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Scholz: Die neue Friedensaufgabe Europas

Published On: 5. September 2022 19:36

Am 29. August 2022 hielt Bundeskanzler Olaf Scholz an der Karls-Universität in Prag eine europaweit viel beachtete Rede. Darin bezog er sich auf die Zeitenwende nach dem Krieg Putin-Russlands gegen die Ukraine und die Schlüsse, welche die europäische Staatengemeinschaft daraus zu ziehen hat. KARENINA dokumentiert die wichtigsten Passagen.

In diesen Tagen stellt sich erneut die Frage, wo künftig die Trennlinie verläuft zwischen diesem freien Europa und einer neoimperialen Autokratie. Von einer Zeitenwende habe ich nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar gesprochen. Putins Russland will mit Gewalt neue Grenzen ziehen – etwas, das wir in Europa nie wieder erleben wollten. Der brutale Überfall auf die Ukraine ist somit auch ein Angriff auf die europäische Sicherheitsordnung. Dem stellen wir uns mit aller Entschlossenheit entgegen. Dafür brauchen wir eigene Stärke – als Einzelstaaten, im Verbund mit unseren transatlantischen Partnern, aber eben auch als Europäische Union.

Geboren wurde dieses vereinte Europa als ein nach innen gerichtetes Friedensprojekt. Nie wieder Krieg zwischen seinen Mitgliedstaaten, so lautete das Ziel. Heute ist es an uns, dieses Friedensversprechen weiterzuentwickeln, indem wir die Europäische Union in die Lage versetzen, ihre Sicherheit, ihre Unabhängigkeit und ihre Stabilität auch gegenüber Herausforderungen von außen zu sichern. Das ist die neue Friedensaufgabe Europas.

(…)

Wir nehmen Russlands Angriff auf den Frieden in Europa nicht hin. Wir sehen nicht einfach zu, wie Frauen, Männer und Kinder umgebracht, wie freie Länder von der Landkarte getilgt werden und hinter Mauern oder eisernen Vorhängen verschwinden. Wir wollen nicht zurück ins 19. oder 20. Jahrhundert, mit seinen Eroberungskriegen und seinen totalitären Exzessen.

Unser Europa ist in Frieden und Freiheit geeint, offen für alle europäischen Nationen, die unsere Werte teilen. Vor allem aber ist es die gelebte Absage an Imperialismus und Autokratie. Die Europäische Union funktioniert nicht durch Über- und Unterordnung, sondern durch die Anerkennung von Verschiedenheit, durch Augenhöhe zwischen ihren Mitgliedern, durch Pluralität und den Ausgleich unterschiedlicher Interessen.

Waffen für die Ukraine

Putin ist genau dieses vereinte Europa ein Dorn im Auge, weil es nicht in seine Weltsicht passt, in der sich kleinere Länder einer Handvoll europäischer Großmächte zu fügen haben. Umso wichtiger ist, dass wir unsere Idee von Europa gemeinsam verteidigen. Daher unterstützen wir die angegriffene Ukraine: wirtschaftlich, finanziell, politisch, humanitär und auch militärisch. Hier hat Deutschland in den letzten Monaten grundlegend umgesteuert. Wir werden diese Unterstützung aufrechterhalten, verlässlich und so lange wie nötig.

Das gilt für den Wiederaufbau des zerstörten Landes, der eine Kraftanstrengung für Generationen wird. Das erfordert internationale Abstimmung und eine kluge, belastbare Strategie. Darum wird es bei einer Expertenkonferenz gehen, zu der Kommissionspräsidentin von der Leyen und ich die Ukraine und ihre Partner aus aller Welt am 25. Oktober nach Berlin einladen.

In den nächsten Wochen und Monaten erhält die Ukraine von uns zudem neue, hochmoderne Waffen, Luftverteidigungs- und Radarsysteme etwa oder Aufklärungsdrohnen. Allein unser letztes Paket an Waffenlieferungen hat einen Wert von mehr als 600 Millionen Euro. Unser Ziel sind moderne ukrainische Streitkräfte, die ihr Land dauerhaft verteidigen können.

