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Das Leben in Donezk, oder warum Ukrainer sich bei Kiew „bedanken“ müssen

Published On: 29. Juli 2022 17:22

Im Westen wird Russland wegen des Leides ukrainischer Flüchtlinge angeklagt. Dabei wird jedoch etwas Entscheidendes übersehen.

Ich muss es gleich zu Beginn sagen: Ich fühle mit jedem Ukrainer, der in den letzten Monaten seine Heimat verlassen musste, weil er Angst vor Krieg hat. Ich kann sogar verstehen, dass Menschen in der Ukraine Moskau die Schuld geben, denn sie wurden acht Jahre lang belogen, ohne es bemerkt zu haben.

Im Gegensatz zu den Ukrainern, die seit dem 24. Februar 2022 Explosionen gehört und Angst vor Krieg haben, erleben die Menschen im Donbass das bereits seit dem April 2014. Damals hat die Putschisten-Regierung, die sich beim Maidan an die Macht geputscht hat, die „Anti-Terroroperation“ ausgerufen und Panzer und Bomber gegen die Demonstranten im Donbass geschickt, die sich dem Putsch widersetzt haben. Ich spreche bei den Ereignissen vom April 2014 ganz bewusst von einer „Putschisten-Regierung“, weil es erst Ende Mai die ersten Wahlen nach dem Maidan gegeben hat. Der Krieg im Donbass wurde von Putschisten angefangen, die keinerlei demokratische Legitimation hatten, nicht einmal eine noch so sehr an den Haaren herbeigezogene.

Die Macht der Propaganda

Seit April 2014 sterben im Donbass Zivilisten durch den Beschuss der ukrainischen Armee, aber im Rest der Ukraine ist das schnell in Vergessenheit geraten, denn der Krieg gegen Menschen, die Kiew als seine Landsleute bezeichnet, wurde in den ukrainischen Medien so falsch dargestellt, dass es in der ukrainischen Öffentlichkeit keinerlei Empathie für die angeblichen Landsleute gibt. Stattdessen wurden die Frauen, Kinder und Rentner, die durch ukrainische Granaten ermordet wurden, als „Separatisten“, „Terroristen“ oder „Russen“ bezeichnet.

Aus diesem Grund kann ich es Ukrainern, die jetzt in den Westen geflohen sind, nicht einmal übelnehmen, dass sie Moskau für die aktuellen Ereignisse verantwortlich machen. Sie wurden von den Maidan-Regierungen acht Jahre lang nach Strich und Faden belogen und in eine anti-russische Hysterie getrieben. Das Elend im Donbass, das diese Regierungen verursacht haben, wurde ihnen verschwiegen.

Russland hat acht Jahre lang im Rahmen des Normandie-Formates verhandelt, um Kiew dazu zu bringen, den Massenmord an den Menschen im Donbass zu beenden. Russland hat nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens im Februar 2015 sieben Jahre lange versucht, dieses Abkommen umzusetzen, das vorgesehen hat, dass Kiew die Kontrolle über den Donbass zurückbekommt, wenn es den Menschen dort ihre Menschenrechte garantiert. Kiew hat das sieben Jahre lang abgelehnt. Sollte das für Sie neu sein, finden Sie hier die Details des Minsker Abkommens.

Ich habe viele Freunde in der Ukraine, ich bin nicht anti-ukrainisch. Ich kann sogar verstehen, dass einige meiner Freunde dort mich in sozialen Netzwerken „entfreundet“ haben, seitdem ich den Donbass bereise, mir ein eigenes Bild mache und darüber berichte. Ich wiederhole es: Ich mache daraus niemandem einen Vorwurf, denn die wenigsten Menschen haben Zeit und Interesse, sich politisch intensiv zu informieren, noch dazu, wenn ihnen alle ihre Medien in die Köpfe hämmern, man kämpfe im Donbass gegen böse russische Okkupanten und Aggressoren, anstatt gegen die eigene Zivilbevölkerung.

Die Ukrainer müssen sich bei Kiew „bedanken“

Dass Russland nun nach acht Jahren beschlossen hat, diese unerträgliche Lage gewaltsam zu beenden, ist eine Tragödie, unter der zwangsläufig viele Unschuldige leiden. Diese Tragödie hätte verhindert werden können, wenn Kiew – ob aus eigenem Antrieb oder durch Druck aus dem Westen – bereit gewesen wäre, mit den Menschen im Donbass zu verhandeln und das Minsker Abkommen umzusetzen. Aber Kiew hat das nicht getan und der Westen hat Kiew gewähren lassen.

