Energiewende andersrum
Der deutsche Kernkraftbau galt lange als weltweit führend. Noch heute orientiert sich Indien am von Siemens entwickelten Konvoi-Konzept. Ansonsten haben Russen und Chinesen so weit aufgeholt, dass sie nun in Ländern wie Indien und Pakistan die Atommeiler aus dem Boden schießen lassen. Von Wolfgang Kempkens
Das neue, mit chinesischer Hilfe gebaute Kernkraftwerk in Karatschi.
Ausgerechnet das Energiewendeland Deutschland ist heute ein Vorbild für Indiens Kernkraftwerkbauer. Wie das kommt? In den 1970ern hatte Siemens gemeinsam mit den Genehmigungsbehörden das sogenannte „Konvoi-Konzept“ für den Bau der damals mit Abstand leistungsfähigsten Kernkraftwerke der 1.300-/1.400-Megawatt-Klasse entwickelt. Die Idee: Wenn die Anlagen – mit identischen Komponenten – praktisch am Fließband gebaut werden, müssten sich Genehmigungsverfahren und Bauzeit deutlich beschleunigen lassen.
So entstanden die Kernkraftwerke Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2, die letzten, die in Deutschland noch in Betrieb sind. Tatsächlich lag die Bauzeit bei rund sechs Jahren, während beispielsweise das 1.600-Megawatt-Kernkraftwerk Flamanville in Frankreich seit dem 3. Dezember 2007 im Bau ist und nicht vor 2023 fertig sein wird.
So etwas wollen die Inder nicht erleben. Sie haben vor gut einem Jahr in Krakapar ihr erstes 700-Megawatt-Kernkraftwerk mit Schwerwasserreaktor in Betrieb genommen. Entwickelt hat diesen Reaktortyp das Bhabha Atomic Research Centre in Trombay.
Krakapar soll, wie einst Isar 2, der Urvater einer ganzen Flotte von Kernkraftwerken werden, die sich wie ein Ei dem anderen ähneln. Die Bauzeit soll jeweils fünf Jahre nicht übersteigen. Die indische Regierung hatte 2017 die Errichtung von zehn Einheiten beschlossen. Die Betonarbeiten für die beiden ersten „Flottenmitglieder“ auf dem Gelände des Kernkraftwerks Kaiga sollen 2023 beginnen.
Dort sind bereits vier 220-Megawatt-Kraftwerke mit Schwerwasserreaktoren in Betrieb, die nach dem kanadischen CANDU-Prinzip errichtet worden sind. 2024 geht es mit den Blöcken 3 und 4 des Kernkraftwerks Gorakhpur Harya na Anu Vidyut Praiyonjana sowie den Blöcken 1 bis 4 weiter, die bei Banswara errichtet werden. Im Jahr darauf fällt der Startschuss für die Blöcke 1 und 2, die in der Nähe des Dorfs Chutka errichtet werden. Die indische Regierung ist sicher, dass ihr Projekt nicht so endet wie das deutsche: Nach dem dritten Kernkraftwerk stoppte der Siemens-Konvoi für immer.
Schwerwasserreaktoren, wie sie vor allem in Kanada (CANDU) und Indien betrieben werden, begnügen sich mit Natururan, das lediglich 0,72 Prozent spaltbares Uran 235 enthält. Leichtwasserreaktoren benötigen dagegen Uran, das mindestens drei Prozent spaltbares Material enthält. Dazu sind Errichtung und Betrieb technisch aufwendiger Anreicherungsanlagen erforderlich.
Russland und China mischen mit
Energiekrise in Deutschland
Dass Schwerwasserreaktoren so genügsam sind, liegt am Kühlmittel, schweres Wasser, das kein Wasserstoffatom enthält, sondern Deuterium. Das ist ein Wasserstoffisotop, das neben einem Proton noch ein Neutron enthält. Das Spezialwasser verschluckt weit weniger Neutronen als normales Wasser, sodass deren Anzahl ausreicht, einen Kernspaltungsprozess in Gang zu halten. Nebenbei fungiert schweres Wasser ebenso wie leichtes als Moderator. Es bremst die Neutronen, die bei Spaltungen frei werden und äußerst flott unterwegs sind, ab, sodass sie an den nächsten Urankernen nicht vorbeiflitzen, sondern sie treffen und spalten.
Indien setzt nicht allein auf seine hausgemachte „Flotte“, sondern auch auf ausländisches Knowhow. So baut beispielsweise Russland in Kudankulam zwei 1.000-Megawatt-Kernkraftwerke, was vielleicht auch die Zurückhaltung Indiens in Sachen Kritik an der Invasion Russlands in der Ukraine erklärt. Zwei weitere Anlagen dieser Größe sind dort bereits seit neun beziehungsweise sechs Jahren in Betrieb.
Im Nachbarland Pakistan kam dagegen China zum Zuge. Im vergangenen Jahr ging nahe Karatschi ein 1.100-Megawatt-Kraftwerk mit einem Druckwasserreaktor in Betrieb, am 4. März 2022 folgte Block 2. Es handelt sich hier um die beiden ersten Anlagen vom Typ Hualong One, die außerhalb Chinas gebaut worden sind.
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