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Cancel Cuisine: Plombir

Published On: 7. August 2022 12:00

Die Russen lieben Speiseeis zu jeder Jahreszeit und vertilgen es auch an bitterkalten, sibirisch angehauchten Wintertagen im Gehen auf der Straße, weil es so etwas wie Eisdielen nicht gab. 

In den Vogesen gibt es einen kleinen, einst illustren Kurort namens Plombières-les-Bains. Schon die Römer nutzten die heißen, leicht mineralhaltigen Quellen, später folgten diverse, wie man immer so schön sagt, gekrönte Häupter wie Napoleon Bonaparte und Napoleon III., außerdem Schriftsteller und Komponisten wie Pierre Augustin Caron de Beaumarchais, Schöpfer von „Figaros Hochzeit“, Voltaire und Hector Berlioz, also jene betuchten Angehörigen der europäischen Hautevolee, die sich eine schicke Kur leisten konnten, bevor sie zur Kassenleistung wurde, was auf das Erscheinungsbild der meisten Bäder keinen sonderlich vorteilhaften Einfluss hatte. Beim Kuren hatte man viel freie Zeit, die man sich mit dem Besuch von Kurorchesterkonzerten, einem Kurschatten oder dem Besuch gehobener Restaurants vertrieb.

Im vergangenen Juni suchte laut Wikipedia ein schwerer Hagelsturm Plombières-les-Bains heim, die Eismassen türmten sich in den Straßen des Ortes bis zu einem Meter hoch und führten beim Abschmelzen zu Überschwemmungen. Doch um dieses unerfreuliche Eis soll es in diesem Beitrag nicht gehen. Denn Plombières gilt auch als Geburtsstätte einer weitaus erfreulicheren Variante von Gefrorenem, der Glace Plombières. Als „Plombir“ schaffte es die cremige Spezialität bis nach Russland, wo sie bis heute Synonym für vollmundiges Sahneeis ist. 

Hierzulande findet man Original Plombir zuweilen in Spezialgeschäften für osteuropäische Lebensmittel  oder im Supermarkt als Vanilleeis „Moskauer Art“, wobei Edeka gerade auf einem so benannten Eissandwich der Eigenmarke „gut & günstig“ die Herkunftsbezeichnung durch „Kiewer Art“ ersetzt hat, ein typischer Fall für Cancel Cuisine.  „Ihr habt doch einen an der Waffel!“, lautete noch einer der zurückhaltenderen Kommentare verunsicherter Verbraucher. Zum Glück gibt es von Denree ein Bio-Sahneeis-Sandwich in der Waffel ganz ohne regionale Verortung, das dem heute verpönten russischen Original recht nahe kommt. Damit ist man dann wirklich in jeder Hinsicht auf der sicheren Seite.

Als ich im Winter des Jahres 1990/1991 für ein paar Monate zwecks Sprachstudiums in Moskau weilte, das damals noch Hauptstadt der Sowjetunion war, wurde „Plombir“ an fliegenden Ständen auf der Straße verkauft. Mit etwas Glück und längerem Anstehen hielt man schließlich den einfachen Waffelbecher mit dem cremigen Inhalt in der Hand, den man für ein paar Kopeken erstanden hatte. Davon biss man mehr ab als man daran herumschleckte. Aus heutiger Perspektive war der essbare Becher ein Musterbeispiel ökologischer Korrektheit.

Im berühmten Pariser Café Tortoni aufgetaucht

Die Russen lieben Speiseeis zu jeder Jahreszeit und vertilgten es seinerzeit auch an bitterkalten, sibirisch angehauchten Wintertagen im Gehen auf der Straße, weil es so etwas wie Eisdielen nicht gab. Auch andere Sorten waren nicht im Angebot, was ich nicht schlimm finde, denn es geht nichts über ein wirklich wohlschmeckendes Crème- oder Vanilleeis. Da kann ich gut auf die spätkapitalistische Vielfalt unserer Tage mit entlegenen Geschmacksoptionen wie Weißwursteis, Biereis oder Büffelmozzarella-Basilikum-Eis verzichten. 

Natürlich gibt es wieder eine hübsche Legende, wie die Glace Plombières entstanden sein soll, aber ich bin es langsam müde, immer wieder von irgendwelchen Un- und Zufällen erzählen zu müssen, die kulinarischen Spezialitäten zugrunde liegen sollen. Denn sie stimmen in der Regel wohl fast alle nicht. Im Falle der Glace Plombières ist nicht einmal die Herkunft aus dem betreffenden Badeort sicher belegt. Möglicherweise handelt es sich bei einer plombière einfach um ein Küchenutensil aus Zinn, in dem das Eis gefroren wurde – die Römer bezeichneten Zinn auch als „weißes Blei“.

Irgendwann tauchte die Eisspezialität in dem berühmten Pariser Café Tortoni auf, wo es Honoré de Balzac entdeckte und beschrieb, wie es „in Pyramidenform“ in Gläsern serviert wurde, obenauf mit kandierten Früchten bestreut. Das Originalrezept enthält denn auch kandierte Früchte, die man zuvor noch in Kirschwasser mazeriert, wobei man die Spirituose auch separat hinzufügen kann. Wann genau und wie das Eis nach Russland oder in die Sowjetunion kam, weiß niemand, wahrscheinlich über vermögende russische Kurgäste, die seinerzeit die westeuropäischen Badeorte bevölkerten wie heute reiche Araber oder Chinesen. Vielleicht brachten es auch russische Emigranten aus Paris zurück in ihre Heimat.

Das eigentliche Geheimnis der „crème glacée Plombières“ ist deren Cremigkeit. Die Grundmasse besteht immer aus Milch, Eiern und Zucker. Sie wird über sanftem Feuer dicklich aufgeschlagen und dann gefroren. Kurz nach dem Anfrieren kann man noch Schlagsahne unterheben, dann wird mit Maraschino-Likör oder Kirschwasser aromatisiert, bevor man die kandierten Früchte hinzufügt. In seinem Rezept einer „creme-plombière“ scheut sich der große Marie-Antoine Carême nicht, die Grundmasse mit etwas Mehl anzudicken, was aber eigentlich nicht nötig ist, wenn man es versteht, eine Milch-Eier-Zuckermasse „zur Rose“ abzubinden wie bei der Vorstufe einer Bayerischen Crème. Allerdings ohne die hier übliche Vanille. Es gibt übrigens auch Rezepte mit Mandelmilch, die heute bei Veganern wieder Anklang finden dürften, sowie mit Kondensmilch. Letzteres ergäbe eine preiswertige und gastronomisch eher anspruchslose Kindervariante.  

Noch einmal zur Klarstellung: Eine Glace Plombières beziehungsweise Plombir ist ursprünglich kein Vanilleeis, sondern ein Cremeeis, das infolge der Zugabe kandierter Früchte ein wenig in Richtung einer sizilianischen Cassata tendiert. In der Sowjetunion war es wohl nicht zuletzt deshalb so verbreitet, weil es sich um die einfachste aller Speiseeisvarianten handelte, für deren Herstellung keine teure Importvanille oder andere rare Zutaten benötigt wurden. Und im real existierenden Sozialismus meinte man auch auf die kandierten Früchte verzichten zu können. Den Werktätigen schmeckte es auch so.

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