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Advent in Zeiten der Dunkelheit

Published On: 4. Dezember 2022 16:00

Die Weihnachtsgrüße bleiben einem immer mehr im Halse stecken. Doch wie mit dem täglichen Irrsinn umgehen, ohne verrückt zu werden? Zynismus und Resignation sind jedenfalls keine Lösung.

Alle Jahre wieder brennt ein Lichtlein, dann das zweite, das dritte, das vierte. Ja, ist denn bald wieder Weihnachten, klopft das neue Jahr schon sachte an die Tür? Tatsächlich. Aber irgendwie ist nichts mehr wie früher. Wenn der Satz beginnt mit: „Ja, damals …“, klingt es wie aus längst vergangenen Zeiten. Was irgendwie auch stimmt. Andererseits: Gehört man nicht mehr zu den ganz Jungen, ist es gefühlt noch gar nicht so lange her, dass wir in einer saturierten Bundesrepublik Deutschland lebten, in der in der Regel alles funktionierte und Pleiten, Pech und Pannen die Ausnahmen waren.

Wahl„-Pannen“, Gefahr eines Blackouts wegen Netzüberlastung wie in Drittweltländern und vieles weiter Haarsträubendes – gab’s nicht. Nicht in Deutschland. Ein Wahldesaster wie in Berlin hatte man noch nicht gesehen. Die Verwaltung funktionierte meist geräuschlos. Wir hatten die sicherste Stromversorgung und die sichersten und leistungsfähigsten Kernkraftwerke der Welt. Und wer erinnert sich nicht an die Deutsche Bundesbahn, nach der man buchstäblich die Uhr stellen konnte? Sie fuhr nicht nur pünktlich, sondern auch bei jedem Wetter. Zum Bedauern manchen Schulkindes, das vergeblich auf schulfrei wegen Schneefalls hoffte, weil dann keine Bahn fuhr. Nein, auf die Bahn war Verlass. Heute, wo nicht nur auf sie kein Verlass mehr ist, lernen viele erst schätzen, was wir durch eigene Dummheiten verloren haben.

Seit ich gelegentlich für Achgut schreibe, ist mir noch jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit ein Gruß an Herausgeber und Redaktion eingefallen, verbunden mit den besten Wünschen fürs neue Jahr. Von Jahr zu Jahr aber fiel es mir schwerer, passende Worte zu finden. Es vergeht mittlerweile kein Tag, eigentlich keine Stunde, an dem beziehungsweise zu der uns nicht eine Nachricht erreicht, über die man nicht einmal mehr mit den Ohren schlackern kann. Was soll man da noch halbwegs Intelligentes schreiben? Alles schreit nach Abstand. Andererseits wird der tägliche Wahnsinn nicht ungeschehen gemacht, indem man ihn ausblendet. Und das Ignorieren löst auch keine Probleme. Folgerichtig hat Achgut solche haarsträubenden Meldungen unermüdlich angesprochen, aufgeschrieben und veröffentlicht. Darauf zu verzichten, wäre auch hier: Selbstaufgabe.

Hinnehmen, ohne dabei zynisch zu werden

Fabian Nicolay hat im letzten Newsletter dennoch die Frage gestellt, ob es zuweilen nicht sinnvoller wäre, einfach abzuschalten. Er schreibt: „Manchmal ist es besser, angenehm gefühllos oder taub zu sein. Auch wenn das bedeutet, dass man abgestumpft erscheint. Denn es macht keinen Sinn, gegen gesellschaftliche Wände zu rennen und sich dabei seelisch zu deformieren.“ Und er meint zum Schluss: „Ich glaube, dass es durchaus klug sein kann, den Irrtümern der anderen auszuweichen, statt ihre Wucht abfangen zu wollen.“

Nun, ich gestehe, ähnliche Gedanken sind mir wiederholt gekommen. Gegen eine gesellschaftliche Wand kommt in der Tat niemand als Einzelperson an. Wozu sich aufreiben und abarbeiten an Sachen, die man doch nicht ändern kann? Ich glaube jedoch, dass Abstumpfung und Gefühllosigkeit nicht die Mittel der Wahl sind, sondern die Weisheit, zu unterscheiden zwischen Dingen, die wir ändern können und die wir nicht ändern können. Und letztere hinzunehmen, ohne dabei zynisch zu werden.

Hand aufs Herz: Wer mag Zynismus am eigenen Leibe erfahren, wer möchte schon von menschlicher Kälte umgeben sein? Und wo soll Menschlichkeit herkommen, wenn man selbst nicht mehr bereit ist, sie vorzuleben – nicht als „Haltung“ ohne jeden Wert, sondern indem man offenbleibt für Nöte seiner Mitmenschen? Diese sind ja nicht verschwunden. Auch dieser Tage sind längst nicht wieder alle „selber schuld“ an der Misere, in der wir bis zum Hals stecken.

Zudem: Ehe man sich’s versieht, könnte man selber Hilfe und Verständnis dringend nötig brauchen. Wer dies aber selbst nicht aufbringt, der sollte sich nicht über Kälte und Gleichgültigkeit Anderer beschweren, wenn es ihn selbst einmal erwischen sollte. Und sich schon gar nicht über angebliches oder tatsächliches Versagen oder Wegsehen unserer Vorfahren beklagen. Viel aktueller erscheint doch die Frage, ob wir es wirklich anders und besser machen. Ich habe da meine Zweifel. Aber nicht, weil ich Versagen für „typisch deutsch“ halte. Das ist Unsinn. Komisch ist auch, dass immer nur „den“ Deutschen kollektive Vorwürfe gemacht werden, nie aber „den“ Chinesen, „den“ Nordkoreanern, „den“ Afghanen, „den“ Afrikanern, „den“ was auch immer (bis vor Kurzem auch „den“ Russen). Gleichzeitig heißt es oft: Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient. Merkt denn niemand den Widerspruch?

