eine Dürre, hieß es: Wir haben gesündigt, Gott straft uns dafür. Und nun soll wieder eine Todsünde, Gier, schuldig am Schlamassel sein – der strafende Gott ist nun der strafende Markt!

Die Politiker müssen so reden, sie können ja wohl schlecht zugeben, dass nicht der einzelne Mensch, sondern das System an sich falsch ist. Der Markt ist nicht moralisch. Die reine Marktwirtschaft ist auf Habgier aufgebaut – und auf sonst gar nichts, das ist das System.

Vielleicht ist es einfach so: Der Mensch ist habgierig – fertig, aus, Nikolaus.

Nein. Nein. Auch Karl Marx hat ja nie gegen gierige Kapitalisten argumentiert, er war gegen ein System, das notwendigerweise Habgier schafft. Der Mensch, mein fester Glaube, kann anders sein. Aber im Kapitalismus sucht jeder seinen Vorteil, jeder ist dazu verdammt, sonst geht er unter.

Die Banker, sagen Sie, haben also nichts übertrieben?

Sie haben sich absolut systemimmanent verhalten. Profit. Gewinn. Maximales Wirtschaftswachstum. Die marktradikalen Theorien sind ja wunderbar – wenn man von der Wirklichkeit absieht. Man konstruiert sich ein System, nennt es Freiheit, und in der Theorie funktioniert es: Jedermann, jeder Mensch, jede Firma sucht für sich den Vorteil, den rational kalkulierbaren Vorteil, und der Markt, jenseits des menschlichen Urteils, regelt alles zum Guten. Eine primitive Ideologie. Das Wissen von Leuten jedoch, die den Kapitalismus analysiert und verstanden hatten, wurde dagegen verspottet und vergessen: Leute wie Marx und Schumpeter wussten, dass der Kapitalismus etwas Instabiles ist, dass er sich entwickelt und revolutionär voranschreitet, aber auch zwangsläufig zusammenbricht, dass er stets anfällig ist für Krisen von unterschiedlicher Dauer und bisweilen großer Heftigkeit.

Und nun rufen selbst die ungestümtesten Freunde der Marktwirtschaft nach dem Staat.

Ja, das ist doch eine nette Ironie der Geschichte.

Und Sie freuen sich, recht zu haben.

Ich empfinde eine gewisse Schadenfreude, ja.

Ähnlich empfand Karl Marx 1857 in einer Krise, er amüsierte sich: »Dass die Kapitalisten nun überall von den Regierungen öffentliche Unterstützung verlangen, ist schön.«

Ja, und sie glauben auch, dass nach einer kurzen Zeit des staatlichen Eingriffes alles wieder zum Alten zurückkehren werde. Aber das wird nicht passieren.

Warum denn nicht?

Es ist ganz einfach: Entweder hören wir mit der Ideologie des grenzenlosen Wachstums auf, oder es passiert eine schreckliche Kata­strophe. Entweder wandelt sich die Gesellschaft, scheitert aber dieser Versuch, dann kommt die Finsternis. Heute geht es um das Überleben der Menschheit.

Sie mögen es dramatisch.

Nein. Die Menschheit kann nicht zum Laisser-faire-Kapitalismus der letzten Jahrzehnte zurückkehren. Die Zukunft kann keine Fortsetzung der Vergangenheit oder auch der Gegenwart sein. Die Lösung liegt in der richtigen Kombination aus Markt und Staat.

Das könnte auch der Marktradikale Guido Westerwelle sagen, genau so!

Nein. Es kann so nicht weitergehen. Wir werden Gesellschaften bekommen müssen, in denen der Staat wieder eine größere Rolle, eine viel größere Rolle spielt.

Und das ist alles?

Anders geht es im Moment nicht, oder soll ich auf die große Revolution hoffen? Nein, die Zeit drängt. Die Welt riskiert im Augenblick eine Explosion wie eine Implosion. Sie muss sich also ändern.

Aber danach sieht es nicht aus: Mit der Abwrackprämie etwa hier in Deutschland wird die Wegwerfgesellschaft sogar noch staatlich subventioniert.

