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Hafermilch und Zahlenbrei: Wie Moralpolitik, Medien und Twitter die Fähigkeit zu rationalem Streit ruinieren

Published On: 12. August 2022 13:34

Steuerreform? Niemals, nutzt nur den Reichen! Armut? Ist klimafreundlich! Und mehr Windräder liefern mehr Strom. Stimmt alles so nicht. Beherrscht die Debatte trotzdem. Das taktische Dummstellen schlägt mittlerweile in echte gesellschaftliche Dummheit um.

Ingwar Perowanowitsch engagiert sich nach eigenen Angaben für die Kleinpartei Klimaliste, für die er in Berlin 2021 auch kandidierte, er übt die Tätigkeit eines Fahrradaktivisten aus und sendet in den Pausen, die ihm politische Arbeit und Beruf lassen, viele Botschaften auf Twitter. Es gibt einen Grund, warum sich dieser Text mit einem weitgehend unbekannten Vertreter einer Kleinpartei beschäftigt: Ingwar Perowanowitschs Twitter-Einträge bieten sich als Modell an, mit dem sich weite Teile der öffentlichen Kommunikation in Deutschland erklären lassen. Dem Prinzip Ingwar folgen in Deutschland etliche Regierungspolitiker, Medien und auch öffentlich-rechtliche Sendeanstalten mit achtstelligem Budget. Seine Prominenz in diesem Text verdient er sich also, weil es sich bei ihm um einen Phänotyp handelt, ohne den das Land gründlich anders aussähe.

„Lieber Cem Özdemir“, twitterte Ingwar Perowanowitsch vor Kurzem, „warum werden eigentlich Trüffel, Froschschenkel und Wachteleier als Grundnahrungsmittel eingestuft und somit nur mit 7% besteuert, während meine morgendliche Hafermilch als Luxusgut eingestuft wird und somit mit 19% besteuert? Gedenken Sie das zu ändern?“

— Ingwar Pero (@Perowinger94) August 6, 2022

Sein kurzer Text enthält schon alle Zutaten für politische und mediale Debatten, wie sie heute in Deutschland geführt werden: ein entweder tatsächliches oder gespieltes Unverständnis für eine bestimmte Systematik, in diesem Fall die der Mehrwertsteuer, eine nicht zu knappe Dosis Alogik, moralisch aufgeladene Triggerbegriffe, hier Trüffel und Froschschenkel, zur Abrundung noch einen milieutypischen Ichbezug („meine morgendliche Hafermilch“).

Ingwars Frage, falls es eine sein soll, lässt sich leicht beantworten: Für unverarbeitete Lebensmittel fällt der vergünstigte Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent an, also auch für Trüffel. Für verarbeitete Lebensmittel und alle anderen Waren der reguläre von 19 Prozent. Um Hafermilch zu erzeugen, sind Haferflocken, Wasser und ein Emulgator nötig, meist kommen noch ein paar Zusätze ins Getränk. Folglich beträgt der Steuersatz 19 Prozent, genauso wie für Trüffelöl.

Die Absicht unseres Twitterers lässt sich mühelos erkennen: In Deutschland herrscht eine tiefe strukturelle Ungerechtigkeit, in der Trüffel- und Froschschenkelverzehrer steuerbegünstigt leben, während der Berliner Klimalistenaktivist unter den erdrückenden Abgaben für seine morgendliche Hafermilch leidet. Daraus leitet er einen politischen Auftrag ab, die Steuer seiner moralischen Sicht auf einzelne Lebensmittel anzupassen. Merkwürdigerweise richtet sich sein Appell an den Bundeslandwirtschaftsminister, obwohl die Zuständigkeit für Steuersätze beim Finanzminister liegt.

Nach der gleichen Methode beklagt Ingwar P. auch, dass er ein Bahnticket für sein Fahrrad lösen muss, wenn er es mitnimmt, während Autobesitzer seiner Meinung nach ihren Wagen überall kostenlos abstellen könnten.