Dafür dürfen wir alle aber nicht nur das an Kiew liefern, worauf wir selbst gerade verzichten können. Auch hier brauchen wir mehr Planung und Koordination. Gemeinsam mit den Niederlanden haben wir deshalb eine Initiative gestartet, die auf eine dauerhafte und verlässliche Arbeitsteilung zwischen allen Partnern der Ukraine abzielt.

Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass Deutschland besondere Verantwortung beim Aufbau der ukrainischen Artillerie und Luftverteidigung übernimmt. Auf solch ein System der koordinierten Unterstützung sollten wir uns schnell verständigen und damit unser Bekenntnis zu einer freien, unabhängigen Ukraine auf Dauer untermauern, so, wie wir es beim Europäischen Rat im Juni getan haben, als wir geschlossen „Ja“ gesagt haben. Ja, die Ukraine, die Republik Moldau, perspektivisch auch Georgien und natürlich die sechs Staaten des westlichen Balkans gehören zu uns, zum freien, demokratischen Teil Europas. Ihr EU-Beitritt liegt in unserem Interesse.

Ich könnte das demografisch oder wirtschaftlich begründen oder, ganz im Sinne Milan Kunderas, kulturell, ethisch und moralisch. Alle diese Gründe tragen. Was aber heute klarer denn je hinzutritt, ist die geopolitische Dimension dieser Entscheidung. Realpolitik im 21. Jahrhundert heißt nicht, Werte hintanzustellen und Partner zu opfern zugunsten fauler Kompromisse. Realpolitik muss heißen, Freunde und Wertepartner einzubinden, sie zu unterstützen, um im globalen Wettbewerb durch Zusammenarbeit stärker zu sein.

Auf dem Weg in eine stärkere EU

So verstehe ich übrigens auch Emmanuel Macrons Vorschlag einer europäischen politischen Gemeinschaft. Natürlich haben wir den Europarat, die OSZE, die OECD, die Östliche Partnerschaft, den Europäischen Wirtschaftsraum und die Nato. All das sind wichtige Foren, in denen wir Europäer auch über die Grenzen der EU hinaus eng zusammenarbeiten. Was aber fehlt, ist ein regelmäßiger Austausch auf politischer Ebene, ein Forum, in dem wir Staats- und Regierungschefinnen und -chefs der EU und unsere europäischen Partner ein- oder zweimal jährlich die zentralen Themen besprechen, die unseren Kontinent als Ganzes betreffen: Sicherheit, Energie, Klima oder Konnektivität.

Solch ein Zusammenschluss – das ist mir ganz wichtig – ist keine Alternative zur anstehenden EU-Erweiterung; denn wir stehen bei unseren Beitrittskandidaten im Wort – bei den Ländern des Westlichen Balkans sogar schon seit fast 20 Jahren –, und diesen Worten müssen jetzt endlich Taten folgen.

Zu Recht haben viele in den vergangenen Jahren nach einer stärkeren, souveräneren, geopolitischen Europäischen Union gerufen, nach einer Union, die ihren Platz in der Geschichte und Geografie des Kontinents kennt und stark und geschlossen in der Welt handelt. Die historischen Entscheidungen der vergangenen Monate haben uns diesem Ziel nähergebracht. Mit bisher nie da gewesener Entschlossenheit und Geschwindigkeit haben wir einschneidende Sanktionen gegen Putins Russland verhängt. Ohne die früher üblichen Kontroversen haben wir Millionen Frauen, Männer und Kinder aus der Ukraine aufgenommen, die bei uns Schutz suchen. Gerade die Tschechische Republik und andere Staaten Mitteleuropas haben ihr weites Herz und große Solidarität bewiesen. Dafür gebührt Ihnen mein allergrößter Respekt.

Solidarität beim Thema Gas

Auch an anderer Stelle haben wir das Wort Solidarität neu mit Leben gefüllt. Wir arbeiten enger zusammen bei der Energieversorgung. Erst vor wenigen Wochen haben wir europäische Einsparziele beim Gasverbrauch beschlossen. Beides ist mit Blick auf den kommenden Winter essenziell, und gerade Deutschland ist für diese Solidarität sehr dankbar.

