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Sterben für Charkiw, Kiew, Odessa?

Published On: 9. August 2022 6:01

Gebannt blickt Europa nach Osten, auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Die Antworten auf die Frage, wie auf diesen grundlegenden Bruch der internationalen Rechtsordnung zu reagieren sei, fallen jedoch sehr unterschiedlich aus. Bei dem Versuch einer historischen Einordnung werden oftmals zwei Modelle bemüht:

Zum einen wird der Bezug zum Jahr 1914 hergestellt, als Europa in einen Krieg hineingeglitten war, den niemand wirklich gewollt habe. 1914 ist heute die Chiffre für eine Einhegung des Konflikts im Osten, für ein Entgegenkommen gegenüber Moskau, mit dem der Aggressor in seinen vermeintlich gerechten Forderungen zufriedengestellt werden soll.

Eine andere Deutung bezieht sich auf die Jahre zwischen 1938 und 1941, als weite Teile Europas zwei Aggressoren erlegen sind, dem nationalsozialistischen Deutschland und – was im Westen des Kontinents gerne übersehen wird – der Sowjetunion.

Wer der Frage nachgeht, inwiefern diese Schlüsseljahre der europäischen Geschichte Gesellschaften und politisches Handeln prägen, fördert Erkenntnisse zutage, die zum Verständnis heutiger Reaktionen auf die russische Herausforderung beitragen.

Zwischen 1938 und 1941 haben Hitler und Stalin weite Teile des Kontinents unter ihre Kontrolle gebracht. Sichtbar wurde das Zusammengehen der Diktatoren in ihrem Abkommen vom 23. August 1939. Das geheime Zusatzabkommen, in dem die beiden Diktatoren Ostmitteleuropa vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer aufteilten, wurde von der Sowjetunion lange geleugnet und wird vom Putin-Regime als kluge Vorfeldpolitik verteidigt.

Betroffen waren jene Regionen, die nun abermals im Visier der russischen Angriffspolitik sind: Finnland, die baltischen Staaten, Polen, Rumänien. In Südosteuropa trat, heute ebenfalls weitgehend vergessen, ein dritter Staat hinzu, der aggressiv die Souveränität von Staaten mit militärischen Mitteln infrage stellte: das faschistische Italien.

Diese drei totalitären Staaten stellten den Ländern von Finnland bis Griechenland Ultimaten, die faktisch das Ende der Eigenstaatlichkeit bedeuteten und das Ende der Friedensordnung, die die Sieger des Ersten Weltkriegs in den Pariser Vorortsverträgen 1919/1920 aufgerichtet hatten.

Wehrhafte Staaten

Die bedrohten Staaten reagierten sehr unterschiedlich: Polen, Finnland, Griechenland und Jugoslawien wehrten sich. Polen wurde von NS-Deutschland und der Sowjetunion überfallen und aufgeteilt. Es war dies das vierte Mal nach 1772, 1793 und 1795, dass Russland und deutsche Staaten die polnische Eigenstaatlichkeit zerstörten.

Im Westen wird gerne vergessen, dass bis 1941 Stalin Hitlers Komplize bei der Unterdrückung Polens war. Polen verlagerte den Widerstand in den Untergrund. 1944 ließ Stalin seinen Kriegsgegner Hitler gewähren, als dieser den Warschauer Aufstand brutal niederwarf. Danach besetzte Stalin ganz Polen.

Finnland hielt im Winterkrieg 1939/1940 der Roten Armee stand. Das Land verlor zwar rund ein Zehntel seines Territoriums, bewahrte aber seine Unabhängigkeit, wenngleich der außenpolitische Spielraum durch eine auferlegte Neutralität eingeengt war.

Griechenland besiegte im Winter 1940/1941 den überlegenen italienischen Aggressor, erlag aber der deutschen Wehrmacht. Auch hier verlagerte sich der Widerstand in einen Partisanenkampf, der aber umschlug in einen Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Antikommunisten. Mithilfe Großbritanniens und der USA siegten Letztere.

Jugoslawien hatte 1941 ein Abkommen mit den Achsenmächten geschlossen, das ihm faktisch Neutralität garantiert hätte. Der britische Geheimdienst unterstützte einen Putsch, was Hitler und seine Verbündeten in Rom, Sofia und Budapest zum Angriff bewegte. Jugoslawien kollabierte.

Der Staat war autoritär regiert, und außer der serbischen Bevölkerung wollten sich kaum Bürger für ihn wehren. Der Zusammenbruch erfolgte nicht nur durch Druck von außen, sondern durch eine Implosion von Staat und Gesellschaft. Wie in Griechenland folgten Partisanenkampf und Bürgerkrieg, mit Unterstützung der Sowjetunion siegten aber die Kommunisten.

Kampfloses Nachgeben

Am anderen Ende der Skala der Reaktionen sind jene Staaten anzusiedeln, die den Ultimaten kampflos nachgaben: Österreich, die Tschechoslowakei, Albanien, die baltischen Staaten und Rumänien. Mit Ausnahme der Tschechoslowakei handelte es sich um autoritäre Regime mit oftmals geringem Rückhalt in der Bevölkerung.

Die Tschechoslowakei war bei der Integration der großen deutschen und ungarischen Bevölkerung gescheitert, und unter den Slowaken herrschte Unzufriedenheit in Bezug auf die tschechische Dominanz. Dass das Land sich nicht wehrte, lag mitunter daran, dass es von seinen westlichen Verbündeten in Paris und London aufgegeben worden war.

