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Auf der Spur der Kriegsverbrecher

Published On: 8. August 2022 15:26

Anastasia Mostova wurde nur 17 Jahre alt. Sie starb am 1. März in der ukrainischen Stadt Cherson. Es war der Tag, an dem die russischen Truppen in die Seehafenstadt rund 30 Kilometer vom Schwarzen Meer einrückten. An diesem Tag hatte Anastasia Mostova zusammen mit einer vier Jahre älteren Freundin nach dem Einkaufen ihre Mutter besucht.

Sie sollten am nächsten Tag wieder kommen, dann würde es Borschtsch und Kuchen geben, hatte die Mutter noch zum Abschied gesagt. Die beiden jungen Frauen verließen die Mutter um 16 Uhr, ein gemeinsamer Freund holte sie ab, um sie zur Wohnung zu fahren, in der Anastasija Mostova mit ihrem Freund wohnte. Doch dort kam sie nie an.

Die Leiche von Anastasia Mostova wurde am Abend an der Kreuzung Perekopska- und Bohdan-Chelmnizkyj-Straße gefunden. Ihren Körper hatten zahlreiche Kugeln getroffen. Nicht weit von der Kreuzung wurden in einem Wagen zwei weitere Leichen entdeckt. Es waren ihre Freundin, die 21 Jahre alte Anastasia Bobrova, und der gemeinsame Freund, der 37 Jahre alte Vadim Sohomonyan.

Das Auto war von Dutzenden Kugeln von allen vier Seiten durchsiebt worden, wie ein Video zeigt. Die Insassen waren offenbar mehrfach getroffen worden. Russische Soldaten hatten die jungen Leute mit automatischen Waffen erschossen, offenbar ohne einen ersichtlichen Grund.

Erst Stunden später erfuhren die Angehörigen von deren Tod, nachdem die Erschossenen in die zentrale Leichenhalle der Stadt gebracht worden waren. Dort sollen an diesem Tag die Leichen von 50 Zivilisten eingeliefert worden sein. Sie alle waren von den einrückenden russischen Soldaten getötet worden. Die Mutter von Anastasia, Tetyana Mostova, identifizierte ihre Tochter im Leichenschauhaus zwei Tage später.

Ein Angestellter sagte ihr dort, ihre Tochter habe keine Chance gehabt zu überleben, die Soldaten hätten aus nächster Nähe auf sie gezielt, sie von oben bis unten getroffen. Später liest die Mutter im Internet Aussagen von Zeugen. Mehrere Soldaten hätten auch gleichzeitig auf das Auto geschossen. Die Täter sind bis heute unbekannt.

Wie Truth Hounds Beweise sammeln

Eine der bekanntesten Organisationen in der Ukraine, die solch mutmaßlichen Kriegsverbrechen nachgehen, ist Truth Hounds. Seit ihrer Gründung vor acht Jahren sind die „Wahrheitshunde“ aus Kiew dabei, Informationen über mutmaßliche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine zu sammeln, zu prüfen und zu dokumentieren.

„Es geht darum, alle Informationen genau festzuhalten, die Ermittlungen dienen können, und letztlich auch darum, die Verantwortlichen zu finden – von der Militäreinheit, die im Einsatz war, bis hin zu denen, die den Finger am Abzug gekrümmt haben“, sagt der geschäftsführende Direktor der Organisation, Roman Avramenko, der FAZ bei einem Besuch in Berlin.

Dafür besuchen die Mitarbeiter die Orte, an denen mutmaßliche Kriegsverbrechen verübt wurden. Sie sprechen mit Zeugen, fotografieren Tatorte und drehen Videos. Alle so erhaltenen Informationen gleicht die NGO mit veröffentlichten Quellen ab. In einer Datenbank, an deren Erstellung die NGO sechs Monate gearbeitet hat, werden alle Materialien für jeden Fall dokumentiert.

Vor dem Überfall auf die Ukraine hatte Truth Hounds sich vor allem mit älteren Fällen aus den russisch kontrollierten „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk befasst. Nun gibt es Hunderte neue Fälle, die – anders als früher – nur wenige Wochen oder Monate alt sind. Die Rechercheure fahren vor allem in die Provinz, in die Gegend von Saporischschja, Sumy, Mykolajiw oder Cherson. Dort haben die Staatsanwaltschaften wenig Erfahrung mit solchen Verbrechen und es fehle an Ermittlungskapazitäten.

Besetzte Gebiete kaum erreichbar

Seit April hat Truth Hounds, das Geld von der amerikanischen Regierung und europäischen Regierungen bezieht, nicht mehr nur einen Wagen, sondern drei Autos zur Verfügung, entsprechende Schutzausrüstungen und auch eine Drohne, um Luftaufnahmen machen zu können, was etwa zur Dokumentation des Einsatzes von Streubomben wichtig ist. Besonders schwierig, so sagt Avramenko, ist es allerdings, Informationen aus den von Russen besetzten Gebieten und Städten zu bekommen wie etwa aus Cherson.

Denn dort hinzufahren, ist für die Rechercheure zu gefährlich. Menschen zu befragen, die noch in der Stadt leben, ist ebenfalls zu riskant, denn sie begeben sich damit in Lebensgefahr, wenn die russischen Besatzer davon erfahren. Deshalb versucht die NGO, Leute zu befragen, die von dort geflohen sind. Im Fall des mutmaßlichen Kriegsverbrechens an Anastasia Mostova und ihren beiden Begleitern hat die Organisation alle veröffentlichten Quellen, darunter Fotos und Videos der Leichen aus dem Internet, dokumentiert und sie mit Angaben darüber verbunden, welche russischen Kampfverbände zu dieser Zeit in die Stadt einrückten.

