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Die Bildung des Herzens

Published On: 10. November 2022 14:00

Die Pädagogik hat die Aufgabe, die Mitglieder einer Gesellschaft für diese „tauglich“ zu machen, also zu zivilisieren. Man kann beim Blick in den Spiegel der Geschichte behaupten, dass unter „Zivilisierung“ hauptsächlich die Zähmung der Wildnatur des Menschen verstanden wurde und wird. Seine bestialischen Anteile müssen in Schach gehalten werden. Das ist in den vergangenen Jahrhunderten weniger durch Zwang als durch den sogenannten „Fortschritt“ gelungen.

Damit meinen wir inzwischen einen Vorgang, bei der die Welt den Überfluss der freien und schier unerschöpflichen Ressource fossiler Brennstoffe in Mangel verwandelt. Fortschritt ist gleich Technologisierung, und die transhumanistischen Tendenzen wollen beide Begriffe endgültig zu Synonymen machen. Dass aus einem Anreiz zur Erhöhung des Lebensstandards eine Gefahr der Selbstauslöschung werden kann, lässt nach den erzieherisch vermittelten Werten dieser Gesellschaften fragen.

Nun sind die zentralen Ziele der Pädagogik die Herausbildung einer gesunden Urteilskraft und die Vermittlung von Werten. Damit befindet sie sich aber immer in einem paradoxen Feld. Jede individuelle und kollektive Erfahrung braucht die Täuschung als Kontrastmittel, ohne das sich keine zu bewahrende Wahrheit abzeichnen kann. Wahrheit und Wirklichkeit sind eben nicht deckungsgleich — erstere ist immer eine Erfahrung des Wahrnehmenden, letztere ist messbar. Wahrheit ist die Emergenz der Gegenwart im subjektiven Erfahren; da Gegenwart aber ihrem Wesen nach veränderlich ist, ist Wahrheit veränderlich.

Der Pädagoge ist bestrebt, diese Erfahrung in einer Weise zu lenken, dass sie dem nachhaltigen Wohl des Schülers dient, gleichzeitig sollen aber die schlimmsten Erfahrungen vermieden werden. Das ist das didaktische Paradoxon, nach dem es gilt, die Erfahrung, aus der man klug wird, zu vermeiden. Vielleicht ist es an der Zeit, die Vorstellung der Pädagogik aufzugeben, sie könne Menschen vor Eintritt der Erfahrung klug machen. Aufklärung hat noch so nie funktioniert. Wir haben gelernt, dass echte Aufklärung nur von denen verstanden werden kann, die dank ihrer Erfahrung bereits aufgeklärt sind.

Und dieses Wissen findet sich im Studienmaterial jedes angehenden Pädagogen: Die Kombination (Lernziel) von dem, was der Schüler will (Handlungsziele) und dem, was er soll (Erziehungsziele) erst macht nachhaltige Wissensvermittlung möglich. Ohne bestimmte Erfahrungen resoniert kein Lehrinhalt mit dem Schüler. Und ohne Berücksichtigung der Handlungsziele geht jede Pädagogik am Erfolg vorbei. Hier steht die Menschheit nun, zumindest in der westlichen Hemisphäre: gebildet und nach eigener Angabe mündig. Die Fähigkeit zur Bestialität glauben wir weitestgehend überwunden. Doch die politische Realität zeigt offenbar etwas anderes. Wie kann es sonst sein, dass trotzdem geschieht, was wir nicht wollen? Wo liegt also das Versäumnis?

An den Schlüsselstellen gibt es zu wenige fähige Pädagogen. Die Pädagogen der Vergangenheit waren — ebenso wie die der Gegenwart es sind — Manipulatoren, die die Massen bequem, satt und ängstlich halten, ihr dabei aber erfolgreich ein ganz anderes Selbstbild vermitteln.

Der Pädagoge vermittelt die Werte einer Gesellschaft. Diese bestimmen, was wir anstreben, worüber wir uns echauffieren, was wir für förderlich erachten oder wie wir Fleiß definieren. Unser gegenwärtiger Standpunkt ist also die Kulmination unserer anerzogenen Haltung gegenüber dem Erfahrenen und bildet einen Circulus vitiosus.

Wir wiederholen scheinbar Bewährtes. Was erkennen wir im Spiegel der globalen Situation? Welche Werte lassen sich darin ablesen? Ist es das Wissen, Teil einer globalen Familie zu sein, oder Konkurrenten um Ressourcen? Ist es der Wert des Lebens, der über allem steht und in allem wirkt, oder vielmehr ein primitiver Überlebensinstinkt in modernem-finanzkapitalistischem Gewand?

Ist es Achtung und Respekt vor der Ebenbürtigkeit der Bedürfnisse aller Menschen dieser Welt oder eher die Aufwertung der eigenen Zugehörigkeit? Ist es ein integrales Verständnis von Leben als Manifestation einer schöpferischen Entwicklung von Bewusstsein oder ein entseeltes Zweckdasein?

