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Lieferprobleme bei zwei lebenswichtigen Medikamenten

Published On: 25. Juni 2022 9:57

Martina Frei /  Wer 2022 oder 2023 einen Schlaganfall oder eine Lungenembolie hat, kann nur hoffen, dass der Hersteller genügend Wirkstoff liefert.

«Wie konnte das passieren?», fragt das «arznei-telegramm», eine Fachzeitschrift für Ärztinnen und Ärzte. Ende April hatte der Pharmahersteller Boehringer Ingelheim deutsche Ärztinnen und Ärzte informiert, dass bei zwei lebenswichtigen Medikamenten ab Mai ein «Lieferengpass bis hin zu vorübergehender Lieferunterbrechung» bevorstehe. Die Versorgungslage bleibe voraussichtlich «in den nächsten zwei Jahren weltweit angespannt». Am 10. Mai setzte Boehringer Ingelheim auch Schweizer Mediziner von temporären Lieferunterbrüchen in Kenntnis.

«Das ist relativ ungemütlich», sagt Enea Martinelli, Chefapotheker der Spitäler Frutigen-Meiringen-Interlaken und Vizepräsident des Schweizerischen Apothekerverbands Pharmasuisse. Die beiden Medikamente namens «Actilyse» und «Metalyse» sind laut der WHO essentiell. Sie werden benötigt, um notfallmässig Blutgerinnsel, die zu Lungenembolien oder zu Schlaganfällen geführt haben, aufzulösen. Auch durch Blutgerinnsel verstopfte Venenkatheter, beispielsweise bei Patienten mit Nierenschwäche oder während einer Chemotherapie, können mit einer kleinen Dosis von «Actilyse» unter Umständen wieder frei bekommen werden. Doch diese kleine Dosis fehlt nun voraussichtlich bis Januar 2024.

«Dann stirbt der Patient im schlimmsten Fall»

In Deutschland wurden 2019 und 2020 etwa 430’000 Menschen wegen eines Schlaganfalls infolge eines Blutgerinnsels stationär behandelt. Die Behandlung mit «Actilyse» ist nur unter bestimmten Voraussetzungen geeignet, etwa 16 Prozent der Betroffenen wurden dem «arznei-telegramm» zufolge damit behandelt. Bei Komplettausfall von «Actilyse» würden pro Jahr 35’000 Patienten mit Schlaganfall und 7’000 bis 8’000 mit akutem Herzinfarkt oder Lungenembolie «nicht gemäss aktuellem Standard behandelt werden können», rechnet das «arznei-telegramm» vor. Würden diese Wirkstoffe fehlen, «dann stirbt der Patient im schlimmsten Fall», sagt Martinelli. Im weniger schlimmen Fall bliebe er behindert zurück, was sich mit Behandlung möglicherweise hätte vermeiden lassen.  

Das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) kam in einem Bericht vom Dezember 2020 zum Schluss, dass bei beiden Medikamenten ein «mittleres bis hohes Versorgungsrisiko» und ein hoher medizinischer Bedarf bestehe: «Die Medikamente gehören […] zu den lebensrettenden Massnahmen nach […] einem Schlaganfall und sind deshalb für den behandelnden Arzt als wichtig zu beurteilen. […] Da der Markt sehr unausgeglichen ist, sind Substitutionen im Falle von Ausfällen durch andere Produkte nicht realistisch.» Die Lagerbestände hätten anlässlich einer Momentaufnahme für 1,5 bis 3,5 Monate gereicht. Das BWL unterstellte «Actilyse» daraufhin der Melde- und Lagerpflicht, «Metalyse» nur der Meldepflicht. Das heisst, das Bundesamt für Statistik muss informiert werden, wenn die Medikamente zum Einsatz kommen. 

Boehringer Ingelheim erwartet gemäss dem Schreiben an deutsche Ärzte «eine vorübergehende Unterbrechung der Versorgung mit beiden Substanzen in den Jahren 2022 und 2023 in mehreren Ländern, darunter auch in Deutschland». In dem Brief ist – anders als im Brief an die Schweizer Ärzteschaft – auch von Lieferproblemen bei den Dosierungen die Rede, die zur Behandlung von Menschen mit «akuter massiver Lungenembolie» oder Schlaganfall benötigt werden.

Viel Zeit bleibt in solchen Momenten nicht, denn die Blutgerinnsel müssen rasch aufgelöst werden. Ist das Medikament vor Ort nicht da, wird es kaum noch von irgendwo beschafft werden können. Von Mai 2022 bis Dezember 2022 werde es da in Deutschland Lieferengpässe geben, «bis hin zu einer Lieferunterbrechung am Ende des Jahres 2023», teilte der Hersteller mit. Ab Januar 2023 seien die benötigen Dosierungen wieder «eingeschränkt lieferfähig».

Kaum Alternativen

Alternativen gibt es laut Boehringer Ingelheim nur wenige. «Für die Behandlung einer Hoch-Risiko-Lungenembolie […] steht keine zugelassene medikamentöse Alternative zur Verfügung», schreibt die Firma. Dasselbe gelte für die Behandlung des Schlaganfalls. Nur «unter ausgewählten Bedingungen» bleibe die Möglichkeit, das Blutgerinnsel chirurgisch oder mittels Katheter zu entfernen. Und verstopfte Venenkatheter müssten ausgetauscht werden. Das bedeutet für den Patienten unter Umständen eine kleine Operation.

