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Die Amerikanisierung Europas und ihr notwendiges Ende – Warum die EU und vor allem Deutschland sich von »America First« befreien müssen

Published On: 3. Juni 2022 10:30

Der Krieg in der Ukraine und die europäischen Reaktionen darauf zeigen einmal mehr, wie sehr Europas Politik die Interessen der USA priorisiert – sie scheinen sogar wichtiger zu sein als die eigenen europäischen Interessen. Diese Entwicklung ist nicht vom Himmel gefallen, sondern Folge einer langen und sehr erfolgreichen Einflusspolitik der USA. Werner Rügemer hat diese Entwicklung in einem vor der russischen Invasion geschriebenen Beitrag für den neu erschienenen Sammelband „Fortschritt in neuen Farben? Umbrüche, Machtverschiebungen und ungelöste Krisen der Gegenwart“ skizziert, den die NachDenkSeiten heute ihren Lesern vorstellen wollen.



Führende EU-PolitikerInnen fordern seit einigen Jahren immer stärker eine »größere Unabhängigkeit Europas«. Doch in Wirklichkeit wächst die Gefolgschaft der EU gegenüber den USA in mehrfacher Hinsicht: militärisch, investiv, außenpolitisch, finanziell, kulturell, geheimdienstlich. Das hat eine hundertjährige Vorgeschichte, die vielen Europäern, auch Linken gerade in Deutschland, immer noch weitgehend unbekannt ist. Es gehört im 21. Jahrhundert zu den Existenzfragen der Menschheit, ob und wie sich Europa und Deutschland auf friedenspolitischer Grundlage von einer imperialen Politik lösen kann, die seit Jahrzehnten US-dominiert ist.[1]

Umkehrung des Verhältnisses durch den Ersten Weltkrieg

Bis Anfang des 20. Jahrhunderts waren US-Unternehmen auf Kredite europäischer Banken, insbesondere aus Frankreich und England, angewiesen. Auch die Nord- wie die Südstaaten wurden für den Bürgerkrieg von europäischen Banken und Börsenplätzen mitfinanziert, vor allem aus London, Paris, Frankfurt und Amsterdam.[2] Ab den 1870er Jahren war etwa die Deutsche Bank an der Elektrifizierung des Landes beteiligt.

Die Wall Street war durch eingewanderte Bankiers aufgebaut worden. Die Gründung der US-Zentralbank Federal Reserve 1913 durch Wall-Street-Banken markiert einen Einschnitt: Die Kreditmöglichkeiten für die Banken selbst wie für den Staat wurden enorm ausgeweitet. So finanzierten nun v. a. US-Banken den Krieg in Europa, insbesondere finanzierten sie Frankreich und England.

Durch den unter Führung von US-Präsident Woodrow Wilson abgeschlossenen Versailler Vertrag wurde das Deutsche Reich der Hauptschuldner und, um auch die Kriegsreparationen zahlen zu können, Hauptempfänger von US-Krediten: Sie gingen an die Deutsche Reichsbank, an deutsche Unternehmen, aber auch an US-Unternehmen: Sie kauften in Westeuropa Unternehmen oder Unternehmensanteile und errichteten Tochterfirmen, so etwa Ford, General Motors, IBM, ITT, General Electric, International ­Harvester, Coca-Cola und Hollywood-Firmen wie Paramount. Dabei spielten der Dawes-Plan (1924) und der Young-Plan (1929) eine wichtige Rolle. Auch in faschistischen Regimen wie unter Benito Mussolini in Italien oder Francisco Franco in Spanien, von den USA schnell diplomatisch anerkannt, wurde kräftig investiert.[3] Schwerpunkt war allerdings der technologisch führende Standort Deutschland, hier waren Anfang der 1930er Jahre einige hundert der wichtigsten US-Unternehmen präsent.[4]

So entstand auch mithilfe der USA in Hitler-Deutschland die modernste Militärmaschine Europas – und keineswegs unterbrochen im Zweiten Weltkrieg. Trotz militärischer Feinderklärung durch die US-Regierung produzierten Ford, General Motors, IBM, Hollywood und Co. auch im Krieg für das NS-System, für die Wehrmacht und auch für die KZ-Verwaltung.[5]

Die von der Wall Street 1930 in Basel/Schweiz gegründete Bank for International Settlements (BIS, Bank für Internationalen Zahlungsausgleich/BIZ, Zentralbank der Zentralbanken auch heute) wusch Raubgold und Raubaktien, die die Wehrmacht aus den besetzten Staaten herausholte, und verschaffte dem Deutschen Reich international notwendige Devisen für die Beschaffung von Rohstoffen und Kriegsmaterial.