Die Werte, nach denen eine Gesellschaft funktioniert, sind ursächlich verantwortlich für deren Krankheiten und Gesundheiten. Unter der Maßgabe des Wertes der „Freiheit“ wird heute beispielsweise die gesamte Ökosphäre aufs Spiel gesetzt, denn das westliche Verständnis von Freiheit beinhaltet immer auch das westliche Verständnis von Demokratie. Es beinhaltet aber auch die Vorstellung vom Wert der individuellen Freiheit und Selbst-werdung, die aber im Kern immer Raubtier-Kapitalismus hervorbringt, denn dieses Verständnis von Freiheit ist untrennbar mit dem Recht auf das Verbrennen fossiler Stoffe verbunden. Die Polit-Pädagogik der vergangenen Jahre hatte die Aufgabe, den Wert des Wachstums, befeuert durch das Recht zur Selbstverwirklichung, lebendig zu erhalten, während sie auf der anderen Seite den gegenteiligen Wert des Verzichtes zugunsten der Rettung unserer Heimatwelt vermitteln will.

Seichte Mittelmäßigkeit statt Lebenstiefe ist das Ergebnis.

Das Vertrauen des westlichen Menschen beruht nicht auf das Eingebettet-sein im Leben selbst, sondern auf den von ihm geschaffenen künstlichen Systemen. Seine Angst vor Morgen ist an die Informationen gekoppelt, die die Mediensysteme liefern und deren Inhalte er als Repräsentation gültiger planetarer Wirklichkeiten versteht.

Die einzig wahre pädagogische Aufgabe kann nur darin bestehen, die Fähigkeit zum Erkennen und Infrage stellen bestehender Werte zu erzeugen. Werte sind, wie bereits dargestellt, das Produkt pädagogisch/propagandistisch vermittelter Ideale. Damit attackiert wirkliche Pädagogik immer das eigene Fundament, nämlich die scheinbar ewige Natur erworbenen Wissens. Denn: Immerhin ist es dieses Wissen, welches uns erst in die Bredouille moderner Probleme gebracht hat. Wissen verhindert Wachstum, denn es verhindert das Experimentieren mit dem Neuen.

Wir konnten sowohl aus der individualpsychologischen als auch der gesellschaftshistorischen Geschichte lernen, dass sich ein System unbewusst zum Kollaps navigiert, wenn es in einer chronischen Krise steckt. Dieser Mechanismus kann von der vorherrschenden Pädagogik der Ignoranz nicht umgangen werden.Dieses Sicherungssystem erlaubt keine unendliche Abweichung vom Mittelmaß.

Keine Pädagogik kann ihren eigenen Entwicklungsstand überschreiten. Die ihr zugrunde liegenden Werte repräsentieren notwendigerweise immer die Stufe ihrer moralischen Entwicklung. Nach dem Psychologen Lawrence Kohlberg bildet sich Moral in drei groben Schritten: Beginnend mit der Prä-konventionellen Moral, die auf Angst vor Strafe gehorsam ist, über die Konventionelle Moral, die zweckmäßig kalkulierend und konform-orientiert ist, hin zur Postkonventionellen Moral, die sich an universellen ethischen Maßgaben orientiert und ihre Quelle ausschließlich im Individuum hat.

Leider scheinen wir weltpolitisch die Stufe der Konventionellen Moral derzeit nicht überschritten zu haben. Gleichzeitig stehen wir vor Herausforderungen, die bloßes Funktionieren in der Welt kraft der globalisierten und technisierten Ausweitung des Menschen weit überschreiten; es geht um mehr als lediglich um ein reibungsarmes Nebeneinander und ökonomische Beziehungspflege. Da wäre die Frage nach der Identität des Menschen als Bewusstseinsträger überhaupt, nach seiner Einordnung als Welt- oder Nationalbürger, nach seinem Verhalten gegenüber der Mitnatur, seinem Verständnis von Krankheit als Ausdruck der Seele und natürlich seinen Werten wie den oben skizzierten.

War Kultur — verstanden als konventionierende Lebenspraxis — bisher Selbstzähmung, so stehen wir jetzt unausweichlich vor der Herausforderung, uns moralisch weiterzuentwickeln. Es ist nicht möglich, „die Probleme mit den Mitteln zu lösen, die sie verursacht haben“, wie Albert Einstein es formuliert hat.

Wir werden Umweltzerstörung, Ressourcenmanagement, Nationalkonflikte und Bevölkerungsentwicklungen nicht mit der gewohnten Denkweise lösen können. Nun sind aber ausschließlich Vertreter der überkommenen Moral an den Schaltstellen, und sie repräsentieren die Mehrheit. Ihre Moral ist nicht nachhaltig, sie mehrt durch jede weitere Aktion die Hypothek existenzbedrohlicher Schuldenmasse.