Sie alle wissen, mit welcher Entschlossenheit Deutschland dabei ist, seine Abhängigkeit von russischen Energielieferungen zu verringern. Wir bauen alternative Kapazitäten zur Einfuhr von Flüssiggas oder Erdöl auf, und wir tun dies solidarisch, indem wir auch den Bedarf von Binnenländern wie der Tschechischen Republik mit bedenken.

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Denn der Druck zur Veränderung auf uns Europäerinnen und Europäer wird wachsen, auch unabhängig von Russlands Krieg und seinen Folgen. In einer Welt mit acht – künftig wohl mit zehn – Milliarden Menschen ist jeder einzelne unserer europäischen Nationalstaaten für sich genommen viel zu klein, um allein seine Interessen und Werte durchzusetzen. Umso wichtiger ist es für uns, eine geschlossen handelnde Europäische Union zu schaffen.

Umso wichtiger sind starke Partner, allen voran die Vereinigten Staaten. Dass heute mit Präsident Biden ein überzeugter Transatlantiker im Weißen Haus sitzt, ist ein Glück für uns alle. Welch unverzichtbaren Wert die transatlantische Partnerschaft hat, das haben wir in den vergangenen Monaten erlebt. Die Nato steht heute geschlossener denn je da, politische Entscheidungen treffen wir im transatlantischen Schulterschluss.

Doch bei allem, was gerade Präsident Biden für unsere Partnerschaft getan hat, wissen wir zugleich, dass sich der Blick Washingtons stärker auch auf den Wettbewerb mit China und auf den asiatisch-pazifischen Raum richtet. Das wird für künftige amerikanische Regierungen ebenso gelten, vielleicht sogar noch mehr.

Partner in einer multipolaren Welt

In einer multipolaren Welt, und das ist die Welt des 21. Jahrhunderts, reicht es daher nicht, nur bestehende Partnerschaften zu pflegen, so wertvoll sie sind. Wir werden in neue Partnerschaften investieren – in Asien, Afrika und Lateinamerika. Politische und wirtschaftliche Diversifizierung, das ist übrigens auch ein Teil der Antwort auf die Frage, wie wir mit der Weltmacht China umgehen und den Dreiklang vom „Partner, Wettbewerber und Rivalen“ einlösen.

Der andere Teil dieser Antwort lautet: Wir müssen das Gewicht des geeinten Europas noch viel stärker zur Geltung bringen. Zusammen haben wir allerbeste Chancen, das 21. Jahrhundert in unserem, im europäischen Sinn mitzuprägen und zu gestalten – als Europäische Union aus 27, 30 oder 36 Staaten mit dann mehr als 500 Millionen freien und gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürgern, mit dem größten Binnenmarkt der Welt, mit führenden Forschungseinrichtungen, Innovationen und innovativen Unternehmen, mit stabilen Demokratien, mit einer sozialen Versorgung und einer öffentlichen Infrastruktur, die auf der Welt ihresgleichen suchen. Das ist der Anspruch, den ich mit einem geopolitischen Europa verbinde.

Die Erfahrung der vergangenen Monate zeigt doch: Blockaden lassen sich überwinden. Europäische Regeln lassen sich ändern – wenn nötig, auch im Eiltempo. Selbst die europäischen Verträge sind nicht in Stein gemeißelt. Wenn wir gemeinsam zu dem Schluss kommen, dass die Verträge angepasst werden müssen, damit Europa vorankommt, dann sollten wir das tun.

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Deutschlands Verantwortung für Europa liegt für mich darin, dass wir zusammen mit unseren Nachbarn Lösungen erarbeiten und dann gemeinsam entscheiden. Ich will keine EU der exklusiven Clubs oder Direktorien, sondern eine EU gleichberechtigter Mitglieder.