Wenn jemand sein Auto im Zug mitführen möchte – Autozüge gibt es tatsächlich –, dann zahlt er selbstredend mehr als 11,50 Euro dafür. Und im Gegensatz zu öffentlichen Parkplätzen, die meist etwas kosten, fällt für keinen Radständer irgendwo in Deutschland eine Gebühr an.

Diese wichtigen Kommunikationsregeln – Begriffe moralisch aufladen, gezielt verwechseln, vergleichen, was nicht zusammengehört – durchziehen mittlerweile sämtliche öffentliche Debatten. Beispielsweise die Auseinandersetzung um die milden Steuererleichterungen, die Finanzminister Christian Lindner durch den Abbau der sogenannten kalten Progression immerhin für 2023 in Aussicht stellt. Bei dem, was Lindner plant, handelt es sich um eine Anpassung der einzelnen Einkommensteuer-Tarifstufen und des Freibetrags an die Inflation.

Nominell lässt der Fiskus den Bürgern also in Zukunft etwas mehr Netto übrig. Faktisch gleicht er nur eine Geldentwertung von acht und demnächst zehn Prozent wenigstens teilweise wieder aus. Dagegen erhebt sich ein heftiger Protest von linken Politikern, Verbandsvertretern und begleitenden Medien im Ingwar-Stil: Lindners Einkommensteuer-Korrekturen seien ungerecht, ein Programm für die Reichen im Land und typisch für die Partei des porschefahrenden Ressortchefs.

Wer einen Blick auf die konkreten Entlastungen wirft, erkennt unschwer, dass es sich genau umgekehrt verhält: Durch Lindners Anpassung bleibt Beziehern kleinerer und mittlerer Einkommen ein deutlich höherer Prozentsatz übrig als den Besserverdienern. Bei einem Jahreseinkommen von 25.000 Euro würde sich nach Lindners Plänen die Steuerlast um 10,8 Prozent vermindern, bei 40.000 um 5,5 Prozent, bei 80.000 um 3,6 und bei 150.000 um 1,4 Prozent. Das ergibt sich zwingend aus dem deutschen Tarifsystem, denn die kalte Progression greift besonders dort zu, wo es viele Steigerungsstufen gibt. Steuerfrei bleiben Einkünfte nur bis 10.347 Euro jährlich, danach geht es schnell nach oben. Für jeden weiteren Euro über 57.918 werden 42 Prozent Einkommensteuer fällig, ab 277.886 Euro folgt dann mit der sogenannten Reichensteuer der letzte und höchste Satz von 45 Prozent.

Die Erregung über die unsozialen, reichenbegünstigenden Pläne Lindners beruhen darauf, dass diejenigen, die dagegen polemisieren, einfach die absoluten Entlastungszahlen statt der prozentualen heranziehen. Tatsächlich, wer 25.000 brutto im Jahr verdient, darf nur 213 Euro mehr behalten. Jemand mit 150.000 Euro dagegen satte 672 Euro. Wer also sechsmal mehr verdient und das Vierundzwanzigfache an Einkommensteuer zahlt (47.942 zu 1973 Euro), erhält absolut gerechnet eine gut dreifach höhere Entlastung. Ungerecht, Reichenbevorteilung! Jedenfalls nach Ansicht des grünen Vize-Fraktionschefs Andreas Audretsch.

Sein Kollege Lukas Scholle, Fraktionsreferent der Linken, traut seinem Milieu noch nicht einmal das Ausrechnen der absoluten Beträge zu, weshalb er die Differenzen zu Empörungszwecken dazuschreibt und der FDP Lindners Irreführung vorwirft, weil sie es nicht tut.

Allerdings kann es durchaus sein, dass ein gar nicht so kleiner Teil der Bevölkerung den Unterschied zwischen absolut und Prozent tatsächlich nicht mehr versteht, Differenzbeträge nicht mehr ohne Weiteres ausrechnen kann und vor allem den Aufbau des Steuersystems nicht oder nur vage kennt.