In der BIS kooperierten auch während des Krieges die Zentralbanken der militärisch verfeindeten Staaten, also USA und Deutschland, Japan, Frankreich, Belgien, Italien, Schweden usw. Nur die Sowjetunion war nicht vertreten, die Leitung hatte der Wall-Street-Banker Thomas McKittrick.[6]

US-Neuordnung (West)Europas I: Marshall-Plan

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die USA die neue westliche Supermacht. Nicht nur (West-)Deutschland war wesentlich geschwächt, sondern auch die anderen imperialistischen und kolonialistischen Staaten Europas, insbesondere Großbritannien und Frankreich, aber auch die kleineren Staaten Italien, Belgien, Portugal und die Niederlande. Vor allem Großbritannien war bei den USA tief verschuldet.

USA nach dem Krieg: Den Wirtschaftsboom fortsetzen | Die USA hatten sich durch den Zweiten Weltkrieg endlich aus der tiefen Produktionskrise, die 1928 begonnen hatte, befreit. Den Kriegsboom, den größten Wirtschaftsboom, den die USA bis dahin erlebt hatten, wollten sie nach dem Krieg fortführen. Nach dem Dawes-Plan folgte der viel umfangreichere Marshall-Plan (1947).

Das treibende Motiv des Plans war nicht die vielbeschworene »Hilfe« für das zerstörte Europa – denn zum einen war nur das kapitalistische Westeuropa gemeint, nicht die am meisten zerstörte Sowjetunion und andere von den Nazis verwüstete osteuropäische Staaten. Zum anderen galt die Hilfe vorrangig den USA, ihren Unternehmen und Banken selbst.

Das Marshall-Programm wurde von denen geleitet, die schon die transatlantischen Beziehungen zwischen US-Unternehmen und europäischen, insbesondere deutschen Konzernen vor und während des Krieges gestaltet hatten. So etwa war McKittrick, von 1940 bis 1945 Chef der u. a. als NS-Finanzier fungierenden BIS, in der Pariser Zentrale des Marshall-Plans zuständig für die Finanzabwicklung. So wurde der Wall-Street-Anwalt, dann stellvertretende Kriegsminister (»Assistant Secretary of War«), dann Präsident der Weltbank, John McCloy, zum Marshall-Plan-Beauftragten für die neu gegründete Bundesrepublik Deutschland und ab 1949 auch zu deren US-Hochkommissar.

Ausschluss sozialistischer Parteien und Staaten | Für den Erhalt von Marshall-Hilfen mussten die Empfänger das Politik-, Parteien- und Gewerkschaftssystem antikommunistisch säubern. Kein Kommunist durfte Regierungsmitglied werden. Sozialisten und Sozialdemokraten durften sich nur dann an einer Regierung beteiligen, wenn sie zugleich antikommunistisch waren. Sogar der konservative Charles de Gaulle, der mit »Freies Frankreich« gegen die Nazis gekämpft hatte, wurde von den USA schon 1946 aus der Regierung verdrängt.

Sozialistische Staaten wollten und konnten sich dem Marshall-Regelsystem nicht anschließen. Das hatten die USA von vornherein geplant und schlossen die Sowjetunion schon 1944 bei der Gründung des Internationalen Währungsfonds IWF und der Weltbank aus.

