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Der 27. Februar 2022, oder: Ich kenne keine Parteien mehr

Published On: 3. Mai 2022 8:51

Bis vor ein paar Tagen dachte ich, dass diese Gedanken: „Der 27. Februar 2022, oder: Ich kenne keine Parteien mehr“, die ich direkt nach der historischen Sonntags-Bundestagssondersitzung zum Ukrainekrieg hatte, zu pessimistisch, zu düster, zu schwarz seien. Gegen alle Düsternis hoffte ich dennoch, dass alle – in Ost und West – bald zur Vernunft kommen würden und das furchtbare Leid bald vorbei sei. Es kam anders. Ein Essay von Arno Luik.

Wenn Deutschland bis an die Zähne gerüstet ist, / Wird ihm ein großes Unrecht geschehen / Und der Trommler wird seinen Krieg führen“ – Bertolt Brecht

Der 24. Februar 2022, als Russland die Ukraine angriff, war ein schwarzer Tag. Der 27. Februar aber war der Tag, an dem der 3. Weltkrieg begonnen wurde.

Am 27. Februar, einem sonnigen Sonntagmorgen, verkündet der SPD-Kanzler eine Hochrüstung ohnegleichen, verkündet er apodiktisch die Übererfüllung des 2-Prozent-Kriegsetats. Erklärt er, um „jeden Fußbreit Europas“ zu kämpfen. Parlament? Debatte? Demokratie?

1914 bewilligt die SPD Kriegskredite. Vier Jahre später sind über 20 Millionen Menschen dahingeschlachtet, verhungert, erfroren.

1928 bewilligt die SPD Gelder für Kriegsschiffe. Das freut Hitler sehr.

1998 ziehen SPD und Grüne in den völkerrechtswidrigen Kosovokrieg. Und bomben in diesem Angriffskrieg mit der US-Nato Kosovo aus dem jugoslawischen Staatenbund.

2001 ziehen SPD und Grüne „bedingungslos“ an der Seite der Taliban-Schöpfer USA in den Afghanistankrieg gegen die von den USA kreierten Taliban-Monster.

2003 zerschlagen SPD und Grüne mit der Agenda 2010 den Sozialstaat. Verkündet damals von Schröder mit ähnlich kalt-brutal-düsterer Stimme wie heute nun Scholz die Über-Rüstung befohlen hat.

2008 finanzieren SPD und CDU in der Finanzkrise mit Hunderten von Millionen Euro die Verursacher der Finanz“krise“ – und die Bevölkerung bezahlt und zahlt noch heute.

2022 Scholz‘ Hochrüstungsbeschluss, der aus Deutschland Sparta macht, einen militärischen Hegemon in Zentraleuropa schafft, der sich in Sachen Militär und damit zwangsläufig Krieg der „historischen Zurückhaltung“ entsorgt hat und dafür sorgen wird, dass „Blut, sehr viel Blut fließen wird“ (Eric Hobsbawm).

2022 an diesem kalten 27. Februartag beklatschen die meisten Parlamentarier stehend ihre Entmündigung, wie sie 19 Jahre zuvor begeistert und auch stehend das Ende des Sozialstaats beklatscht haben, wie viele Jahre zuvor ebenfalls Deutsche an einem kalten Februartag frenetisch klatschten in einem Spo… ich lass es.

So dachte ich am 27. Februar 2022.

Heute bin ich viel pessimistischer – wahrscheinlich aber leider auch viel realistischer.

Heute halte ich wie der Historiker Eric Hobsbawm „alles für möglich“, also auch das bisher Undenkbare: das atomare Inferno. Ich war noch nie so perplex und so bedrückt wie in diesen Tagen. Wir erleben einen Epochenbruch, allerdings anders als Scholz und Co ihn mein(t)en; es ist ein viel schlimmerer, nämlich: Der Austritt aus uns selbst, den halbwegs geläuterten Tätern.

Nun gibt es keinen Blick mehr zurück, nur noch das scheinbar alternativlose martialische Nach-vorne-Schreiten. Es folgt, fürchte ich, dem Drehbuch von 1914 ff: stete, schließlich grenzenlose Eskalation, bis der Große Krieg unvermeidlich, ja, als Befreiung erscheint. Also: Das brutale Dahinschlachten von Mensch & Zivilisation.

Die Jungen werden kämpfen, vergewaltigen, morden, sterben, verrecken und viele, viele Zivilisten werden verzweifeln, verstümmelt, verhungern und irgendwann – wenn es noch möglich ist, und es uns noch gibt – werden die Alten (wie fast immer) einen schäbigen Friedensvertrag aushandeln, der den Keim von weiterer Verbitterung in sich trägt, aber die „Masters of War“ (Bob Dylan) glänzend ernährt. Wie immer.