Ich füge ganz ausdrücklich hinzu: Dass die EU weiter in Richtung Osten wächst, ist für uns alle ein Gewinn. Deutschland als Land in der Mitte des Kontinents wird alles dafür tun, Ost und West, Nord und Süd in Europa zusammenzuführen.

In diesem Sinne bitte ich Sie auch die folgenden vier Überlegungen zu verstehen.

Erstens: Ich setze mich ein für die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten des Westbalkans, um die Ukraine, um Moldau und perspektivisch auch um Georgien.

Eine Europäische Union mit 30 oder 36 Staaten aber wird anders aussehen als unsere heutige Union. Das liegt auf der Hand. Europas Mitte bewegt sich ostwärts, könnte man angelehnt an den Historiker Karl Schlögel sagen. In dieser erweiterten Union werden die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten zunehmen, was die politischen Interessen, die Wirtschaftskraft oder die Sozialsysteme angeht. Die Ukraine ist nicht Luxemburg, und Portugal blickt anders auf die Herausforderungen der Welt als Nordmazedonien.

EU: Schrittweise zu Mehrheitsentscheidungen finden

Zuallererst sind die Kandidatenländer gefordert, die Kriterien für den Beitritt zu erfüllen. Dabei werden wir sie bestmöglich unterstützen.

Doch auch die EU selbst müssen wir fit machen für diese große Erweiterung. Das wird Zeit brauchen, und deshalb müssen wir jetzt damit anfangen.

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Im Rat der EU, auf der Ebene der Ministerinnen und Minister, ist schnelles und pragmatisches Handeln gefragt. Das muss auch in Zukunft gesichert sein. Dort, wo heute Einstimmigkeit erforderlich ist, wächst aber mit jedem weiteren Mitgliedstaat auch das Risiko, dass ein einzelnes Land mit seinem Veto alle anderen am Vorankommen hindert. Wer anderes glaubt, der verleugnet die europäische Realität.

Ich habe deshalb vorgeschlagen, in der gemeinsamen Außenpolitik, aber auch in anderen Bereichen wie der Steuerpolitik, schrittweise zu Mehrheitsentscheidungen überzugehen – wohl wissend, dass dies auch Auswirkungen für Deutschland hätte. Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Ein Festhalten am Prinzip der Einstimmigkeit funktioniert nur, solange der Handlungsdruck gering ist. Spätestens angesichts der Zeitenwende aber ist das nicht mehr der Fall.

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Mein Werben für Mehrheitsentscheidungen ist gelegentlich kritisiert worden, und ich kann die Sorgen gerade der kleineren Mitgliedstaaten gut nachvollziehen. Auch in Zukunft muss jedes Land mit seinen Anliegen Gehör finden – alles andere wäre ein Verrat an der europäischen Idee. Und weil ich diese Sorgen sehr ernst nehme, sage ich: Lassen Sie uns gemeinsam nach Kompromissen suchen!

Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, zunächst in den Bereichen mit Mehrheitsentscheidungen zu beginnen, in denen es ganz besonders darauf ankommt, dass wir mit einer Stimme sprechen – in der Sanktionspolitik zum Beispiel, oder in Fragen der Menschenrechte. Außerdem werbe ich für den Mut zur konstruktiven Enthaltung.

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Auch das Europäische Parlament wird an Reformen nicht vorbeikommen. In den Verträgen ist aus gutem Grund eine Höchstzahl von 751 Abgeordneten vorgesehen. Diese Zahl aber werden wir überschreiten, wenn neue Länder beitreten – zumindest dann, wenn wir das Parlament einfach um die Sitze erweitern, die den neuen Mitgliedsländern nach den bisherigen Regeln zustünden. Wenn wir das Europäische Parlament nicht aufblähen wollen, dann brauchen wir also eine neue Balance, was seine Zusammensetzung angeht, und zwar unter Beachtung auch des demokratischen Prinzips, wonach jede Wählerstimme in etwa das gleiche Gewicht haben sollte.