Das Wirtschaftsressort des Spiegel greift zur Erklärung der Ungerechtigkeit zu einem etwas stärkeren Kontrast, um die Ungerechtigkeit der Pläne zu unterstreichen, nämlich zu dem Single mit 600.000 Euro Jahres-Brutto, den die Redaktion offenbar für einen typischen Einkommensfall hält, und dem die Abschaffung der kalten Progression 1100 Euro mehr im Jahr lassen würde, versus die vierköpfige Familie mit 40.000 Euro jährlich und 300 Euro Plus. Das Medium erklärt seinen Lesern vorsichtshalber ausdrücklich, dass es sich bei 1100 um mehr handelt als bei 300.

So verfahren auch andere Qualitätsjournalisten. „Ist es wirklich so fair und gerecht, wie er sein Paket bezeichnet?“, fragt Tagesthemen-Moderatorin Aline Abboud kritisch und unvoreingenommen den zugeschalteten Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Marcel Fratzscher zu Lindners Plänen. Ist es nicht, bestätigt Fratzscher. Denn von dem „Paket“ der geplanten Steuerentlastung in einer Gesamthöhe von 10 Milliarden Euro gingen 70 Prozent an das obere Drittel der Einkommensbezieher. Dass dieses obere Drittel – und das beginnt in Deutschland schon bei allem, was über 62.000 brutto im Jahr liegt – allerdings sogar 79 Prozent des Einkommensteuer-Aufkommens trägt, erwähnt der Mann vom DIW nicht. Die Tagesthemen-Journalistin hat die Zahl auch gerade nicht parat. Außerdem handelt es sich nicht um ein Paket im Wert von 10 Milliarden Euro, das der Staat seinen Steuerbürgern überreichen würde, wie Fratzscher suggeriert. Sondern ohne Korrektur des Einkommensteuertarifs würden diese Steuerbürger angesichts der Inflationsrate faktisch 10 Milliarden Euro mehr zahlen.

Beziehern niedriger Einkommen würde natürlich die Erhöhung des Steuerfreibetrags zusätzlich helfen, mehr von ihrem Brutto zu behalten. Allerdings profitiert davon auch ein Spitzenverdiener, wenn auch nur minimal, da der Grundfreibetrag für alle gilt. Und an genau diesem Argument würde in Deutschland auch die an sich vernünftige Anhebung des Freibetrags auf beispielsweise 15.000 Euro scheitern: Grünen-Politiker und Medienmitarbeiter hätten flugs ausgerechnet, wie viele Porsche-Tankfüllungen sich damit für einen Single mit 50.000 Euro monatlich ergeben.

Der Vize-Chef der Zeit Bernd Ulrich greift noch zu dem Element des unvermeidlichen Selbstbezugs, und zwar mit der Twitter-Frage, warum „Leute wie ich“, also er, ab 2023 so wenig Steuern zahlen müssten. Er findet auch, das, was er zusätzlich behalten darf, sei eigentlich Lindners Geld.

Dabei gibt es für sein Problem eine patente Lösung. Die Bundesrepublik Deutschland unterhält seit mehreren Jahren ein Sonderkonto für freiwillige Zahlungen an den Staat, das allen offensteht, die meinen, sie sollten mehr abgeben, als sie laut Gesetz müssen. Die Bankverbindung lautet: Bundeskasse Halle/Saale bei der Deutschen Bundesbank, Filiale Leipzig, Kontonummer 860 010 40, BLZ 860 000 00, Verwendungszweck “Schuldentilgung”. Was hereinkommt, erscheint im Kapitel 3201, Titel 325 11 des Bundeshaushaltes. Allerdings nicht unter namentlicher Nennung des Spenders – vermutlich für viele wohlmeinende Zeit-Schreiber wie -Leser der Hinderungsgrund schlechthin.

Das Prinzip der Hafermilchjungenrechnung beherrschen vor allem Redakteure des öffentlich-rechtlichen Funks perfekt. Etwa die Redaktion Quarks vom WDR, einem streng wissenschaftsbasierten Magazin, das für seine blauen Social-Media-Kacheln eine gewisse Berühmtheit genießt. „Wer mehr verdient, lebt klimaschädlicher“, informiert die Redaktion auf einem dieser Online-Plakate sein Publikum.

