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Die Bundesregierung schert sich nicht um einen Alarm-Bericht des Rechnungshofs

Published On: 26. Mai 2022 17:05

Der Bundesrechnungshof präsentiert der Bundesregierung einen alarmierenden Bericht über die Instabilität der Sozialversicherungen. Die betroffenen Ministerien reagieren phlegmatisch: Das sei nichts Neues. Also kein Anlass zur Kurskorrektur.

IMAGO / Future Image

Selten hat eine Regierung derart offen zugegeben, dass sie sich für die langfristige Zukunft des eigenen Landes nicht interessiert. Drei Bundesministerien reagieren auf einen wissenschaftlich unterlegten Alarmschrei des Bundesrechnungshofes, der bis ins Jahr 2060 vorausblickt und der Bundesregierung einen Mangel an Vorsorge in den sozialen Sicherungssystemen vorwirft, mit einem geradezu aufreizenden Phlegma. In ihrer jüngsten Reaktion auf einen Bericht dieser obersten Bundesbehörde haben die Ministerien für Arbeit, Gesundheit und Finanzen klar gemacht, wie wenig sie auf solch eine unabhängige, aber auch machtlose Instanz geben. Und wie gleichgültig die langfristige Zukunft ihnen ist.

Der Reihe nach: In dem Bericht an den Haushaltsausschuss des Bundestages, der der Welt vorliegt, warnen die Kassenhüter, dass der Sozialbeitragssatz von derzeit knapp 40 auf 53,3 Prozent im Jahr 2060 steigt, wenn nicht bald Gegenmaßnahmen ergriffen würden. Der Bundeszuschuss aus Steuermitteln für Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung werde sich dann auf 454 Milliarden Euro vervierfachen. Wenn der Sozialbeitragssatz bei 40 Prozent eingefroren würde, und die Zuschüsse stattdessen über Staatsschulden finanziert würden, stiege der Schuldenstand auf rund 140 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.  

Die Bundesregierung wird aufgefordert, ihre bisherigen Ziele Beitragsstabilität, Erhaltung des Versorgungsniveaus, keine Steuererhöhungen und keine Neuverschuldung aufzugeben. Zumindest Letzteres hat sie ja auch schon getan. Nur durch höhere Beiträge, Minderung der Leistungen und höhere Bundeszuschüsse könnten die Sozialversicherungen zukunftsfest werden.

Zunächst schlägt der Bericht eine Koppelung der Altersgrenze an die steigende Lebenserwartung vor. Das Renteneintrittsalter würde demnach auch nach der Einführung der Rente mit 67 weiter schrittweise steigen und 2060 voraussichtlich bei 69,5 Jahren liegen. Außerdem solle eine kapitalgedeckte Zusatzrente obligatorisch werden, in die die Versicherten drei Prozent des Bruttogehalts abführen müssen. Die gesetzliche Krankenversicherung müsse mit höheren Zuzahlungen der Patienten entlastet werden. Frührentner sollten höhere Beiträge für die Kranken- und Pflegeversicherung leisten. 

Besonders brisant: Künftige Beamte sollten in die Kranken- und Pflegeversicherung einbezogen werden. In die Rentenversicherung sollten sie jedoch nicht einbezogen werden, weil sie aufgrund ihrer statistisch längeren Lebenserwartung den Kassen keine Erleichterung brächten. 

Selbst wenn alle Vorschläge umgesetzt würden, ließe sich aber der Anstieg des Sozialversicherungsbeitragssatzes nur um 4,5 Prozentpunkte bremsen. Er läge 2060 dann bei 48,8 Prozent. Dann würden die Sozialversicherungen fast 30 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung beanspruchen. 

Die unter Politikern besonders beliebte Hoffnung auf Lösung des Problems durch Zuwanderung macht der Bericht des Rechnungshofes zunichte. Das ist keine revolutionäre Erkenntnis, sondern lange bekannt: Auch Zuwanderer altern und beziehen dann Leistungen.

Der Bericht, den der künftige „Wirtschaftweise“ Martin Wedding von der Ruhr-Universität Bochum federführend verfasst hat, beruhe auf moderaten Annahmen zu Arbeitsmarkt, Einkommen und Bevölkerungsentwicklung. 

Wie reagiert nun die Bundesregierung? Sie hat, wie die Welt schreibt, klargemacht, dass sie kein Interesse an dem alarmierenden Bericht hat. Man sehe keinen Anlass für eine Kurskorrektur. Der Bericht zeige nichts Neues, heiße es in einer gemeinsamen Stellungnahme der Ministerien für Arbeit, Gesundheit und Finanzen. Was wohl sogar stimmt, denn die strukturelle Nichtnachhaltigkeit der Sozialversicherungen ist tatsächlich schon lange bekannt. Die Ministerien verweisen auch auf den Koalitionsvertrag. Der scheint eine größere Bindungskraft für die Bundesregierung zu besitzen als die Vorsorge für die Sozialversicherungssysteme.

Man muss diese fast zynisch erscheinende Reaktion, zu der auch ein Verweis auf die großen Unsicherheiten von Langfristprojektionen gehört, wohl als Beleg dafür begreifen, dass eine langfristig angelegte, vorsorgende Politik nicht im Interesse der gegenwärtigen politischen Akteure liegt – zumindest wenn sie mit aktuell höchst unattraktiven Maßnahmen verbunden ist. 2060 dürften die meisten der heute politisch Verantwortlichen nicht mehr leben oder zumindest nicht mehr politisch aktiv sein.

Die Verwendung des Schlagwortes Zukunft in der politischen Werbung ist offenkundig umgekehrt proportional zur tatsächlichen Zukunftsorientierung des politischen Betriebes. Das wirkliche Motto lautet dort mehr denn je: Nach uns die Sintflut.

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