Um die richtige Balance zwischen Repräsentanz und Funktionsfähigkeit geht es schließlich auch bei der Europäischen Kommission. Eine Kommission mit 30 oder 36 Kommissaren stößt an die Grenzen ihrer Arbeitsfähigkeit. Wenn wir zudem daran festhalten, dass jede Kommissarin und jeder Kommissar einen eigenen Politikbereich verantwortet, dann führt das – um an einen weiteren großen Sohn dieser Stadt zu erinnern – zu kafkaesken Verhältnissen.

Ich weiß zugleich, wie viel Wert alle Mitgliedstaaten darauf legen, mit „ihrem“ Kommissar oder „ihrer“ Kommissarin in Brüssel vertreten zu sein. Das ist auch wichtig, denn es zeigt: In Brüssel sitzen alle mit am Tisch. Alle entscheiden gemeinsam. Deshalb will ich an dem Grundsatz „Eine Kommissarin oder ein Kommissar pro Land“ nicht rütteln. Aber was spricht dagegen, dass zwei Kommissionsmitglieder gemeinsam für eine Generaldirektion zuständig sind? Das funktioniert nicht nur in Entscheidungsgremien von Unternehmen weltweit Tag für Tag. Auch in den Regierungen einiger Mitgliedstaaten gibt es solche Lösungen, sowohl in der Vertretung nach außen als auch bei der internen Zuständigkeitsverteilung.

Suchen wir also nach solchen Kompromissen – für ein funktionierendes Europa!

Europäische Souveränität

Der zweite Gedanke, den ich mit Ihnen teilen möchte, hängt mit einem Begriff zusammen, über den wir in den vergangenen Jahren oft diskutiert haben: europäische Souveränität.

Mir geht es dabei nicht um Semantik. Im Kern bedeutet europäische Souveränität doch, dass wir auf allen Feldern eigenständiger werden, dass wir mehr Verantwortung übernehmen für unsere eigene Sicherheit, dass wir noch enger zusammenarbeiten und zusammenstehen, um unsere Werte und Interessen weltweit durchzusetzen.

Nicht nur Russlands Angriff auf die europäische Friedensordnung zwingt uns dazu. Ich habe die Abhängigkeiten schon erwähnt, in die wir uns begeben haben. Die russischen Energieimporte sind ein besonders augenfälliges Beispiel dafür, aber keineswegs das einzige. Nehmen wir etwa die Engpässe bei der Lieferung von Halbleitern: Solch einseitige Abhängigkeiten müssen wir schnellstmöglich beenden!

Europa verdankt seinen Wohlstand dem Handel. Dieses Feld dürfen wir nicht anderen überlassen. Deshalb brauchen wir auch weitere, nachhaltige Freihandelsabkommen und eine ambitionierte Handelsagenda.

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Bessere Zusammenarbeit bei der Verteidigung

Wir brauchen in Europa ein besseres Zusammenspiel unserer Verteidigungsanstrengungen.

Verglichen mit den USA gibt es in der EU ein Vielfaches an unterschiedlichen Waffensystemen. Das ist ineffizient, denn so müssen unsere Soldatinnen und Soldaten an vielen verschiedenen Systemen trainieren, und auch die Wartung und Instandsetzung ist teurer und aufwändiger.

Auf das zurückliegende unkoordinierte Schrumpfen europäischer Armeen und Verteidigungsbudgets sollte jetzt ein koordinierter Aufwuchs europäischer Fähigkeiten erfolgen. Neben gemeinsamer Herstellung und Beschaffung ist dafür nötig, dass unsere Unternehmen bei Rüstungsprojekten noch viel enger zusammenarbeiten. Das macht eine noch viel engere Abstimmung auf europäischer Ebene unumgänglich. Deshalb ist es höchste Zeit, dass sich nicht nur die Landwirtschafts- und Umweltministerinnen und -minister eigenständig in Brüssel treffen. In diesen Zeiten brauchen wir einen eigenständigen Rat der Verteidigungsministerinnen und Verteidigungsminister.