Ich weiß, dass in einer Zeit, in der das Schreien nach noch mehr Waffen als Wirklich–Frieden–Schaffen gilt, als oberste Bürgerpflicht sozusagen; der Ruf nach Zurückhaltung, Abrüstung, Diplomatie, Verhandlungstisch und Vernunft die Durchschlagskraft einer fallenden Daunenfeder hat. Denn kollektiv ist die Entsorgung der Nachdenklichkeit und groß ist diese neue Lust auf schweres Militärgerät und die Begeisterung für Pulverdampf und Stahlgewitter – beispielhaft dafür steht der Nato-olivgrüne Anton Hofreiter, ein völlig enthemmter Kriegsfundi.

Und so blicke ich heute auf die Welt, wie vor einigen Jahren der alte und weise Historiker Eric Hobsbawm im Gespräch mit mir sie ausmalte:

Alles ist möglich. Inflation, Deflation, Hyperinflation. Wie reagieren die Menschen, wenn alle Sicherheiten verschwinden, sie aus ihrem Leben hinausgeworfen, ihre Lebensentwürfe brutal zerstört werden? Meine geschichtliche Erfahrung sagt mir, dass wir uns – ich kann das nicht ausschließen – auf eine Tragödie zubewegen. Es wird Blut fließen, mehr als das, viel Blut, das Leid der Menschen wird zunehmen, auch die Zahl der Flüchtlinge. Und noch etwas möchte ich nicht ausschließen: einen Krieg, der dann zum Weltkrieg werden würde.“

Diese Gedanken – zu pessimistisch, zu düster, zu schwarz? Wie Schlafwandler, schrieb der Historiker Christopher Clark, taumelten 1914 die Politiker in die Katastrophe.

108 Jahre später schlafwandeln sie nicht, es ist verheerender: Heute bereiten sie hellwach die totale Katastrophe vor. Und fühlen sich dabei moralisch jenen unangreifbar überlegen, die zu militärischer Mäßigung mahnen. Das macht diese Kriegstreiber, Entschuldigung, Kriegstreiber*Innen so gefährlich.

Das 20. Jahrhundert war das „Zeitalter der Extreme“ (Hobsbawm), das 21. Jahrhundert wird womöglich „das Zeitalter des Endes“.

Das große Karthago führte drei Kriege. Nach dem ersten war es noch mächtig. Nach dem zweiten war es noch bewohnbar. Nach dem dritten war es nicht mehr aufzufinden.“ – Bertolt Brecht

Titelbild: Juraj Kamenicky/shutterstock.com

Im „stern“ vom 23.10.2014 kritisierte Arno Luik die deutsche Aufrüstungspolitik: „Lizenz zum Töten“. Ein paar Monate später analysierte er in seinem Essay „Die Schlafwandler rücken aus“ die zunehmende Bereitschaft der Regierenden, in Kriege zu ziehen.

Arno Luik, geboren 1955, war Reporter für Geo und den Berliner Tagesspiegel, Chefredakteur der taz, Vizechef der Münchner Abendzeitung und langjähriger Autor der Zeitschrift Stern. Für seine Enthüllungen in Sachen Stuttgart 21 erhielt er den „Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen“ des Netzwerks Recherche. 2019 erschien von ihm bei Westend der Bestseller „Schaden in der Oberleitung – Das geplante Desaster der Deutschen Bahn“.

Gespräche von „Deutschlands führendem Interviewer“ (taz, Peter Unfried) sind in mehr als 25 Sprachen übersetzt worden; für sein Gespräch mit Inge und Walter Jens wurde Luik 2008 als „Kulturjournalist des Jahres“ ausgezeichnet. Nun hat er über zwanzig seiner besten Interviews in dem Buch „Als die Mauer fiel, war ich in der Sauna“: Gespräche über den Wahnsinn unserer Zeit zusammengestellt. Das Buch enthält Interviews mit Angela Merkel, Yanis Varoufakis, Christine Prayon, Jean Ziegler, Markus Lanz, Nathalie Todenhöfer, Ferdinand von Schirach, Thomas Buergenthal, Ina Müller, Inge und Walter Jens, Roland Kaiser, Gisela Getty und Jutta Winkelmann, Oswalt Kolle, Sahra Wagenknecht, Günter Thews, Eric Hobsbawm, Gore Vidal, Angelika Schrobsdorff, Harry Mulisch, Barbara Schöneberger und Hans-Ulrich Wehler.

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