Öffnung für den Marshall-Plan: Krieg der USA in Griechenland | Wenn es nötig schien, verschärften die USA auch Bürgerkriege. Sie wurden dann anders entschieden als es nach den Kräfteverhältnissen im Land gekommen wäre. 300 CIA-Agenten, 450 US-Militär- und 1.200 US-Wirtschaftsberater wurden 1947 als American Mission for Aid to Greece (AMAG) eingesetzt. Sie unterstützten nationalistische und monarchistische Militärs in Griechenland (die teilweise mit den Nazi-Besatzern kooperiert hatten) durch Geld, Sturzkampfbomber und Napalmbomben. Reiche griechische Unternehmerfamilien, darunter Reeder wie Aristoteles Onassis, wurden subventioniert. Die schwächelnde Kolonialmacht Großbritannien zog sich aus ihrem traditionellen Einflussbereich zurück und überließ der neuen Supermacht das Feld.[7] So wurde die demokratische und antifaschistische Befreiungsbewegung mitten in »Friedenszeiten« vernichtet: Zwischen 1948 und 1952 wurden zehntausende Kommunisten und Linke eingesperrt, über 1.500 wurden hingerichtet. Dann flossen auch die Gelder des Marshall-Plans. Zum »Kalten Krieg« gehörten für die USA immer auch »heiße« Kriege.

Antikommunistische Steuerung der Gewerkschaften | Der mit der CIA verbundene US-Gewerkschafts-Dachverband AFL-CIO infiltrierte, finanzierte, spaltete, erpresste ab 1945 Gewerkschaften und sozialdemokratische Parteien und Funktionäre in allen westeuropäischen Staaten, so in Frankreich, Italien, Großbritannien, Westdeutschland, aber auch etwa in den skandinavischen Staaten.

Antifaschismus und Kapitalismus-Kritik wurden weitgehend ausgetrieben. Gegen den 1945 gegründeten überparteilichen Welt-Gewerkschaftsbund initiierten die USA über den AFL-CIO den antikommunistischen Internationalen Bund Freier Gewerkschaften, in den der DGB, der englische TUC usw. aufgenommen wurden.[8]

Noch in den 1970er Jahren war z. B. der hauptamtliche DGB-Funktionär Walter Boehm gleichzeitig Gehaltsempfänger des US-Geheimdienstes.[9]

Seit den 1980er Jahren: Noch mehr transatlantische Investitionen

Der Marshall-Plan löste eine dauerhafte US-Investitionswelle aus, die weit über den Umfang der Plan-Hilfen hinausging: Während die US-Investitionen zwischen 1950 und 1970 in Lateinamerika auf das Dreifache stiegen, in Asien (einschließlich Japan) auf das Fünffache, im traditionellen Nachbarschaftsmarkt Kanada um das Sechsfache, stiegen sie in Westeuropa um das Vierzehnfache. Aber das war nicht das Ende.

US-Berater: Für DDR-Verkauf, Privatisierung, Rüstungsbeschaffung … | Ab den 1980er Jahren wurden Wall-Street-Investmentbanken wie JP Morgan und Goldman Sachs, teilweise vermittelt über die Europäische Kommission, in EU-Staaten für die Privatisierung der großen staatlichen Unternehmen wie Post, Bahn, Medien und deren Börsengänge herangezogen, zuerst in Großbritannien durch die Tory-Regierung von Thatcher, dann auch etwa durch die von Bundeskanzler Kohl geführte Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP: Sie holte ab 1990 JP Morgan, McKinsey, Pricewaterhouse­Coopers (PwC) usw. als Berater in die Treuhand-Anstalt, um die Betriebe der Ex-DDR möglichst schnell und billig zu privatisieren.[10]

McKinsey, PwC, Ernst&Young, Freshfields, Fleishman Hillard und Accenture – die »zivile Privatarmee des transatlantischen Kapitals« – sind zu Dauer-Beratern nicht nur der großen privaten Unternehmen in der EU geworden, etwa bei Bilanzen, Übernahmen, Fusionen und Börsengängen, sondern auch der EU-Regierungen wie der deutschen und auch der Europäischen Kommission, so bei Flüchtlingspolitik, Rüstungsbeschaffung oder Jobcenter-­Umgestaltung.

Und die drei großen US-Ratingagenturen Standard&Poor’s, Moody’s und Fitch beherrschen auch in der EU die Bonitätsbewertung nicht nur der Unternehmen, sondern auch der EU-Staaten und legen deren Kreditkonditionen fest, für den griechischen genauso wie für den deutschen Staat.[11]

Weitere US-Investionen: De-Industrialiserung der EU | Trotz der verstärkten Investitionen westeuropäischer Banken und Unternehmen seit den 1980er Jahren in den USA blieb die US-Dominanz nicht nur erhalten, sondern wurde seit Beginn des 21. Jahrhunderts weiter ausgebaut.