Wer ein Grundverständnis für politische Zusammenhänge hat, der versteht, dass sich die Ukrainer, die nun vor Krieg geflohen sind oder ihn fürchten, sich bei ihrer Regierung in Kiew bedanken müssen. Hätte die zumindest den Beschuss des Donbass eingestellt, wäre es kaum zu dieser Eskalation gekommen. Die Berichte der OSZE der letzten Monate vor der Eskalation sprechen eine deutliche Sprache darüber, wer im Donbass auf wen geschossen hat.

Mehr noch: Ich bin derzeit in Donezk und konnte mit vielen einfachen Donezker Soldaten sprechen, die mir mit großer Wut erzählt haben, wie sie über lange Zeit den strikten Befehl hatten, nicht auf Beschuss zu antworten. Sie durften nicht einmal schießen, um sich zu verteidigen, wenn sie zuvor keine explizite Erlaubnis dazu bekommen hatten. Bei jeder Rückkehr von der Front wurden ihre Patronen gezählt und wenn auch nur eine fehlte, drohte eine Anklage vor dem Donezker Kriegsgericht. Das war mir neu, wurde mir aber von vielen Soldaten unabhängig voneinander erzählt.

Kiew hat trotz aller Versuche der Rebellen und Russlands, den von Kiew begonnenen Krieg zu deeskalieren, weiter eskaliert und zivile Ziele beschossen. Dass Russland dem irgendwann nicht mehr tatenlos zusehen konnte, dürfte für die meisten Menschen verständlich sein. Dass darunter nun auch Ukrainer leiden, die diese Fakten und Zusammenhänge nicht kennen, ist tragisch, aber diese Ukrainer sollten sich nicht bei Moskau beschweren, sondern bei Kiew, dass sie acht Jahre lang belogen und gleichzeitig diese Eskalation selbst provoziert hat.

Donezk

Ich bin jetzt schon etwa zwei Wochen in Donezk und ich will hier erzählen, wie das Leben in Donezk aussieht. Ich habe darüber vor einigen Tagen schon ein wenig geschrieben, in dem Artikel finden Sie auch ein paar Videos aus Donezk.

Donezk ist eine arme Stadt, die Straßen sind oft nicht gut, die Bürgersteige löchrig, viele Fassaden bröckeln. Das liegt einfach daran, dass Donezk ein Teil der Ukraine war, in der die Infrastruktur seit 30 Jahren nicht erneuert wurde. So sieht es auch in anderen Teilen der (ehemaligen) Ukraine aus, wie ich in Genitschesk, Melitopol, Cherson und anderen Orten, in denen es keine Kampfhandlungen gegeben hat, gesehen habe. Und in Donezk hatte man seit Kriegsbeginn 2014 andere Sorgen, als die Straßen und Bürgersteige in Ordnung zu bringen.

Dennoch fällt auf, wie gepflegt Donezk trotzdem ist. Die Straßen sind extrem sauber, die vielen Parks sind gepflegt und haben Blumenbeete und ordentlich geschnittene Bäume und Büsche. Überhaupt wirkt das Zentrum von Donezk wie ein einziger Park. Man sieht von den Zerstörungen auch nicht allzu viel, denn wenn ein Haus durch Beschuss beschädigt oder eine Fensterfront von der Druckwelle eine Explosion herausfliegt, dann wird das sehr schnell repariert. Trotzdem sieht man die Spuren des Beschusses natürlich trotzdem, und sei es auch nur an frischen Ziegeln in einer Hauswand.

Wenn es ruhig ist, wirkt Donezk wie ein Ferienort. Man sitzt auf der Terrasse eines Restaurants im Park, trinkt seinen Kaffee oder isst etwas. Alles wirkt normal und ruhig, fast, wie in einem Urlaubsort. Aber dann gibt es unvermittelt laute Explosionen und man wird daran erinnert, dass man nicht im Urlaub, sondern in einem Kriegsgebiet ist. Dieses Auf und Ab der Gefühle in der Stadt ist wirklich surreal und schwer in Worte zu fassen.

Das Leben im Krieg

Die Menschen in Donezk haben sich daran gewöhnt. Man sieht Kinder auf Spielplätzen spielen, die nicht einmal aufblicken, wenn es eine Serie von Explosionen zu hören gibt. Die Menschen unterhalten sich einfach weiter und bestenfalls bei einer sehr lauten Explosion blicken sie kurz auf.