Wobei sie umstandslos den CO2-Ausstoß einer Person mit „klimaschädlich“ übersetzt. „Vor allem Reisen und große Wohnungen vermasseln den Besserverdienenden die Klimabilanz.“ Woraus folgt, dass die Redakteure das Leben hauptsächlich für ein Projekt halten, bei dem der Einzelne bloß nicht an Klimabilanzzielen scheitern sollte, die ihm sein öffentlich-rechtlicher Rundfunk setzt.

Nur stimmt die Aussage von Quarks nicht, wie sehr vieles, was der WDR unter dieser Marke in die Öffentlichkeit bringt. Es steht sogar auf der Kachel selbst: Als Bezugsgröße der Berechnung dient das Haushaltsnetto-Einkommen. Wie viele Menschen in einem Haushalt leben, erfasst der deshalb per se schiefe Bezug von Haushaltseinkommen auf die CO2-Emission überhaupt nicht. Wahrscheinlich wird eine vierköpfige Familie, die auf 100 Quadratmetern wohnt, und in der die Partner je 4000 und 3000 Euro pro Monat verdienen, zusammen mehr Kohlendioxid in die Luft entlassen als ein Single mit 5000 Euro monatlich, der auf 50 Quadratmetern lebt. Pro Kopf stoßen die Familienmitglieder wahrscheinlich trotzdem weniger aus als der Single (der übrigens mehr verdient als jeder Einzelne in der oben skizzierten Familie).

Die Quarks-Statistik sagt also wenig überraschend, dass mehrere Menschen in der Regel mehr Kohlendioxid verursachen als ein Einzelner. Abgesehen davon hängt der Ausstoß auch von Lebensnotwendigkeiten ab, die viele Leute nicht nach Belieben ändern können. Wer auf dem Land lebt und mit dem Auto zur Arbeit pendelt, kommt zwangsläufig zu einer anderen Bilanz als ein WDR-Mitarbeiter, der zentral wohnt und zum Funkhaus radelt (und vermutlich auch mehr Gehalt kassiert als ein Durchschnittsbeschäftigter). Alle Deutschen zusammen zeichnen für gut 2,2 Prozent des weltweiten menschengemachten CO2-Ausstoßes verantwortlich – was auch den Begriff „klimaschädlich“ stark relativiert. Spätestens an der Stelle muss sich der Medienkonsument auch fragen, warum diejenigen, die den Umstand geißeln, dass Ärmere in totalen Zahlen so wenig von dem geplanten Steuertarif profitieren, die Armut überhaupt für ein Problem halten. Denn laut WDR lebt ja eigentlich nur jemand unterhalb von 1000 Euro monatlich wirklich klimagefällig.

Irreführungen lauern nach Ansicht der Bundesregierung allenthalben im Netz, weswegen das Bundesfamilienministerium gerade einige hunderttausend zusätzliche Euro aus dem Topf „Demokratie leben!“ an Fakenews-Bekämpfer auslobt. Ab und zu könnte sie den Blick auf die eigene Kommunikation richten. Beispielsweise auf eine Grafik auf der Regierungsseite, die das Ingwar-Prinzip in ein Säulendiagramm zur Erzeugung von Energie aus Sonne, Wind und Biomasse umsetzt.

„Auf dem Weg zur Klimaneutralität – mehr Strom aus erneuerbaren Energien“ überschreiben Regierungshelfer ihre Grafik, die sie mit einem markanten +14-Prozent-Button versehen, damit die Botschaft auch ankommt: eine kräftige Steigerung von Energie aus Photovoltaik, Windkraft- und Biomasse-Anlagen. Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass die Säulenproportionen nicht stimmen. Im ersten Halbjahr 2022 hätten demnach Solar und Wind mit zusammen 101,7 Terawattstunden Stromerzeugung noch nicht einmal die Hälfte der Gesamtproduktion erneuerbarer Energien ausgemacht. Die liegt allerdings ausweislich der Säule nur bei 137 Terawattstunden. Das kann passieren, wenn ein Grafiker oder eine Grafikerin die Säule möglichst hoch baut, damit es nach viel aussieht, ohne noch einmal nachzurechnen.