Dabei haben die US-Akteure die EU-Staaten Irland, Luxemburg, die Niederlande und auch die City of London zu besonders willigen Finanzoasen ausgebaut – mit Hilfe und aktiver Duldung der EU. Die strukturelle Verarmung der staatlichen Haushalte in der EU sind die Folge, Verfall oder teure Privatisierung der Infrastruktur inbegriffen.

Mit Beginn des 21. Jahrhunderts förderte die deutsche Regierung aus SPD/Grünen unter Kanzler Gerhard Schröder mit dem Programm »Entflechtung der Deutschland AG« durch Deregulierungen und Steuerbegünstigungen den Kauf deutscher Mittelstandsunternehmen und öffentlicher Wohnungsbestände durch Private-Equity-Investoren (»Heuschrecken«) wie Blackstone und KKR – Vorbild für die ganze EU.

Verwertung der Substanz, De-Industrialisierung | Das Prinzip: Die vorhandene wirtschaftliche Substanz verwerten, Arbeitseinkommen senken, Gewinne rausziehen, keine Zukunftsinvestitionen. Ergebnis: Investive Entmächtigung der EU, De-Industrialisierung, Absturz gegenüber den USA und v. a. der Volksrepublik China.

Mit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 drangen dann die größeren Kapital-Organisatoren der Ersten Liga ein, wieder v. a. aus den USA: BlackRock, State Street, Vanguard und Co., neben vereinzelten Staatsinvestoren wie Norges (Norwegen), Temasek (Singapur) oder solchen aus den Golfstaaten. Sie sind nun die führenden und gleichzeitigen Eigentümer der wichtigsten Banken und Konzerne in Deutschland, Frankreich, Belgien, Niederlande, Großbritannien usw., auch in der Schweiz.

Und der gegenwärtig größte Kapital-Organisator, BlackRock, ist nicht nur gleichzeitig Aktionär in allen DAX- und weiteren hunderten deutschen Unternehmen – auch in den fünf größten Wohnungskonzernen – und in den bedeutendsten Unternehmen der wichtigsten EU-Staaten, sondern ist auch mit drei Managern in der US-Regierung von Joe Biden vertreten. Er ist gleichzeitig Berater der Federal Reserve, der Europäischen Kommission und der EZB, auch für die Umsetzung des Corona-Wiederaufbau-Programms der EU.[12]

Arbeitsverhältnisse und die Umdeutung der Menschenrechte | Die International Labour Organization (ILO) konkretisiert die Universellen Menschenrechte der UNO im Bereich der Arbeitsbeziehungen: Recht auf Arbeit, Recht auf freie Gewerkschaften und Streik, Recht auf Kranken-, Arbeitslosigkeits- und Rentenversicherung, gerechtes Arbeitsentgelt, Kündigungsschutz, Arbeits- und Ruhezeiten, bezahlter Urlaub, Verbot der Zwangs- und Sklavenarbeit, Schutz der Wanderarbeit usw. Die westlichen EU-Staaten haben in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg eine Vielzahl der knapp 200 ILO-­Konventionen ratifiziert.

Aber: Von 1948 bis ins Jahr 1970 war David Abner Morse Generalsekretär der ILO, länger als jemals ein anderer Generalsekretär vor oder nach ihm. Er war zuvor Vize-Arbeitsminister der US-Regierung und Arbeits-Berater der US-Militärregierung in Westdeutschland.

Die USA haben bis heute nur ein Dutzend der Konventionen ratifiziert, und schon gar nicht die wichtigsten – und stehen damit weltweit an vorletzter Stelle, weniger sind es noch bei Katar. Ein Hinweis darauf, warum die USA stets danach trachtete, dass einer der ihren, ob nun US-Bürger oder nicht, die ILO führt und neutralisiert. Unter der Regie von Morse wurden die ILO-Arbeitsrechte völkerrechtswidrig verdrängt, praktisch außer Kraft gesetzt, gezielt auch bei den Vorläufern der EU. Dies wirkt bis heute fort, etwa auch bei internationalen Freihandelsverträgen.

Dies steht im Kontext der US-geführten Umdeutung der Menschenrechte: Arbeits- und Sozialrechte raus, Individualrechte bleiben übrig, heute zugespitzt auf Diversität.