Überrascht wurde das Team von Truth Hounds von dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar nicht. Die amerikanischen Partner hatten die Organisation davor gewarnt, dass eine Invasion bevorstehe. Die NGO hatte dadurch genug Zeit, neue Räume außerhalb Kiews zu mieten, die Familienangehörigen in Sicherheit zu bringen und die wichtigsten Unterlagen ins Ausland zu schaffen.

Die letzten Dokumente habe er am Tag vor dem Überfall aus dem ehemaligen Büro mitgenommen, erinnert sich Avramenko. Fünfeinhalb Stunden nach dem Beginn der Invasion hat das Team, zu dem sieben Mitarbeiter in Kiew und ein Dutzend anonym arbeitender Rechercheure gehören, seine Arbeit wieder aufgenommen, gleich über die Angriffe der Russen im Land berichtet.

In der Ukraine gibt es rund 50 NGOs, die eine ähnliche Arbeit machen, darunter auch bekannte Organisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International. Zudem hat der Internationale Strafgerichtshof ein Team von 42 Ermittlern in die Ukraine entsandt, seine bisher größte Mission. Auch der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (UN) hat eine Untersuchungskommission eingerichtet, die Beweise für Kriegsverbrechen sammeln soll. Die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine hat in mehr als 16 000 Fällen Ermittlungen wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen aufgenommen.

Wird die Fülle an Material nicht zur Unübersichtlichkeit führen, etwa dazu, dass Beweise verloren gehen oder nicht beachtet werden? Braucht es weiterhin die Vielzahl an Organisationen?

Avramenko sagt, dass die NGOs die Verhältnisse vor Ort oft am besten kennten, auch andere Zugänge als staatliche Ermittler hätten. Die Absprachen mit der Generalstaatsanwaltschaft und den Staatsanwaltschaften in den Regionen, die oft bisher nur mit anderen, alltäglichen Formen der Kriminalität zu tun gehabt hätten, gelängen gut.

Natürlich könnten sie das Material der NGO ebenso wie der Internationale Strafgerichtshof nur als Ausgangspunkt nehmen, um selbst zu ermitteln. Doch sei es wichtig, dass es diese Daten überhaupt gebe. Eine gemeinsame Datenbank für alle NGOs, um alle Informationen zu bündeln, sei natürlich erstrebenswert. „Wir versuchen, die anderen von unserer Datenbank zu überzeugen“, sagt Avramenko.

Immerhin hat Eurojust, die Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, ein gemeinsames Ermittlungsteam gegründet, dem sich neben den Gründungsmitgliedern Ukraine, Polen und Litauen auch der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, die Slowakei sowie Estland und Lettland angeschlossen haben. Auch die Arbeit der Generalstaatsanwaltschaft und des Bundeskriminalamts sei wichtig, findet Avramenko.

Viele Flüchtlinge aus der Ukraine, die nach Deutschland gekommen seien, hätten bisher keine Aussage zu Kriegsverbrechen gemacht, die sie erlebt oder beobachtet hätten. Schließlich kann auch Deutschland Anklagen aufgrund des Völkerstrafrechts gegen Kriegsverbrecher erheben. Sie können zu Verurteilungen führen, wie das Urteil zu lebenslanger Haft wegen Staatsfolter gegen Syrer Anfang des Jahres gezeigt hat.

Kriegsverbrecherlogik

Ein Fall wie die Tötung der drei jungen Leute in Cherson sei nicht ungewöhnlich für das Vorgehen russischer Soldaten, sagt Avramenko. Immer wieder habe die Organisation festgestellt, dass auf fahrende Autos ohne Unterschied geschossen worden sei, immer wieder würden Zivilisten willkürlich auf offener Straße von den russischen Besatzern umgebracht. Einen direkten Befehl zum Völkermord erkennt der ukrainische Menschenrechtler zwar nicht.

Doch zerstörten russische Soldaten auch immer wieder Stätten ukrainischer Kultur, ohne dass es dafür eine militärische Notwendigkeit gebe, was als Indiz für einen Genozid gelten könne. Daneben gebe es zahlreiche Hinweise auf Entführungen und Folterungen von ukrainischen Zivilisten durch russische Truppen. Mitunter seien die Bewohner eines Ortes für Wochen in Keller gesperrt worden, möglicherweise aus Angst, dass irgendjemand Informationen weitergeben könnte.

Doch eine Logik hinter den Gräueltaten der russischen Armee sieht Avramenko immer seltener. Es komme vor, dass Leute gefoltert würden, weil die Russen sie verdächtigten, für die Gegenseite zu spionieren. Oder es würden Menschen aus der „verbrecherischen Logik“ getötet, um sie auszurauben.

Doch oft ließen sich nicht einmal solche Motive erkennen. „Was die Morde angeht, so sind die Ukrainer in den Augen der Russen durch jahrelange Propaganda so entmenschlicht worden, dass man sie ohne Gewissensbisse töten kann, so wie man eine Fliege erschlägt“, meint der Menschenrechtler.

Welche russische Einheit und welcher Kommandeur in einem Dorf oder einer Stadt das Besatzungsregime ausübe, das mache allenfalls einen graduellen Unterschied aus – insgesamt unterscheide sich das Bild russischer Gräueltaten nicht wesentlich von Region zu Region. „Die Russen müssen das ukrainische Territorium wieder verlassen – das ist der einzige Weg, um Kriegsverbrechen zu verhindern“, sagt Avramenko.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 5.8.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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