Auch das «arznei-telegramm» sieht keine medikamentösen Alternativen. Alle in Frage kommenden drei Medikamente seien entweder ausser Handel, für die entsprechende Krankheit nicht zugelassen und überdies allesamt mangels Daten aus Studien nicht empfohlen.  

Profiteure der Notlage

Die Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft habe ihre Mitglieder bereits aufgefordert, den Entscheid, wann das «Actilyse» eingesetzt werden solle, «sorgfältig» zu fällen, berichtet das «arznei-telegramm». Dem Artikel zufolge will der Hersteller die Lieferungen in einzelne Staaten kontingentieren. «Ein solcher Steuerungsversuch birgt jedoch unseres Erachtens die Gefahr, dass er durch finanzkräftige Akteure aus reichen Ländern unterlaufen werden kann», schreibt das «arznei-telegramm». 

«Es gibt Leute, die aus solchen Notsituationen Profit schlagen wollen. Das erleben wir immer wieder», bestätigt Martinelli. Diese Leute würden Restbestände auf- und dem Meistbietenden weiterverkaufen.

Die Schweiz ist noch gut dran

Verglichen mit Deutschland sind die Schweizer Patienten derzeit noch gut dran. Bis jetzt ist nur die Dosierung von «Actilyse» für die verstopften Venenkatheter betroffen, die laut Martinelli «zum Glück nicht so oft gebraucht wird». «Metalyse» zum Auflösen von Gerinnseln in Herzarterien ist ebenfalls betroffen, wird aber laut einem Schweizer Kardiologen kaum noch eingesetzt, weil heutzutage ganz überwiegend Katheterbehandlungen gemacht würden. 

Bei den Schlaganfall-Behandlungen werde es in der Schweiz zu keinen Lieferunterbrüchen kommen, habe Boehringer Ingelheim ihnen auf Anfrage mitgeteilt, sagen zwei Neurologen. Garantie habe der Hersteller aber keine gegeben und herausgeben werde man diese E-mail auch nicht.

Die Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Angiologie will keine Auskunft geben, ob und allenfalls wie ihre Fachkollegen Lieferengpässen begegnen werden. (Angiologen sind Spezialisten fürs Auflösen von Gerinnseln in Blutgefässen.)

Steigende Nachfrage, aber nur ein Produktionsstandort

Ausser in den USA, Japan und Kanada vermarktet laut dem «arznei-telegramm» ausschliesslich Boehringer Ingelheim die beiden Medikamente. Produziert würden sie an einem einzigen Standort in Deutschland. Dort kam es offenbar zu Einbussen bei der Qualität und der Produktionsmenge. Das sei aber nicht der einzige Grund für die Versorgungsprobleme, teilte der Hersteller den Ärztinnen und Ärzten mit. 

Als ersten Grund nennt Boehringer Ingelheim die stetig steigende Nachfrage nach diesen Medikamenten, bei begrenzten Produktionskapazitäten. Mehr alte Menschen, mehr Schlaganfälle, mehr Telemedizin mit Behandlungen an neuen Orten, neue Behandlungsempfehlungen – all das trage zum Engpass bei. 

«Unverständlich» und «nicht hinnehmbar»

«Für uns bleibt unverständlich, dass Boehringer im Wissen um eine weltweit einzige Produktionsstätte keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen hat, solchen Engpässen zu begegnen. Einen unvorhersehbar plötzlich gestiegenen Bedarf können wir nicht erkennen», kommentiert das «arznei-telegramm». Die Informationspolitik und der Umgang der Firma mit den Lieferproblemen seien «nicht hinnehmbar». 

Während Lieferengpässe bei billigen Medikamenten an der Tagesordnung sind, «ist das bei einem so teuren Medikament etwas Neues», sagt Enea Martinelli. Eine Packung «Metalyse» kostet etwa 2’050 Franken.

Im August hatte «cash.ch» noch vom «soliden Finanzergebnis» bei Boehringer Ingelheim berichtet. Die Umsatzerlöse im Bereich Humanpharma seien um fünf Prozent auf 7,1 Milliarden Euro gestiegen. Die Firma gab damals bekannt, dass sie die Entwicklung von «Actilyse» als Behandlungsmöglichkeit für Covid-Patienten mit schweren Atemproblemen vorantreiben werde. 

«Der Patientenversorgung verpflichtet»

Angesichts der Lieferprobleme will sie nun Abhilfe schaffen, indem sie eine weitere Produktionsstätte in Österreich plant. Ein neues Produktionsverfahren, das zu höherer Ausbeute führe, soll ebenfalls helfen. Zudem beantrage Boehringer, dass die Laufzeit von «Metalyse» statt 24 neu 36 Monate betragen dürfe.

Um das Problem zu beheben, unternehmen «unsere Teams jede Anstrengung», teilt das Unternehmen in seinem Ärztebrief mit. Denn: «Boehringer Ingelheim ist der Patientenversorgung verpflichtet und bedauert diese Situation.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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