Working poor, working sick, migrantische Arbeit von legal bis illegal | US-Konzerne wie McDonald’s und UPS waren in Westeuropa ab den 1970er Jahren die Vorreiter für gewerkschaftsfeindliche prekäre Arbeitsverhältnisse. Working poor, zudem verbunden mit working sick, breitete sich von den USA kommend auch in der EU aus. Sie fördert den Ersatz des regulierten Voll- und Dauerarbeitsplatzes durch den hochflexiblen job nach US-Vorbild. Die Situation der abhängig Beschäftigten in der EU gleicht sich den US-Verhältnissen immer mehr an, auch mit der Nutzung legaler wie illegaler migrantischer Arbeit.

Seit Beginn der 2000er Jahre wurde die in den USA entwickelte Dienstleistung des Union Busting auch in der EU installiert: Professionelle Bekämpfung von unabhängigen Belegschaftsvertretungen. Wie in den USA besteht die Klasse der abhängig Beschäftigten heute aus vielfältigsten Gruppen, die nach Nationalität und Ethnie, rechtlichem Status, Arbeitsumfang und Legalität/Illegalität hochgradig und kaum organisierbar zersplittert sind und wo schon erste Ansätze einer Organisierung bekämpft werden.

Ost-Erweiterung und Digitalisierung | Mit der Osterweiterung der EU wurden und werden die neuen Mitglieds- und Anwärterstaaten zweifach genutzt: 1. für selektive Investitionen einzelner v. a. westlicher Unternehmen, ohne die Volkswirtschaft und die Infrastruktur zu fördern, 2. als Reservoir für millionenfache, befristete migrantische Arbeit in den Sektoren Bau, Logistik, Gesundheit, Landwirtschaft (Saisonarbeit), häusliche und Alten-Pflege, Gastronomie und auch Prostitution.

US-Konzerne wie Uber, Amazon, Facebook/Meta sind mit ihren EU-weiten Subunternehmerketten die Vorreiter der digitalisierten und durch Künstliche Intelligenz beschleunigten Prekarität (gig und crowd working, oft vertragslos, oft einseitiges anonymes Anweisungsverhältnis), zusätzlich befördert durch die Pandemie(-Politik).

US-Neuordnung (West-)Europas II: NATO

Im Vorfeld der NATO-Gründung wussten die Verantwortlichen in den USA: Die Sowjetunion bedeutet keine militärische Gefahr. Einen Angriff auf Westeuropa konnte die geschwächte Macht, selbst wenn sie wollte, nicht durchhalten: Die Wirtschaft der Sowjetunion war zu schwach; ihr Transportsystem zu unausgereift; ihre Ölindustrie ist viel zu leicht anzugreifen. Die Männer im Kreml sind kluge Tyrannen, urteilte der Chefplaner im State Department, George Kennan, die ihre innere Macht nicht durch militärische Abenteuer im Ausland aufs Spiel setzen. Dies hielt Kennan ab 1948 für Außenminister Marshall, Präsident Truman und die US-Botschafter in diversen Memoranden wiederholt fest.

Die Gründungslüge | Die tieferen Gründe für die militärische Besetzung Europas waren andere. Im März 1943 machte es der neoliberale Geostratege Walter Lippmann offiziell: Nach der Eroberung Nordamerikas, Mittelamerikas, der Karibik, der Philippinen und Inseln im Pazifik (Wake Islands, Guam, Hawaii…) seien die USA bisher gezwungen gewesen, »zwei Drittel der Erdoberfläche von unserer kontinentalen Basis in Nordamerika aus zu verteidigen.«

Jetzt aber eröffne sich mit der absehbaren Niederlage der Achsenmächte Deutschland, Japan, Italien eine neue Möglichkeit: Die USA können jetzt ihre »Verteidigungs«linie entscheidend erweitern, »indem wir unsere Außenpolitik auf zuverlässige Bündnisse in der alten Welt gründen.«[13]

1947: Vom Department of War zum Department of Defense | Von 1776 an, seit ihrer Gründung, hatten die USA faktengemäß ein Kriegsministerium (Department of War). Aber gerade jetzt, 1947, auf der erweiterten Stufe ihrer globalen Expansion, wurde das Kriegsministerium als Verteidigungsministerium (Department of Defense) deklariert. Dies war durchaus ein internationaler Trend, der es dem Kriegsbündnis NATO leichter machte, unter »Verteidigungs«Bündnis zu firmieren.