Apropos nachrechnen: Um zu der 14-Prozent-Steigerung zu kommen, vergleicht die Bundesregierung ein sehr schwaches Windhalbjahr und ein mäßiges Sonnenhalbjahr 2021 mit den etwas besseren ersten sechs Monaten 2022. Wer auf die Erzeugungsstatistik der vergangenen Halbjahre schaut, der sieht: Die stolz herausgestrichenen Zahlen für die erste Jahreshälfte 22 liegen noch unter dem Wert für das erste Halbjahr 2020.

Es fehlt allerdings eine entscheidende Information, mit der sich die Erzeugungszahlen überhaupt erst einordnen lassen. Denn im Jahr 2020 wurden in Deutschland an Land und auf See 1650 Megawatt Windkraft zugebaut, 2021 insgesamt 1716 Megawatt und im ersten Halbjahr 2022 351 Megawatt. Das heißt: Obwohl 2022 deutlich mehr Windräder in Deutschland stehen als 2020, erzeugten diese Anlagen von Januar bis Juni 2022 zusammen noch nicht einmal so viel Strom wie deutlich weniger Räder im gleichen Zeitraum 2020.

Ganz unfreiwillig richtet die Regierungsgrafik also den Blick auf ein Problem, das in der Energiedebatte beim Rechnen und Vergleichen nach Ingwar regelmäßig unter den Tisch fällt: Erstens handelt es sich bei den Erzeugungszahlen um Durchschnittswerte, die nichts darüber aussagen, wo die Minimal- und Maximalwerte liegen. Bei Maximalerzeugung müssen die Lastspitzen oft abgeregelt (aber trotzdem bezahlt) oder zum Preis von null oder Negativpreisen ins Ausland gedrückt werden. In windstillen Nächten tragen die gelobten Energien kaum zur Stromversorgung bei, da es nur minimale Speicherkapazitäten gibt.

Zweitens sagt der Zubau von Wind- und Solarkapazität, den Politiker und Medienvertreter an anderer Stelle immer loben, praktisch nichts über die tatsächliche Stromerzeugung aus, solange diese Erzeugung vom Wetter abhängt, und Überschüsse sich kaum speichern lassen. Weshalb es auch in die Rubrik alberner Zielgruppenpopulismus fällt, wenn Claudia Kemfert in einem Kommentar bei RND erklärt, es müssten nur bis zum Jahresende „schnell wie der Wind“ neue Windkraftanlagen ans Netz gebracht werden, um russisches Gas und den Strom aus den drei letzten Atomkraftwerken zu ersetzen.

Und drittens verstehen zumindest in dem Publikum, das Kemferts Expertise konsumiert, offenbar nur wenige neben dem Unterschied zwischen installierter Leistung und Erzeugung den nicht weniger wichtigen Begriff der Verfügbarkeit. Der gibt an, an wie vielen der 8760 Jahresstunden eine Anlage auch tatsächlich Strom liefert. Gegen den Verbleib der drei Kernkraftwerke am Netz bringen Grünenpolitiker, Stichwortgeber wie Kemfert und etliche Journalisten immer wieder vor, diese drei Meiler würden doch nur fünf Prozent des deutschen Strombedarfs decken. Was fünf Prozent verlässlich gelieferte Elektroenergie bedeutet, zeigt besonders schön die Stromerzeugungsstatistik für Juli 2022. In dem Monat lieferten die drei letzten Kernkraftwerke deutlich mehr Strom als alle gut 1500 deutschen Offshore-Windkraftanlagen zusammen, nämlich 2950 zu 1772 Gigawattstunden.

Wirklich aussagekräftig wird der Vergleich erst, wenn auch noch die Kapazitäten nebeneinanderstehen: Die installierte Leistung der drei Kernkraftwerke liegt bei 4056 Megawatt, die aller Offshore-Anlagen bei 7747 Megawatt. Und die durchschnittliche Verfügbarkeit eines Kernkraftwerks bei über 90 Prozent. Ganz nebenbei zeigt die Rechnung, was Kemfert zufolge an Windkraft windschnell bis zum Jahresende 2022 ans Netz gebracht werden müsste, um die drei Atomkraftwerke wenigstens bilanziell auszugleichen. Von Gas gar nicht zu reden.

