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Deutschland – wer will das schon?

Published On: 9. November 2022 19:33

Wo waren Sie am 9. November 1989? Erinnern Sie sich noch? Ans ungläubige Staunen? Den rauschhaften Freudentaumel? Der bald mit tausend »Wenns« und »Abers« in Katzenjammer überging? Cora Stephans Portrait der emotionalen Verfasstheit zur Vereinigung der beiden Deutschland verweist auf Spaltungen, die nach über 30 Jahren tiefer geworden zu sein scheinen …

Seltsame Tage in diesem Lande. Da erfüllt sich Axel Springers Lebenswerk, aber der richtige Jubel will nicht aufkommen. Keine nationale Euphorie, kein entgrenzter Taumel, kein Gefühl der Beglücktheit, nur klammes Kirchengeläut. Keine deutsch-deutschen Aufmärsche, keine Demos an der Oder-Neisse-Linie und noch nicht einmal ein ordentlicher Wille, dem Irak zu zeigen, wer wir wirklich sind. Kaum ist man darob froh, dass er sich angesichts der wiedergewonnenen Freiheit zur Vereinigung und der wiedererlangten politischen Verantwortlichkeit halbwegs manierlich verhält, der Deutsche, ist man schon wieder irritiert: Kann er sich denn nicht wenigstens, in Maßen zwar, aber immerhin: freuen?

Kann er nicht. Wirklich nicht. Denn Deutschland – wer will das schon? Schwerlich die Oberstudienrätin und der Kreative, die, frischwegs und gebräunt aus wohlverdientem Jahresurlaub in der Toskana zurückgekehrt, Bedenken tragen müssen, wie sie das neue Deutsche Dingsda ihren italienischen Nachbarn erklären sollen. Heuer gibt’s daher ausnahmsweise einmal nicht die Urlaubsvideoshow für die Freunde, dafür wird am Stammtisch in der Wohnküche gesessen und gehadert: Lieber hätte man sich mit den Niederlanden oder dem Urlaubsland vereinigt oder mit irgendwelchen anderen lebensfrohen südlichen Katholiken, nicht aber mit diesen preußischen Protestanten.

Verwahren muss man sich gegen den »Anschluss« der DDR durch die Bundesrepublik, gegen ihren »Ausverkauf«, gegen ihre »Kohlonialisierung«. Wehren muss man den neuen Anfängen, der Großmannssucht, dem nationalen Wahn, der Weltmachtskoketterie. Und vom Halse halten sollte man sich tunlichst jene Zonis, die ihre Revolution für den Kohlauflauf der sozialen Marktwirtschaft, geb. Monopolkapitalismus, verhökert haben, diese unkultivierten Gesellen, die uns mit ihrem ausländerfeindlichen Gehabe und ihrem schlechten Benehmen den ganzen kosmopolitischen Bonus, den wir uns im Ausland mit harten Devisen hart erkämpft haben, verwirken werden.

Nein nein, es ist nicht nur jene eine Frankfurter Kulturdezernentin, die sich heuer mutig zu Mailand statt zu Leipzig bekennt. Der gesammelte kritische und aufgeklärte Mittelstand führt Völkerschlacht gen Leipzig: Deutschland? Wer will das schon?

Allein die deutschen Greise stürzen sich kregel ins Geschehen, wie der Dichter Patrick Süskind so larmoyant wie selbstironisch anmerkt: die mittlere Generation aber der heute um die 40jährigen steht staunend und früh vollendet auf dem Frankfurter Kreuz und will das alles nicht. Deutschland – igitt.

In Zeiten des Umbruchs und der Veränderung sind ausgerechnet die Zeitgenossen der 68er-Rebellen auf der Seite des Status Quo und mögen keinen Abschied nehmen von ihrer, der Geschichte der Bundesrepublik. Aus der Gegenwart und Zukunft des entstehenden größeren Deutschland haben sie sich bereits jetzt verabschiedet.

Womit ich nun aufhören will, ihnen und mir auch noch Schmäh hinterherzurufen. Denn die Identitätskrise der ersten Nachkriegsgenerationen der Bundesrepublik hat etwas Tragisches, weil – ja, doch! – Notwendiges. Der Verweis auf Auschwitz, der vielen noch im letzten Herbst als Begründung dafür diente, die DDR in ihren Grenzen halten zu wollen, war zwar funktionalistisch und moralisierend auf Kosten anderer, basierte aber auf einem nachvollziehbaren Gefühl – mit dem man indes tunlichst keine Politik machen sollte. Denn mit dem Umbruch in der DDR geht tatsächlich die Nachkriegszeit zuende, hat das Provisorium Bundesrepublik seine Schuldigkeit getan, ist die Zeit der westdeutschen Demokratie unter Vorbehalt an ihr Ende gekommen.

»Die deutsche Frage« ist nicht mehr offen – und damit, fürchtet manch einer, die Tür hinter der deutschen Vergangenheit des Nationalsozialismus zugeknallt. Das »größere Deutschland« könne demnach nur »Grossdeutschland« sein, die »Wiedervereinigung« nur Auftakt zu Nationalismus und Revanchismus. Die antifaschistische Vorstellungswelt aber brauchte die deutsche Zweiteilung schon als Fluchtpunkt, an dem man sich vergewissern konnte, dass man nicht Deutschland, nicht deutsch war und deshalb nicht verantwortlich war für dessen Geschick.

Auch nicht, und das ist die Tücke der Dialektik der Abgrenzung, für dessen Vergangenheit. Die Bundesrepublik, schreibt der Historiker Christian Meier, habe versucht, sich »aus der Geschichte und damit aus der Nation zurückzuziehen« – man verurteilte die Verbrechen und schob sie zugleich den anderen, den Deutschen von damals zu.

Das gilt nicht minder für die antifaschistisch gesonnenen Nachgeborenen, die sich in Identifikation mit den Opfern selbst zum Opfer erklärten – und die schon deshalb nicht ohne Identitätsbedrohung auf die Idee kommen können, die Nachkriegssituation in eigener Regie und eigener Verantwortung beenden zu wollen. Weshalb sie ihren Einfluss auf das etwas größere Deutschland vorauseilend auf Null veranschlagen. So gesehen haben sie recht.

Das Ende der Nachkriegssituation hieße nämlich: das deutsche Erbe wirklich antreten zu müssen und zwar mit allem, was dazu gehört – Kaiserreichen. Weltkriegen. Nationalsozialismus. Menschenvernichtung. Sozialistische Kasernierung.

Denn das vereinte Deutschland kann sich aus seiner Geschichte nicht entfernen. Im Gegenteil: Jetzt erst muss sie wirklich ge- und ertragen werden, nicht nur, weil andere danach fragen werden.

Auszug aus:

Cora Stephan, Im Drüben fischen. Nachrichten von West nach Ost. Edition EXIL im Buchhaus Loschwitz, Englische Broschur, 120 Seiten, 17,00 €.


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