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Wir sollten Lehren ziehen aus den Geschehnissen in Afghanistan im vorigen Sommer. Künftig muss die EU in der Lage sein, schnell und effektiv zu reagieren. Gemeinsam mit anderen EU-Partnern wird Deutschland deshalb dafür sorgen, dass die geplante schnelle Eingreiftruppe der EU 2025 einsatzfähig ist, und dann auch deren Kern stellen. Dafür braucht es eine klare Führungsstruktur. Wir müssen daher die ständige EU-Kommandozentrale und mittelfristig ein echtes EU-Hauptquartier mit allem ausstatten, was dafür finanziell, personell und technisch gebraucht wird. Deutschland wird sich dieser Verantwortung stellen, wenn wir im Jahr 2025 die schnelle Eingreiftruppe führen.

Beweglicher bei politischen Entscheidungen

Schließlich müssen wir unsere politischen Entscheidungsprozesse gerade in Krisenzeiten beweglicher machen. (…) Das bedeutet ausdrücklich auch, noch viel stärker die Möglichkeit zu nutzen, Einsätze einer Gruppe von Mitgliedstaaten anzuvertrauen, die dazu bereit ist, sozusagen einer Koalition der Entschlossenen. Das ist EU-Arbeitsteilung im besten Sinne.

Schon beschlossen ist, dass Deutschland Litauen mit einer schnell einsatzbereiten Brigade und die Nato mit weiteren Kräften in hoher Einsatzbereitschaft unterstützen wird. Die Slowakei unterstützen wir unter anderem bei der Luftverteidigung. Die Tschechische Republik und andere Länder kompensieren wir für die Abgabe sowjetischer Panzer an die Ukraine mit Panzern deutscher Bauart. Zugleich haben wir vereinbart, dass unserer Streitkräfte noch viel enger kooperieren. Auch die 100 Milliarden Euro, mit denen wir in Deutschland in den kommenden Jahren die Bundeswehr modernisieren, stärken die europäische und transatlantische Sicherheit.

Erheblichen Nachholbedarf haben wir in Europa bei der Verteidigung gegen Bedrohungen aus der Luft und aus dem Weltraum. Daher werden wir in Deutschland in den kommenden Jahren ganz erheblich in unsere Luftverteidigung investieren. Alle diese Fähigkeiten werden im Nato-Rahmen einsetzbar sein. Zugleich wird Deutschland diese zukünftige Luftverteidigung von Beginn an so ausgestalten, dass sich auch unsere europäischen Nachbarn daran beteiligen können, wenn es gewünscht wird, etwa Polen, Balten, Niederländer, Tschechen, Slowaken oder unsere skandinavischen Partner. Ein gemeinsam aufgebautes Luftverteidigungssystem in Europa wäre nicht nur kostengünstiger und effizienter, als wenn jeder von uns seine eigene teure und hochkomplexe Luftverteidigung aufbaut; es wäre ein Sicherheitsgewinn für ganz Europa und ein hervorragendes Beispiel dafür, was wir meinen, wenn wir von der Stärkung der europäischen Säule der Nato sprechen.

Putin nutzt Uneinigkeit und Schwäche aus

Auch der dritte große Handlungsauftrag, den ich für Europa sehe, folgt aus der Zeitenwende, und er und geht zugleich weit darüber hinaus. Putins Russland definiert sich auf absehbare Zeit in Gegnerschaft zur Europäischen Union. Jede Uneinigkeit zwischen uns, jede Schwäche wird Putin ausnutzen. Andere Autokraten ahmen das nach. Denken Sie nur daran, wie der belarussische Diktator Lukaschenko im vergangenen Jahr versucht hat, uns mit dem Leid Tausender Geflüchteter und Migranten aus dem Nahen Osten politisch unter Druck zu setzen. Auch China und andere nutzen die offenen Flanken, die wir Europäer bieten, wenn wir uneinig sind.

Was daraus für Europa folgt, lässt sich vielleicht so zusammenfassen: Wir müssen die Reihen schließen, alte Konflikte überwinden und neue Lösungen finden. – Das klingt nach einer Selbstverständlichkeit, doch dahinter verbirgt sich viel Arbeit.

