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«In welcher Welt leben wir?»

Published On: 8. September 2022 0:10

Veröffentlicht am 8. September 2022 von LK.

Wozu führt Inflation langfristig? Welche Folgen hat die ständig wachsende künstliche Liquidität? In welcher Welt leben wir? Diesen Fragen geht Fabio Vighi nach. Er ist Professor für Kritische Theorie an der Universität Cardiff. Seine Diagnose lautet: Wir sind inzwischen in einen weltweit weit verbreiteten Inflationszyklus eingetreten, der in der Geschichte einzigartig sei.

In seinem jüngsten Beitrag «Ein System zur Lebenserhaltung» warnt Vighi davor, dass mit der gegenwärtigen Politik die Realwirtschaft bewusst zerstört werde, indem man versuche, ein von Finanzspritzen abhängiges System aufrechtzuerhalten.

Eine ständig wachsende künstliche Liquidität zerstöre die Währungen. Dieser Prozess führe nicht dazu, dass sich die Gesellschaft vom Kapitalismus abwendet. Vielmehr rufe sie ein höheres Mass an Manipulation und Autorität hervor.

Vighi rechnet damit, dass die weltweite Wirtschaftskrise weitere gravierende Notstandsnarrative hervorrufen wird. Jeder Widerstand gegen den sich abzeichnenden neuen Status Quo werde unweigerlich zu einem Kampf führen, davon ist Vighi überzeugt. Dabei stelle sich für ihn die Frage, ob die Ursache für unsere missliche Lage im System selbst zu suchen ist oder durch äussere Einflüsse hervorgerufen wurde.

Das Inflationsgespenst

Der Professor fragt sich, in welcher Welt wir leben. Vighis Antwort:

«Unsere globalisierte Welt ist ein schuldenbasiertes System des simulierten Finanzwachstums, das auf der ständigen Ausweitung der Liquidität beruht. Diese wird in Form von Schulden/Krediten ‹aus dem Nichts› geschaffen. Unsere Zivilisation ist süchtig nach Gelddrucken und Vermögensblasen – eine Abhängigkeit, die kaum zu durchbrechen ist. In einer verschuldeten Welt wie der unseren ist nichts gefährlicher als die Ausweitung der falschen Liquidität zu stören; nichts ist bedrohlicher als eine plötzliche ‹Kreditklemme›, ein Ausbluten des frischgedruckten Geldes. Die Geldströme in Richtung Aktienmärkte müssen um jeden Preis weiter ansteigen.»

Vighi hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die Corona-Krise im Wesentlichen ein Versuch war, die Expansionsfähigkeit der künstlichen Liquidität zu einem kritischen Zeitpunkt in der Geschichte des Casino-Kapitalismus wiederherzustellen. Ende 2019 stand der Finanzsektor kurz vor dem Zusammenbruch. Für Vighi ist dies vorhersehbar gewesen; Ähnliches geschah bereits während der Finanzkrise 2007/08. 2019 sei aber noch viel mehr auf dem Spiel gestanden als 2008. Die Geldsucht des Systems habe 2019 einen kritischen Punkt erreicht.

Heute seien wir weiterhin Geiseln eines Ponzi-Schemas (1), bei dem die einen toxischen Verbindlichkeiten als Sicherheiten für andere toxische Verbindlichkeiten dienten. Die Zentralbanken hätten ihre Bilanzen ausgeweitet, um diese Verbindlichkeiten zu kaufen, nur um zu verhindern, dass sie ihren Papierwert verlieren. Vighi vergleicht das Ende der Geldmengenausweitung mit dem Herbeiführen eines Herzstillstandes. Wenn die Geldmengenkurve abflache, würde unsere Welt Krämpfe und Entzugserscheinungen bekommen sowie einen kalten Entzug machen.

«Durch die grotesk überschuldete Finanzindustrie stehen die gesamte Wirtschaft und das soziale Gefüge vor einem Abgrund. Die meisten Länder, auch die wohlhabenden, werden bald vor der Wahl stehen: entweder Zahlungsausfall oder Hyperinflation der Währung, die zur Rückzahlung der Schuldscheine benötigt wird. Das bedeutet, dass inzwischen die Kapitalakkumulation selbst am Leben erhalten wird; ihre Manager sind in einer Lage gefangen sind, die man nur noch als Lose-Lose-Situation bezeichnen kann.»

Einerseits wüssten die Manager, dass sie Gründe finden müssen, um mehr Liquidität, sprich: Schulden zu erzielen, indem sie Geld «drucken». Andererseits wüssten sie aber auch, so Vighi, dass dieser wenig originelle Taschenspielertrick nur zu einer galoppierenden Inflation respektive einer Hyperinflation führen könne. Heute sei das Gelddrucken salonfähig. Früher sei es vor allem für Kriegwirtschaften typisch gewesen, dass man sie durch das Drucken von Geld finanziert.

