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Udo Lindenberg: 50 Jahre „Daumen im Wind“

Published On: 30. Juli 2022 14:00

„Daumen im Wind“ aus dem Jahr 1972 ist eine von Udo Lindenbergs eher unbekannteren Platten. Wie auch sein englischsprachiges Debüt aus dem Jahr davor hatte die Scheibe seinerzeit in meinem Freundes- und Bekanntenkreis niemand auf dem Schirm.

Eigentlich ging es bei Lindenberg erst so richtig mit seinem dritten Album „Alles klar auf der Andrea Doria“ von 1973 los. Indes ist „Daumen im Wind“ heute das einzige seiner Alben, das ich mir von vorne bis hinten anhören kann, ohne dass es mich zwischendurch schüttelt und ich den Drang verspüre, auszuschalten oder wenigstens zum nächsten Stück weiterzuspringen. Vielleicht hat das ja auch damit zu tun, dass ich vieles von ihm schlichtweg nicht mehr hören kann und seine Musik, für mein Dafürhalten, über all die Jahre nicht gut gealtert ist. Oder vielleicht auch damit, dass Lindenberg in der Folge lauter, großspuriger und – auf eine Art, die mir zunehmend missfiel – rockiger geworden ist. Wobei man das aber gar nicht so pauschal sagen kann, als er immer wieder Lieder hatte, die man geradezu als chansonesk bezeichnen kann. Im Vergleich zu vielen französischsprachigen Chansonniers stoße ich mich bei ihm jedoch immer wieder an seinem Gesang. Ich meine: Wie soll man einem Amerikaner, Engländer, Franzosen, Italiener oder Schweden klarmachen, was an Lindenberg gut sein soll?

Dasselbe gilt nicht minder für die Herren Grönemeyer und Westernhagen. Wenn man die Sprache nicht versteht, dann klingt das Allermeiste von denen einfach nur grässlich. Dagegen kann man amerikanische, britische, französische oder italienische Musik genießen, ohne auch nur ein einziges Wort davon zu verstehen. Wie kommt das? Liegt das an der Sprache? Deutsch gilt mit seinen vielen Konsonanten und Plosiven ja ohnehin als nicht besonders musikalisch. Das ist bestimmt auch ein Aspekt. Ich glaube aber, es liegt vor allem an den Stimmen. Lindenberg, Grönemeyer und Westernhagen haben keine guten. Sie können bestimmt alle einigermaßen gut singen, aber keiner von ihnen verfügt über eine schöne oder zumindest in irgendeiner Form interessante Singstimme. Im Gegenteil: Sie klingen scheußlich!

Und was noch erschwerend hinzukommt: Sie geben dazu auch noch ein schauderhaftes Bild ab. Aber bitte, das soll jetzt kein Bashing sein. Ich mag einzelne ihrer Stücke sogar ganz gern. Vor allem von Lindenberg sind mir einige Lieder sehr ans Herz gewachsen. Allen voran die nostalgische Ballade „Da war so viel los“ von seinem 1975er-Album „Votan Wahnwitz“ (oder noch besser in der Live-Version auf „Livehaftig“ von 1979). Das hat sicherlich auch biografische Gründe; weil ich etwas Persönliches mit ihnen verbinde. Sie gehören quasi zum Soundtrack meiner Jugend. Den ganz frühen Lindenberg habe ich für mich jedoch erst sehr spät entdeckt – durch Zufall; als ich mich für ihn und seine Musik schon längst nicht mehr interessierte. Und siehe da, bei dem Stück „Good Life City“ auf „Daumen im Wind“ gelangt er zu der frühen Selbsterkenntnis: „Das klingt ja ganz manierlich, wenn man den Gesang mal überhört.“

Der frühe Udo, noch nicht gekünstelt

„Daumen im Wind“ ist Lindenbergs zweites Album, aber sein erstes in deutscher Sprache. Darauf präsentiert sich der junge Udo noch als nachdenklicher und feinsinniger Liedermacher, der – man möchte fast sagen: Gott sei Dank – noch auf dem Weg zu sich selbst ist und noch gar nicht so richtig zu seinem Image als ultracooler „Roggnroller“ und „Panik-Udo“ gefunden hat. So heißt es im Titelsong – der mich immer an den frühen Stephan Sulke denken lässt – dann auch: „Nun steh‘ ich hier und sing‘ ganz and’re Lieder. Ich weiß noch nicht, wohin es geht.“ Aber auch, wenn er sich noch nicht gefunden hatte, so hatte er sich doch gerade erst ganz neu erfunden; nämlich als – soweit ich sehe – erster deutschsprachiger Sänger, der sich nicht irgendwie verkünstelt, sondern seine Texte so schreibt und singt, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Das kann man gar nicht hoch genug schätzen, in einer Zeit, in der die deutsche Sprache in weiten Teilen der politischen, intellektuellen und künstlerischen Subkultur als „Sprache der Täter“ diskreditiert wurde, in der man tunlichst keine Lyrik mehr schreiben, geschweige denn singen sollte.