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Migration vorausschauend gestalten

Dass wir in der Migrationspolitik vorankommen können, haben wir nach dem russischen Angriff auf die Ukraine bewiesen. Erstmals hat die EU die Richtlinie über temporären Schutz aktiviert.

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Auch künftig werden Menschen nach Europa kommen, sei es, um Schutz vor Krieg und Verfolgung zu suchen, sei es auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben. Europa bleibt für Millionen auf der ganzen Welt ein Sehnsuchtsort. Das ist einerseits ein großartiger Beweis für die Attraktivität unseres Kontinents, andererseits ist es zugleich eine Realität, mit der wir Europäerinnen und Europäer umgehen müssen. Das bedeutet, Migration vorausschauend zu gestalten, statt immer nur ad hoc auf Krisen zu reagieren. Das bedeutet auch, irreguläre Migration zu verringern und zugleich legale Migration zu ermöglichen, denn wir brauchen Zuwanderung.

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Frieden und Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Menschenwürde, diese Werte der Europäischen Union sind unser gemeinsam erworbenes Erbe. Gerade jetzt angesichts der erneuten Bedrohung von Freiheit, Pluralismus und Demokratie, die wir im Osten unseres Kontinents erleben, spüren wir diese Verbindung doch ganz besonders stark.

„Staaten erhalten sich durch die Ideale, aus denen sie entstanden sind.“ Einer der berühmtesten Professoren dieser Universität hat diesen Satz gesagt, Tomáš Masaryk, der spätere Präsident der Tschechoslowakei. Dieser Satz gilt für Staaten; er gilt aber auch für die Wertegemeinschaft EU. Weil Werte konstitutiv für deren Fortbestand sind, betrifft es auch uns alle, wenn diese Werte verletzt werden, außerhalb Europas und noch mehr in unserem Innern. Das ist der vierte Gedanke, den ich heute mit Ihnen teilen möchte.

Wann, wenn nicht jetzt?

Deshalb macht es uns Sorgen, wenn mitten in Europa von illiberaler Demokratie geredet wird, als wäre das nicht ein Widerspruch in sich. Deshalb können wir es nicht hinnehmen, wenn rechtsstaatliche Prinzipien verletzt und demokratische Kontrolle zurückgebaut wird.

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Ich habe bereits die mutigen Studentinnen und Studenten dieser Universität erwähnt, die am Abend des 17. November 1989 die Samtene Revolution in Gang setzten. Auf dem Universitätscampus an der Albertovstraße, dort wo ihr Protest begann, erinnert heute eine kleine, bronzene Plakette daran. Zwei Sätze stehen darauf, und ich hoffe, dass ich sie einigermaßen richtig ausspreche: Kdy ‑ když ne teď? Kdo ‑ když ne my? ‑ Auf Deutsch: Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht wir? ‑ Hier, von Prag aus, will ich diese beiden Sätze heute allen Europäerinnen und Europäern zurufen, denen, die bereits in unserer Union leben, und denjenigen, die hoffentlich bald zu uns stoßen. Ich will sie den politisch Verantwortlichen zurufen, meinen Kolleginnen und Kollegen, mit denen wir tagtäglich in Brüssel, Straßburg oder in unseren Hauptstädten um Lösungen ringen. Es geht um unsere Zukunft, die Europa heißt. Dieses Europa ist heute gefordert wie nie.

Wann, wenn nicht jetzt, da Russland die Grenze zwischen Freiheit und Autokratie zu verschieben sucht, legen wir die Grundsteine für eine erweiterte Union der Freiheit, der Sicherheit und der Demokratie? Wann, wenn nicht jetzt, schaffen wir ein souveränes Europa, das sich in einer multipolaren Welt behaupten kann? Wann, wenn nicht jetzt, überwinden wir die Differenzen, die uns seit Jahren lähmen und spalten? Wer, wenn nicht wir, könnte Europas Werte schützen und verteidigen, im Innern wie nach außen?

Europa ist unsere Zukunft, und diese Zukunft liegt in unseren Händen.

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