Das autoritäre Regime in Wien hatte es verabsäumt, die Sozialdemokraten für einen gemeinsamen Widerstand gegen Hitler zu gewinnen. Im entscheidenden Moment wagte das Regime den durchaus möglichen militärischen Widerstand nicht. Österreich verschwand wie die Tschechoslowakei und Polen von der Landkarte Europas.

Albanien war schon vor dem italienischen Überfall im Frühjahr 1939 von Rom in fast allen Belangen abhängig gewesen, der König genoss in der Bevölkerung nur wenig Rückhalt. Umgehend formierten sich wie in Griechenland und Jugoslawien Partisanen, und auch in Albanien kam es zu einem Bürgerkrieg. Diesen gewannen die von Titos Jugoslawien unterstützten Kommunisten.

Wie Österreich und die Tschechoslowakei nahmen die baltischen Staaten Ultimaten hin, akzeptierten sowjetische Truppen im Land – und schon bald rollten die Züge, die Abertausende Balten nach Osten deportierten. Stalin wollte die jungen Staaten und deren junge Eliten eliminieren, ein Trauma, das bis heute nachwirkt.

Rumänien hatte ganz auf die Westmächte gesetzt und nie den Ausgleich mit seinen Nachbarn gesucht. Nach dem militärischen Kollaps von Frankreich im Frühjahr 1940 musste das Land ein Drittel seines Staatsgebiets aufgeben. Im Gegensatz zu den anderen Kapitulanten aber bewahrte Rumänien seine Eigenstaatlichkeit durch eine erstaunliche Taktik: Es bot sich den Hegemonen als treuer Vasall an.

Durch diese Loyalität zuerst gegenüber Hitler, dann gegenüber Stalin gewann es Nordsiebenbürgen zurück. Den rumänischen Kommunisten gelang es, Moskau gegenüber so viel Loyalität zu zeigen, so 1956 bei der Niederwerfung des Ungarnaufstands, dass Ende der fünfziger Jahre die Rote Armee und der KGB aus dem Land abzogen, was Bukarest einen im Vergleich zu anderen Verbündeten Moskaus einmaligen Manövrierraum verschaffte.

Neben den regionalen Verlierern der Hitler-Stalin-Aggression gab es regionale Profiteure, allen voran Ungarn und Bulgarien, Verlierer des Ersten Weltkriegs, die im Windschatten von NS-Deutschland kampflos verlorene Gebiete zurückgewannen. Für sie sind die Jahre 1940/1941 Momente eines vorübergehenden Triumphs, denn mit dem Zusammenbruch des NS-Systems wurden beide Staaten territorial wieder auf den Status quo ante reduziert.

Rezepte des Widerstands und Folgen

Das Verhalten der Staaten ist nicht durch ein einfaches Schema zu erklären: Eine funktionierende Demokratie reichte nicht aus, wenn die Integration von Minderheiten misslang. Autoritäre Regime konnten, etwa in Polen und Griechenland, erstaunliche Widerstandskraft entwickeln, die sich auf mental tief verankerte Traditionen von Aufstand und Kampf gegen Besatzer stützte. Innenpolitische Spaltungen konnten Staaten in den Abgrund reißen, so Jugoslawien, anderswo wurden sie überwunden, wenn ein breiter Konsens zur Verteidigung der Eigenstaatlichkeit herrschte, so in Finnland.

Die Erfahrungen der Jahre 1938 bis 1941 wirken bis heute nach: Die Widerständigkeit Finnlands und Polens ist dort verankert, ebenso der Wille der Balten, sich nie mehr kampflos zu ergeben. Die Uneindeutigkeit der rumänischen Politik heute ist auch zu erklären mit der Erfahrung, dass Subversivität gegenüber übermächtigen Nachbarn erfolgreicher sein kann als offener Widerstand.

Die Jahre 1938 bis 1940 sind im Westen des Kontinents gleichermaßen identitätsprägend: Großbritannien erklärt seine kämpferische Ukraine-Politik mit der Erfahrung, 1940 nach dem Kollaps von Frankreich weitergekämpft zu haben. Frankreich im Jahre 1940 ist demgegenüber ein Menetekel: Das innerlich geschwächte, ideologisch polarisierte Land gibt seine Verbündeten im Osten auf. Selbst nach dem Angriff auf Polen wagt es nicht, den Aggressor auf dessen Gebiet anzugreifen. Vielmehr verschanzt es sich auf dem eigenen Territorium hinter der Maginot-Linie und wird dort vernichtend geschlagen.

„Mourir pour Dantzig?“ (Für Danzig sterben?), fragte der französische Pazifist Marcel Déat 1939. Damals schien den Pazifisten im Westen Polen weit weg. 2022 ist es die Ukraine, die das materielle und moralische Wohlbefinden im Westen nicht stören soll. Déats weiterer Weg ist eine Warnung, wo pazifistisches Appeasement auch enden kann: Marcel Déat, der so viel zur Schwächung seines Lands beigetragen hatte, kollaborierte später mit dem Aggressor, dessen Erfolg er so befördert hatte.

Oliver Jens Schmitt ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. Dieser Beitrag ist ursprünglich am 2.8.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung

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