Die 1949 gegründete NATO war Zwillingsgeschöpf des Marshall-Plans. Das verkörperte George Marshall selbst: Während des Zweiten Weltkriegs koordinierte er als Chief of Staff das US-Militär auf allen Kriegsschauplätzen zwischen Nordafrika und Japan. Nach dem Krieg organisierte er als Außenminister von 1947 bis 1949 den nach ihm benannten Plan. Und 1950 organisierte er als US-»Verteidigungs«minister die im Jahr zuvor aus der Taufe gehobene NATO mit.

Die Fortsetzungslüge: EU-Osterweiterung mit NATO | Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die ins Feld geführte Legitimation für die NATO weggefallen. Aber für die USA als »einzige Weltmacht« war und ist die Beherrschung ganz Eurasiens »von Lissabon bis Wladiwostok« das Ziel, so 1996 der führende Berater mehrerer US-Präsidenten, Brzezinski. Der unter dem Deckmantel der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts der Völker – bis hin zur Behauptung, »ein neues Auschwitz« müsse verhindert werden –, geführte Krieg gegen Jugoslawien war ein Einschnitt. Heute ist man weiter: Russland muss erobert werden, auch um die großen Ressourcen nicht China zu überlassen; dafür ist die Ukraine der wichtigste Zwischenschritt, so das geostrategische Konzept.[14]

Alle osteuropäischen Staaten, ob Ungarn, Polen, Tschechien, Kroatien, Litauen usw. wurden und werden zuerst Mitglieder der NATO, bevor sie nach einigen Jahren auch EU-Mitglied werden dürfen. Der Kosovo wurde völkerrechtswidrig von Serbien abgetrennt und zum Staat erklärt (bis Ende 2021 von gut 100 Ländern, darunter 22 der 27 EU-Staaten, anerkannt), um dort, umgeben von Armut und Korruption, den neuen US-Militärstützpunkt Bond Steel zu betreiben.

So sind zwar die britischen, französischen, belgischen und niederländischen Besatzungstruppen aus der Bundesrepublik abgezogen, aber nicht die US Army und nicht die US-Atombomben – im Gegenteil: Die etwa drei Dutzend US-Militärstützpunkte und Operationsbasen werden umgebaut, erweitert, modernisiert, für Kriege in Asien, »Operationen« in Afrika und den Aufmarsch gegen Russland. Kein größerer Staat der Welt ist so dicht mit ausländischem, also US-Militär, besetzt wie der »mächtigste« EU-Staat, und dies verschärft in den 16 Regierungsjahren der »mächtigsten Frau der Welt«.

Befreiung von »America First«!

Die deutsche Bundeskanzlerin ließ sich und ihre Regierungsmitglieder von US-Geheimdiensten ausspionieren. Aber selbst als dieses Mal zufällig und kurzzeitig bekannt wurde – Frau Merkel unternahm nichts dagegen. Das gehört seit Bundeskanzler Adenauer zum Standard dieser besonders tiefen transatlantischen »Freundschaft«. Ergebnis: Die Macht Deutschlands und der EU erodiert, auf allen technologischen und geostrategischen Gebieten, so der außenpolitische Thinktank European Council on Foreign Relations.[15]

»Machtlos gegen Big Tech« | Die EU hat seit einem Jahrzehnt auf strategisch wichtigen Feldern immer wieder versucht, die US-Vorherrschaft zumindest etwas zu begrenzen: Bei der organisierten Steuerflucht von US-Unternehmen, bei der Einschränkung des Wettbewerbs durch die großen fünf US-Digitalkonzerne Google, Apple, Microsoft, Facebook und Amazon (GAMFA), bei der Abschöpfung von Bürger- und Unternehmensdaten und deren Transfer in die USA, bei der Abhängigkeit der EU im Bereich der Software, der Chip-Produktion und der Clouds.

Es wurden schon mal ein paar Milliarden Bußgelder eingetrieben – aber die Strukturabhängigkeit von den Digitalkonzernen wächst, noch beschleunigt mit der Pandemie-Politik. Dabei werden die dreistelligen Millionenbeträge nicht einmal thematisiert, mit denen die GAMFA mitunter Lehrstühle finanzieren und über häufige und große Anzeigen auch Abhängigkeiten der sogenannten Leitmedien in der EU schaffen, in Deutschland von taz bis FAZ.