Dies werde dazu führen, dass die Realwirtschaft unter Druck gerate und gleichzeitig die Schere zwischen Arm und Reich weiter aufgehe. Vighi gibt zu bedenken, dass sich eine Welt, die als Geisel der Blaseninflation fungiert, unweigerlich «in Luft auflöst». Eine solche Welt werde sowohl ihre soziale Basis als auch ihre Sprache verlieren. Somit sei ein Widerstand nicht mehr möglich. Der Zusammenbruch sei zugleich ein wirtschaftlicher, soziopolitischer und kultureller.

Der Autor weist darauf hin, dass der weltgrösste Vermögensverwalter Blackrock im August 2019 ein Weissbuch mit dem unmissverständlichen Titel «Dealing with the Next Downturn: from Unconventional Monetary Policy to Unprecedented Policy Coordination» («Mit dem nächsten Abschwung umgehen: von unkonventioneller Geldpolitik zu beispielloser politischer Koordinierung») veröffentlicht hat.

Blackrock warne darin vor zwei eng miteinander verbundenen Risiken:

  • Die Märkte könnten illiquide werden, während der Politik die Ideen ausgehen.
  • Erhöht die Zentralbank ihre Geldmenge, könnte es zu einer Hyperinflation kommen, ähnlich wie in Simbabwe.

Blackrock habe die Zentralbanken dazu gedrängt, «unkonventionelle» Mittel zu finden, um den kommenden Abschwung zu vermeiden. Der Vermögensverwalter habe eine «beispiellose Reaktion» gefordert, ein «direktes Vorgehen». Das bedeute in diesem Zusammenhang, dass die Zentralbank Wege findet, um das Zentralbankgeld direkt in die Hände der öffentlichen und privaten Geldgeber zu bringen. Gleichzeitig soll sie sicherstellen, dass ein solches monetäres Ungetüm nicht in einer verheerenden Inflation mündet.

«Die Menschen sehnen sich nach einem neuen Gesellschaftsvertrag, der darauf beruht, sie vor globalen Katastrophen zu schützen.»

Vighi weist darauf hin, dass das Potenzial dieses modernen Leviathan durch einen neuen Geist der kollektiven Aufopferung freigesetzt werden könnte. Deshalb sei der heutige Kapitalismus so erpicht darauf, die Rhetorik der Linken zu kapern: Der Kapitalismus gehe davon aus, dass die ausgebeuteten Massen nur im Namen «fortschrittlicher Ideale» neue Formen der Beherrschung akzeptieren könnten. Diese seien als Opfer getarnt. Als Folge davon würden die konservativen und autoritären Machthaber ihre Ausbeutung vorantreiben, in dem sie sich «fortschrittlicher» und «humanitärer» Narrative bedienen.

Heute trete diese Logik bei der emotionalen Erpressung im Zusammenhang mit dem Klimawandel deutlich zutage: Von fortschrittlichen Individuen werde erwartet, dass sie drastische Veränderungen ihres Lebensstils – zum Schlechteren – auf sich nehmen. Dies unter der Annahme, dass sie mitschuldig an der Zerstörung der Erde seien. Gleichzeitig unterliege der Planet jedoch weiterhin der (re)produktiven, marktvermittelten Dynamik des Kapitals. Diese Haltung lasse sich an dem bekannten Phänomen der «prominenten Öko-Krieger» erkennen, einer Abspaltung des «philanthropischen Kapitalismus».

Leonardo DiCaprio twittert regelmässig zum kollektiven Kampf gegen den Klimawandel. Einer seiner Tweets lautet: «Wenn wir nicht gemeinsam handeln, werden wir sicher untergehen!». Vighi kritisiert, dass er diese Tweets auf seiner 110 Millionen Dollar teuren Superjacht mit Hubschrauberdeck schreibe. Denn bei einer Fahrt von nur wenigen Meilen würde diese Jacht so viele Schadstoffe ausstossen wie ein durchschnittliches Auto in einem Jahr.

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Fabio Vighi ist Professor für Kritische Theorie und Italienisch an der Universität Cardiff, Grossbritannien. Zu seinen jüngsten Arbeiten gehören «Critical Theory and the Crisis of Contemporary Capitalism» (Bloomsbury 2015, mit Heiko Feldner) und «Crisi di valore: Lacan, Marx e il crepuscolo della società del lavoro» (Mimesis 2018).

Weiterlesen (auf englisch).

1. Bei einem Ponzi-Schema handelt es sich um Geldanlagen, für die sehr hohe Renditen versprochen werden, die aber nur auf dem Papier existieren. Dabei werden Renditen für frühere Investoren mit dem Geld von künftigen Investoren generiert. Es ähnelt einem Schneeballsystem, weil die Gelder neuer Investoren dazu verwendet werden, um die früheren Geldgeber zu bezahlen.

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