Lindenbergs Kniff bestand nun darin, sich einer authentischen und unverdächtigen Alltagssprache zu bedienen, die sich durch eine gewisse Naivität oder Unbedarftheit auszeichnete. Die Straßenpoesie eines einfachen und aufrichtigen jungen Mannes, die die Aura der Unschuld des wahllos Ins-Leben-geworfen-Seins ausstrahlt und in keiner Weise mit den Sünden der Vorfahren in Verbindung gebracht werden kann. Dies lässt sich vielleicht an einer weiteren Passage aus dem Trampersong „Daumen im Wind“ veranschaulichen, wo er singt: „Vielleicht kommt einer, der zum Nordpol fährt oder auch nur zur nächsten Stadt. Ich steige einfach ein. Mal sehen, wohin man kommt. Auf jeden Fall die Gegend hier, die hab‘ ich satt.“

Einen lebhaften Einblick in diese Zeit und in die Genese des frühen Udo Lindenberg liefert der sehr empfehlenswerte Film „Lindenberg! Mach dein Ding!“, in dem ein Oscar-verdächtiger Jan Bülow die Hauptrolle des jungen Udo spielt. Der Film behandelt die Zeit vor Lindenbergs Durchbruch als Rocksänger, wo er sich noch als Schlagzeuger in verschiedenen Bands (unter anderem bei Klaus Doldingers Passport) durchschlägt und erst allmählich seine Vision eines deutschen Rockpoeten entwickelt. Auch auf „Daumen im Wind“ sitzt Udo noch an der Schießbude, die hier aber gar nicht so oft zum Einsatz kommt, wie bei seinen nachfolgenden Platten. So sind die eher experimentellen Stücke „In den dunklen tiefen Gängen der Vergangenheit“, „Biochemon“ und „Meer der Träume“ (mit Peter Herbolzheimer an der Posaune) allesamt ohne Schlagzeug arrangiert und entfalten ein regelrecht psychedelisches Flair.

Stimmiges Liedermacher-Album mit Überraschungen

Nur bei ein paar wenigen Songs deutet sich schon der rockige Udo mit den coolen Sprüchen an. Etwa bei dem bereits erwähnten „Good Life City“ oder bei „Hoch im Norden“, welches seinerzeit zwar nur als Single-B-Seite veröffentlicht wurde, sich aber dennoch zu einem regionalen Hit entwickelte – und in dem bereits die legendäre Textzeile „Keine Panik auf der Titanic“ vorkommt. Daneben erinnert der instrumentale Mittelteil des Depri-Rocksongs „Die Kinder deiner Kinder“ stellenweise sehr an den Sound, den Pink Floyd zu dieser Zeit gemacht hat. Das Stück war übrigens schon auf seinem ersten Album auf Englisch enthalten und wurde für „Daumen im Wind“ nochmals mit deutschem Text aufgenommen. Und mit der anrührenden Ballade „Alkoholmädchen“ beschließt der frischgebackene Rockpoet dann sein erstes deutsches Album, das den Grundstein für seine weitere künstlerische und musikalische Entwicklung bilden sollte.

Auch wenn sich „Daumen im Wind“ nicht mit der musikalischen Finesse und der produktionstechnischen Qualität des ebenfalls 1972 erschienen deutschsprachigen Soul-Jazz-Albums „Ein Hauch von Frühling“ von Manfred Krug messen kann (vgl. dazu den Achgut-Artikel zu Krugs 1971er-Album „Das war nur ein Moment“), so stellt es nichtsdestotrotz ein interessantes und stimmiges Liedermacher-Album mit teils rockigen, teils überraschend experimentellen Anklängen dar, das im umfangreichen Portfolio des wahrscheinlich größten aller Deutschrocker seinesgleichen sucht.

P.S.: Deutschsprachige Popmusik, die sich im internationalen Vergleich durchaus hören lassen kann, kommt bzw. kam von der Hamburger Band Ruben Cossani um den Singer-Songwriter Michel van Dyke. Auf ihren beiden Studioalben „Die tägliche Landschaft“ von 2008 und „Alles auf einmal“ von 2009 präsentiert das Trio zeitlose Popmusik, die Assoziationen zu den Beatles, den Beach Boys, den Walker Brothers oder zu Ennio Morricone und Serge Gainsbourg weckt. Abgesehen von einigen Achtungserfolgen blieb den drei Hamburgern aber der große Durchbruch verwehrt, sodass sich die Gruppe im Jahr 2012 schon wieder auflöste. Äußerst bedauerlich! Denn ich wüsste von keiner deutschen, geschweige denn deutschsprachigen Band, die über eine dermaßen hohe Musikalität und kompositorische Eleganz verfügt. Wahrlich ganz große Popkunst!

YouTube-Link zum Titelsong „Daumen im Wind“

YouTube-Link zum psychedelischen „Meer der Träume“

YouTube-Link zu einer Playback-Performance von „Hoch im Norden“ aus dem Jahr 1974 im legendären Onkel Pö

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