Die Politiker sind Gefangene des alten Denkens, das ist beängstigend. Womöglich kann sich der Kapitalismus tatsächlich nur durch eine Riesenkatastrophe retten, wie es Schumpeter nennen würde, durch eine »kreative Zerstörung«. Ich möchte das nicht, aber sehen Sie, die Schäden und Zerstörungen nach dem Zweiten Weltkrieg waren ein ungeheurer Ansporn zum Aufbau.

Sie sind ein Apokalyptiker.

Ich stelle nur fest: Keiner kann wissen, wie wir aus der Krise kommen, denn so etwas wie heute hat es noch nie gegeben. Und noch etwas kommt hinzu: Die Weltwirtschaft verschiebt sich vom Westen, ihrem historischen Zentrum, in ein neues Zentrum, nach Asien – ein Vorgang, der schon in normalen Zeiten für unruhige Zustände sorgen würde.

Was mich beunruhigt: Es herrscht – angesichts der Herausforderungen – eine Dürre des Denkens, eine Art intellektuelle Wortlosigkeit.

Ja, Sie haben recht. Es fehlen heute Leute und Denker wie Keynes, der in den 30ern so weitsichtig war, dass es ihm gelang, den Kapitalismus zu bändigen. Er wollte den Kapitalismus nicht überwinden, er wollte ihn stabilisieren, er wollte ihn retten. Er sagte ganz offen: »Meine Klasse ist das gebildete Bürgertum, und ich möchte eine Welt, in der es Leuten wie mir gut geht. Aber das heißt, es muss den anderen auch gut gehen.«

Also: Was ist zu tun?

Ich sehe nur einen Weg aus dem Dilemma, der aber setzt eine fundamentale Bewusstseinsveränderung voraus, er ist ein internationales, ein Riesenprojekt: die Welt gegen die Umweltgefahr sicherer machen. Das würde helfen, die Wirtschaft anzukurbeln, aber es wäre auch ein Projekt, das man gegen die Marktkräfte durchsetzen müsste.

Mein Gott, für einen alten Marxisten hören Sie sich sehr bescheiden an!

Ja. Ich bin nun 92 Jahre alt, lebe von einem Tag auf den anderen, aber meine Utopie ist schon noch die vom alten Marx, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, »also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. Irgendwo in meinem Innern schlummert noch immer der Traum der Oktoberrevolution.

»Alle Revolutionen«, sagte aber Ihr Marx, »haben bisher nur eins bewiesen, nämlich dass sich vieles ändern lässt, bloß nicht die Menschen«.

Das stimmt. Aber eine große Sache ist es dennoch, dieses Prinzip Hoffnung. Auch wenn die ideale Gesellschaft, wie Max Weber glaubte, jenseits unserer Möglichkeiten liegt, ist nichts Ernsthaftes in der Politik zu erreichen, wenn man nicht an sie glaubt. Der Mensch hat die Anlagen zum Guten wie zum Schlechten – und wie er sich benimmt, das kann man wohl ändern! Dass unsere Welt, immer noch oder endlich mal Heimat für alle werden kann – das ist doch ein schönes Ziel!

Eric Hobsbawm, 1917 im ägyptischen Alexandria geboren, war einer der letzten Universalgelehrten. Der Sohn eines Engländers und einer Österreicherin erlebte in den frühen 1930er Jahren als Schüler in Berlin die um sich greifende Arbeitslosigkeit, die ihn zum »lebenslänglichen Marxisten« machte. Kurz nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler emigrierte er nach England, später lehrte er in Cambridge, Paris, Stanford, am MIT in Boston und an der University of London. Zu seinen Werken, die weltweit verlegt werden, gehört Das Zeitalter der Extreme oder seine Biografie Gefährliche Zeiten. »Was Shakespeare für die Darstellung der menschlichen Seele getan hat, das ist dem Historiker Hobsbawm bezüglich der Universalgeschichte gelungen«, so die Süddeutsche Zeitung. Hobsbawm, den die britische Königin zum »Companion of Honour« ernannte, starb 2012 In London.

Lesetipp: Arno Luik: „Als die Mauer fiel, war ich in der Sauna. Gespräche über den Wahnsinn unserer Zeit mit Ina Müller, Sahra Wagenknecht, Yanis Varoufakis, Jean Ziegler, u.v.m.“, 288 Seiten, Westend Verlag, 14.3.2022

Titelbild: © Little, Brown

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