Da bilanziert die FAZ: »Verzweifelte Aufholjagd einer Schlüsselindustrie. Brüssel will die Chip-Branche in der EU vor dem Niedergang retten. Der aber ist längst im Gange.«[16] Und das Handelsblatt bilanziert: »Machtlos gegen Big Tech«. Deshalb schlägt die US-­lastige Unternehmer-Postille als »Lösung« offen vor: »Mit Apple und Google verbünden«![17]

Noch mehr Unterwerfung trotz wachsender Zweifel an der Supermacht | Zwei Jahrzehnte haben die wichtigsten und auch kleine EU-Staaten und ebenso ihre Neutralität zelebrierende Staaten wie die Schweiz den US- und NATO-Krieg in Afghanistan mitgetragen: militärisch, finanziell, propagandistisch, geheimdienstlich und übrigens auch mit christlich-kirchlicher Beweihräucherung vor Ort. Ergebnis: Millionen Menschen auf der Flucht, hunderttausende Tote, ein destabilisiertes und verarmtes Land, mit vielgestaltig korrumpierten Marionettenregierungen, Oligarchen, war lords, einheimischen »Menschenrechtlern« und »Ortskräften« sowie eine wieder zur Macht gekommene Taliban-Regierung. Das nur als ein Beispiel, ein aktuelles, für die menschenrechtlich, moralisch, politisch, finanziell und sogar noch militärisch desaströse US- und NATO-­Gefolgschaft.

Selbst ein transatlantisches Flaggschiff wie die »Zeitung für Deutschland« konstatiert die technisch-finanzielle Dominanz der USA, und auch die sich vertiefenden Zweifel an der »einzigen Weltmacht«: Durch »strukturellen Rassismus, Waffengewalt auf den Straßen, zehntausende Drogentote, rechten Populismus – die Krisensymptome sind nicht mehr zu leugnen und reichen weit in das liberale Bürgertum«, so die FAZ in ihrer immer noch beschönigenden Krisenanalyse, in der z. B. der Afghanistan-Krieg fehlt. Aber solange Russland und China uns bedrohen, so das von Facebook und Google mittels Inseraten reichlich bedachte Leitmedium, »muss Europa sein Misstrauen Washington gegenüber überwinden und auf Amerika setzen.«[18]

Militärische Budgets weiter erhöhen | Derlei herrschende Meinungsmache erreicht, in Übereinstimmung mit der Bundesregierung und der Europäischen Kommission, in der gegenwärtigen Feindbild-Konstruktion, in der Hass- und Hetzeproduktion gegen Russland und die Volksrepublik China »Weltniveau«.

Die EU erweitert die »eigenen« militärischen Instrumente, aber die NATO-Führung bleibt, und die EU-Staaten erfüllen schrittweise die dem US-Präsidenten Barack Obama verbindlich zugesagte Forderung der Supermacht, die Rüstungsetats mindestens auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Die USA schrumpfen sich und die besten Alliierten volkswirtschaftlich, ihre wichtigsten internationalen Instrumente sind Boykotte und Sanktionen – und haben als wichtigstes Alleinstellungsmerkmal nur noch den weltweit größten Destruktionsapparat zu bieten: Militär zu Land, zur See, in der Luft, im Weltraum; die mit riesigem Abstand meisten Militärstützpunkte rund um den Planeten; die größten Rüstungskonzerne und den größten Rüstungsexport, die meisten Kriege, offene und verdeckte.

Die notwendige Befreiung von »America First« | Nach dem bisher größten Weltkrieg wurden die Konsequenzen gezogen: UN-Völkerrecht und Universelle Menschenrechte. Um den nächsten, noch größeren Weltkrieg zu verhindern – und auch seine teils geifernd begrüßten Vorstufen zu entschärfen –, muss die Menschheit zu diesem Völkerrecht und diesen Menschenrechten zurück: Globalisierung ohne militärische Begleitung. Befreiung der UNO und ihrer Unterorganisationen aus dem Zugriff der USA. Austritt aus der NATO, stattdessen gemeinsame Sicherheitsarchitektur für das ganze Europa – jenseits von »America First«.

Titelbild: cbies/shutterstock.com

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