Um noch einmal auf die Losung „Auf dem Weg zur Klimaneutralität“ in der Regierungsgrafik zurückzukommen: Sie bezieht sich nur auf Strom. Der wiederum macht nur gut 20 Prozent der Energieerzeugung aus. Alles in allem, also auf den Gebieten Strom, Wärme und Verkehr zusammengenommen, betrug der Anteil von erneuerbare Energien 2021 gerade 16,1 Prozent. Im Jahr 2022 könnte er noch geringer ausfallen – weil Politik und etliche Unterstützer in den Medien es für eine gute Idee gehalten hatten, schon 2021 drei Kernkraftwerke abzuschalten, und jetzt sowohl deren Kapazität als auch Gas durch das Verheizen von Kohle zu ersetzen.

Rabulistik, Verdrehung, beliebiger Wechsel der Argumentationsebenen – das stellt ein größeres Problem dar, weil es unter diesen Umständen kaum noch möglich ist, gesellschaftliche Fragen rational zu debattieren. Es ergibt sich aber noch eine zweite Frage: Wenn das Kurzschlussmedium Twitter mit seinen 140 Zeichen schon seit mehreren Jahren Politik, Medien und Bürger formatiert – wie viel Debattenfähigkeit ist dann überhaupt noch übrig? Möglicherweise versteht ja tatsächlich ein größerer Teil der so geprägten Bevölkerung irgendwann wirklich nicht mehr den Unterschied zwischen absoluten Zahlen und Prozenten, zwischen Summen und Pro-Kopf-Zahlen, zwischen installierter und realer Leistung, zwischen Gesamtmenge und Teilmengen, zwischen Energieerzeugungsarten, die immer zur Verfügung stehen, und denen, die nur ab und zu liefern, zwischen Wachteleiern und Hafermilch sowie etlichen anderen Dingen und Sachverhalten.

Wenn das Raster zum Sortieren fehlt, verschwimmen Daten und Zusammenhänge zu einem weißen Rauschen. In der Wachteleier-Hafermilch-Frage fällt der Schaden vergleichsweise gering aus. Aber wenn etwa die Hälfte der Gesellschaft auf den Gebieten von Geld und Energie grundlegende Dinge nicht mehr verstehen sollte, dann führt das zu einem ziemlich schnellen kollektiven Abstieg, der leider auch die andere Hälfte betrifft. Dyskalkulie, also die Unfähigkeit, mit Zahlen zu operieren, kann nicht nur Einzelne betreffen, sondern irgendwann große Teile des Landes. Eigentlich geht es nicht nur um Dyskalkulie. Sondern um die Bereitschaft, überhaupt auf ein Mindestmaß an Argumentationskonsistenz zu achten.

Wenn die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang beteuert, es gebe kein Strom- , sondern nur ein Gasproblem, der Wirtschaftsstaatssekretär Patrick Graichen Unternehmen empfiehlt, sich Notstromdiesel und Treibstoffvorrat für drei Tage zu beschaffen, und der Chef der Bundesnetzagentur Klaus Müller darüber staunt, dass sich 600.000 Menschen nach Graichens Mahnung an die Wirtschaft privat Heißlüfter kaufen, wovor er dringend warnt, weil sich daraus ein Stromproblem ergeben könnte, dann erreicht der Staat eine Inkompetenzstufe, die bisher selbst wohlwollende Pessimisten nicht für möglich gehalten hätten.

Bei dem erwachsenen Ingwar, nach eigenen Angaben Absolvent eines Politikwissenschaftsstudiums, handelt es sich um einen Phänotyp, der auf Twitter sendet, gleichzeitig aber auch, wie es Soziologen zu sagen lieben, um ein Produkt dieser Gesellschaft. Ab einem bestimmten Punkt geht taktisches Dummstellen in authentische Dummheit über, und zwar dann, wenn ganze politische Apparate und Sendeanstalten auch nicht viel anders argumentieren, denken und rechnen als ein etwas unterkomplex twitternder Berliner Fahrradaktivist. Möglicherweise erleben wir diesen Umschlag von Quantität in Qualität gerade jetzt.

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