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Documenta: Wie konnte das nur passieren?

Published On: 12. August 2022 12:00

Wie konnte der Antisemitismusskandal auf der documenta nur geschehen? Vermutlich sind wir nicht weniger ignorant als die Deutschen vor 100 Jahren.

Ich glaube nicht, dass die Leute vor 100 Jahren – vor Hitlers Machtantritt – so furchtbar anders waren, als wir es heute sind. Zumindest nicht in existenziellen Dingen. Und existenziell ist die Frage nach dem Umgang mit dem Antisemitismus auf der documenta 15. Wenn Sie also wissen wollen, wie es sein konnte, dass Leute, die vermutlich noch nicht mal etwas gegen ihre jüdischen Nachbarn und Kollegen hatten, so derart indifferent, zweideutig, egozentrisch oder blind sein konnten, müssen Sie dieser Tage nur nach Berlin und Kassel schauen, sich in Erinnerung rufen, wie in den Medien über die ersten Antisemitismusvorwürfe seit Januar gesprochen und geschrieben wurde und wie die zuständigen Politiker darauf reagierten.

Ich kenne keine Juden oder Nichtjuden – zumindest nicht persönlich –, die Heiko Maas abgenommen hätten, dass er „wegen Auschwitz“ in die Politik gegangen sei. Wäre dem so gewesen, hätte er anders gehandelt, als er die Möglichkeit dazu hatte. Ich kenne auch keine Juden oder Nichtjuden, die sonderlich viel auf die Kasseler Polit-Blase geben, Claudia Roth für eine ehrliche Haut in Sachen documenta halten, für willens oder gar für fähig, das Desaster aufzuklären und für die Folgen geradezustehen. Schon alleine die Idee, Projekte zur NS-Geschichte nach Kassel zu schicken, anstatt über die Israel-Boykott-Kampagne, Palästinasolidarität und linken Antisemitismus zu reden, zeigt doch, wie wenig der Kultur-, Medien- und Politbetrieb von dem begriffen hat, was seit dem Bundestagsbeschluss gegen BDS von 2019 in Deutschland vor sich geht.

Es gibt Moderatoren im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die die Brauen hochziehen und gelangweilt die Augen verdrehen – höre ich zumindest aus ihren Stimmlagen und ihrem Tonfall heraus – und über alles zu reden bereit sind, nur eben nicht über Antisemitismus auf der documenta, weil das für ihren Geschmack schon viel zu oft geschehen ist und es schließlich noch anderes gibt, über das es sich zu reden lohnt, und die documenta schließlich nicht nur aus Antisemitismus bestünde. Gibt schließlich noch andere, die gelitten haben. Die Schwarzen. Die Muslime und so weiter.

Ich vermute, dass es vielen Deutschen damasl egal gewesen ist, was mit den Juden wird – nörgeln sowieso immer rum –, dass sie froh gewesen sind, als sie endlich weg waren und Genugtuung empfanden, dass sie glaubten, dass ihnen schon recht geschieht, dass sie schließlich dieses oder jenes getan hätten, über das man sich nur empören kann, dass sie dieses oder jenes wären, das man ganz entschieden ablehnt und weit von sich weisen würde. Dass sie einem eh nur Schaden zufügen oder Scherereien bereiten, dass sie nicht zu einem passen, dass jeder sehen muss, wo er bleibt, dass man sich endlich befreit hat aus einem Joch oder von einer Last und so weiter. Wahrscheinlich ist das alles zu milde formuliert. Aber die kalte Leidenschaft, den brennenden Hass, die Häme, Schadenfreude, die innerlich auffrisst, haben sicher nicht alle verspürt, die es vor 100 Jahren in der Hand hatten. Und dennoch ist es geschehen. Weil, darum, obwohl und trotz.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Sylke Kirschnicks Blog.

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