Unsere Pädagogik braucht das Wissen um unsere Verletzlichkeit. Gegenstand der Pädagogik waren immer auch die großen Philosophen und Literaten, denen es gelungen ist, die Essenz ihrer Erfahrungen dauerhaft festzuhalten. Wenn Goethe zum Kern menschlichen Seins kommt, liest sich das so:

Woher sind wir geboren?

Aus Lieb.

Wie wären wir verloren?

Ohn Lieb.

Was hilft uns überwinden?

Die Lieb.

Kann man auch Liebe finden?

Durch Lieb.

Was läßt nicht lange weinen?

Die Lieb.

Was soll uns stets vereinen?

Die Lieb.

Ist ein solches Gedicht lediglich Kulturgut von historischem oder schöngeistigem Interesse? Oder Spiegel einer umfassenden Geisteshaltung? Jede Epoche bringt andere Qualitäten zum Erscheinen. Möglicherweise finden wir uns gegenwärtig eher in der Lyrik eines Wolfgang Borchert wieder:

Als der Krieg aus war, kam der Soldat nach Hause. Aber er hatte kein Brot.

Da sah er einen, der hatte Brot. Den schlug er tot.

Du darfst doch keinen totschlagen, sagte der Richter.

Warum nicht, fragte der Soldat.

Der Dichter zeigt die Abhängigkeit der Moral vom Gegebenen und die daraus resultierende Absurdität. Unsere gegenwärtige Ethik ist absurd. Sie folgt Werten, die nicht mehr in eine globalisierte Welt passen, in der es ein macht- und gewaltgesteuertes Gegeneinander — von Embargos bis hin zur Drohung von Atomwaffeneinsatz — nicht mehr geben darf.

Eine Ethik, die Konsum und Wohlstand zum Preis der Armut und Ausbeutung billigt, entspringt einer Doppelmoral, die einerseits Krieg mit dem Freiheitsargument rechtfertigt, aber gleichzeitig Menschen unterdrückt, die ihre Freiheit zur gesundheitlichen Selbstbestimmung einfordern.

Nachhaltige Pädagogik sollte den Blick dafür sensibilisieren, statt das Alte und Unbewährte weiter zu konsolidieren; und das nicht nur bei unseren Kindern. Nachhaltige Pädagogik muss immer fragen, woher sie stammt, und sie muss fragen, ob sie Entwicklung oder Vermeidung will.

Wir sehen uns Menschen als Wesen mit der Fähigkeit zum Großartigen. Unsere Kunst lässt erkennen, wie auch eine höhere Sphäre durch uns zum Ausdruck drängt. Menschliches Mitgefühl in Situationen humanitärer Katastrophen weist auf einen Wesenskern höchster Schönheit. Die Fähigkeit zur Liebe und Unverbrüchlichkeit überschreitet jede biologische Notwendigkeit. Jeder strebt als Einzelwesen in der Regel nach Harmonie und Ästhetik, will keinen Schaden anrichten, handelt altruistisch und fürsorglich. Diese Eigenschaften funktionieren verlässlich im sozialen Nahraum. Doch sobald die Anonymität größerer Lebensordnungen zu wirken beginnt, lassen diese nach und weichen einer Fremdheit. Der sozial Andere ist dann kein „Mitmensch“ mehr, sondern nur noch Repräsentant der unverstandenen Anteile der Welt und daher auch leicht mit Schuldzuweisungen zu belegen. Er, der Fremde, seine Ideologie, seine Nation, seine Lebensvollzüge, seine Bedürfnisse, werden zum Problem, zur entmenschlichten Problemmasse.

Eine nachhaltige Pädagogik muss das berücksichtigen und das Hohe, das Erhabene im Menschen fördern, ihm Raum und Ausdruck geben und es global ausweiten. Wir lernen, dass unser eigenes Verhalten nicht abgekoppelt ist vom Leben unserer Mitmenschen auf der anderen Seite des Globus. Wir müssen, lernen, Menschlichkeit zu globalisieren. Eine Pädagogik, die zuerst die Werte vermittelt, die unsere Existenz überhaupt lebenswert machen, ist eine Pädagogik des Herzens, nicht des Verstandes alleine.

Der Verstand macht möglich. Aber was macht er möglich, wenn das Herz nicht vorausgeht? Welches Grauen haben wir der isolierten Verstandespädagogik zu verdanken? Vielleicht stehen wir an einem Wendepunkt von weltumspannender Dimension. Die Situation erfordert ein neues Curriculum. Wir haben die Möglichkeit, die bisherigen Werte auf ihre Gültigkeit zu prüfen, wir können den Lehrplan ändern. Wir können die Autoritäten infrage stellen und ihre Intentionen mit der Weltwirklichkeit validieren: Im Unterschied zu herkömmlichen Schulsystemen haben wir sie eingesetzt, sie sind unsere Auftragsnehmer!

Es braucht jetzt dringend eine Pädagogik, die verhindert, dass wir die größte Bedrohung für uns selbst sind.

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