Auf großen Werbetafeln findet sich nicht nur Werbung, sondern auch Warnungen vor Blindgängern und kleinen Minen, die wie Spielzeug aussehen und von ukrainischen Drohnen manchmal über Wohngebieten abgeworfen werden.

Die ukrainische Armee beschießt auch ständig zivile Infrastruktur, denn oft fällt in einigen Gebieten nach Beschuss der Strom aus. Das ist mir bisher erspart geblieben, dafür habe ich in der Wohnung, in der ich hier lebe, seit drei Tagen kein fließendes Wasser mehr. Das ist in Donezk Alltag und daher gibt es viele kleine Kioske, an denen man Wasser für 4 Rubel (etwa sieben Cent) pro Liter in Kanister abfüllen kann, um sich zumindest die Haare zu waschen und das Klo spülen zu können.

Trotzdem sind die Menschen in Donezk unglaublich freundlich und offen. Gerade heute stand ich mit einem Kaffee und einer Zigarette vor dem Haus, als eine alte Dame kam, die mich noch nicht gesehen hatte, und mich fragte, ob ich Russe sei. Ich sagte ihr, ich sei Deutscher, der schon lange in Russland lebt, woraufhin sie mir seufzend sagte, dass ihre Schwester in Deutschland wohne. Die wisse zwar, was hier los sei, aber die anderen Menschen in Deutschland wüssten das nicht. Als ich ihr antwortete, dass ich das weiß und dass ich als Journalist auf Deutsch über all das berichte, freute sie sich und hat mir überschwänglich gedankt und viel Erfolg gewünscht.

Der Unterschied

Wie gesagt verstehe ich alle Ukrainer, die sich vor den derzeitigen Ereignissen fürchten, aber wie sieht es denn in der Ukraine – im Vergleich zum Donbass – aus? Die Russen bombardieren keine zivilen Ziele, in der Ukraine gibt es fließendes Wasser, es gibt Strom und so weiter. Die Menschen in der Ukraine hören, im Gegensatz zu den Menschen in Donezk, nicht ständig Explosionen. In Donezk hört man jeden Tag hunderte Explosionen, mal leise und weit weg, mal so laut, dass in der Wohnung der Boden und die Wände vibrieren.

Für alle Menschen, die auf dem Gebiet der (ehemaligen) Ukraine leben oder gelebt haben, gilt: Ihnen allen würde es viel besser gehen, wenn sie eine andere Regierung hätten. Eine Regierung, die sich endlich um die Menschen im Land sorgt, anstatt Panzer gegen sie einzusetzen. Die Ukraine wurde von allen Regierungen seit ihrer Unabhängigkeit nur ausgesaugt, einige Oligarchen sind steinreich geworden, haben die politische Kontrolle über das Land übernommen, während das Land weiter verfallen und die Ukrainer verarmt sind.

Die eigene Regierung ist nie schuld!

Um die Ukrainer davon abzulenken, wurde der radikale Nationalismus und Russenhass zur Staatspolitik und zur Leitlinie der ukrainischen Propaganda. Den Menschen wurde eingebläut, an ihrem Elend seien nicht ihre Regierungen schuld, sondern Russland. Aufgrund der rigorosen Zensur in der Ukraine wurden andere Stimmen mundtot gemacht, weshalb viele Ukrainer gar nicht wissen, was in ihrem Land wirklich passiert ist.

Übrigens erleben wir in Deutschland gerade das gleiche: An all den Problemen, die es in Deutschland nun gibt, ist laut Medien und Politik Russland schuld und damit niemand diese Legende stören und auf die Fehler der deutschen Regierung hinweisen kann, wurden russische Medien zensiert und verboten. Auch für Deutschland gilt: Nicht Russland ist an der Gaskrise schuld, sondern die deutschen und europäischen Politiker, die sich unbedingt so schnell wie möglich vom russischen Gas trennen wollen.

Wie schon in der Ukraine, werden auch in Deutschland die wahren Probleme, die von der eigenen Regierung verursacht wurden, verschwiegen. Stattdessen wird ein Schuldiger gesucht. Wenn man, wie ich, acht Jahre lang am Beispiel der Ukraine beobachtet hat, wohin es führt, die selbstverschuldeten Probleme jemand anderem anzulasten, dann mache ich mir ernsthaft Sorgen, wo diese Geschichte für Deutschland endet…