Riesiges Feuerwerk aus echter Freude

Nur den Deutschen werden gerne alle möglichen negativen Eigenschaften an den Kopf geworfen, am liebsten von den Deutschen selber. Dagegen habe ich mich immer gewehrt, das hat mich schon immer angewidert. Weil dieses sehr einseitig aufgeladene Bild so einfach nicht stimmt. Und weil es suggeriert, die Deutschen hätten keinerlei Liebenswertes an sich. Doch, ausgewiesene Freundlichkeit etwa kann durchaus sehr deutsch sein, das hatte sogar der Amerikaner George Bush sen. auf seinem Deutschland-Besuch im Mai 1989 ausdrücklich betont – bestimmt nicht, weil er in seiner Eigenschaft als US-Präsident zu diesem Bekenntnis gezwungen worden wäre. Eine reine Gefälligkeit war es auch nicht. Das hatte er gar nicht nötig.

Und was sind die Ereignisse in den Tagen und Nächten nach dem 9. November 1989 denn anderes gewesen als ein riesiges Feuerwerk aus echter Freude, tiefen Glücksgefühlen, ehrlicher Anteilnahme und aufrichtiger Hilfsbereitschaft? Es gab so unendlich viele menschlich berührende Momente im Deutschland jener Tage; die ganze Welt hatte das voller Anteilnahme bezeugt. Vernon A. Walters, damals amerikanischer Botschafter in der Bundesrepublik, hatte das Geschehen, schwer beeindruckt von den Bildern in Berlin, sogar in seinem Buch „Die Vereinigung war voraussehbar“ festgehalten.

Von der vielzitierten „Ellenbogengesellschaft“ war damals weit und breit nichts zu sehen. Außer bei den Rotgrünlinken natürlich. Mit dem Zusammenbruch der Mauer zerbrach auch ihr sozialistischer Traum. Das Volk aber lag sich mit Freudentränen in den Armen. Enno von Loewenstern brachte es einst so schön auf den Punkt: „Niemals zuvor hat sich ein Volk so dramatisch als selbstlos und hilfsbereit dargestellt wie hier, wo die Menschen spontan das ebenso Anständige wie politisch Richtige taten, obwohl keine politische Partei und keine geistige Führung sie darauf vorbereitet hatte – die Bürger waren es, die die Politiker trieben, nicht umgekehrt.“ Warum nur werden diese unsere glücklichsten Momente, die das Beste von uns zum Vorschein brachten, so oft kleingeredet? Manche würden diese Erinnerung gar am liebsten gänzlich aus dem deutschen Gedächtnis löschen. Nein, als normal kann das nicht angesehen werden.

Ein Stück gelebte Menschlichkeit

Wer unbedingt an der Zuweisung kollektiver Eigenschaften festhalten will, dem sei gesagt, dass die Deutschen ein eher gutmütiges Volk sind. Nur dass Gutmütigkeit, genauso wie Duldsamkeit, nicht ausschließlich positive Seiten hat. Und es ist auch nicht so, dass ich nur schöne Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend im westlichen Teil Deutschlands hätte. Aber es wäre falsch, zu behaupten, ich hätte ausschließlich negative Erfahrungen mit meinen Landsleuten gemacht, gemeint ist jenes oft bemühte Zerrbild, bestehend aus lauter autoritären Eltern, überstrengen und ungerechten Lehrern, untertänigen Mitbürgern, pedantischen Beamten ohne jedes Herz am rechten Fleck – nein, in einer solchen Gesellschaft bin ich nicht aufgewachsen. Das zu behaupten, wäre eine Lüge.

Ich habe zwar nicht im Paradies gelebt, und ja, ich habe manche Ungerechtigkeit erfahren, Herzlosigkeiten und andere Gemeinheiten, doch das Gros unserer Eltern war bemüht, uns ein besseres Leben zu bieten, als sie selbst es hatten, und sie delegierten die Verantwortung für ihren Nachwuchs nicht weitgehend an Andere. Sie waren für uns da. Sie ließen uns nicht alles durchgehen, dennoch wurden wir nicht überbehütet, sondern hatten Freiräume, von denen heutige Kinder, eingezwängt in übervolle Terminkalender, nicht einmal träumen können.

Es gab durchaus Lehrer, die voller Engagement und ganz persönlich bemüht waren, ihren Schützlingen das nötige Rüstzeug fürs Leben zu vermitteln. Und es gab deutlich mehr Journalisten als heute, die nicht regierungstreu, aber staatsloyal – das heißt: im Einklang mit dem Grundgesetz! – schrieben. Es gab sogar Redakteure, denen die Präambel des Grundgesetzes von 1949 Verpflichtung war, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“. Auch dies war ein Stück gelebte Menschlichkeit.

Inmitten von Unmenschlichkeit menschlich bleiben

Heute ist vieles aus den Fugen geraten. Warum? Weil man alle einst selbstverständlichen und verbindenden Werte über Bord geworfen und bürgerliche Tugenden (ohne die, wir wir heute sehen, nichts mehr rund läuft) als „Sekundärtugenden“ verhöhnt hat. Man muss nicht dem Kollektivismus das Wort reden, um den oft gnadenlosen Hedonismus von Teilen der Nachkriegsgenerationen für ebenso falsch zu halten. Dieses „Ich, ich, ich“ – das ist für viele schon lange der Maßstab, nicht nur in Politik und im Showgeschäft, auch im Privatleben.

Wie es dem Anderen geht, interessiert höchstens am Rande oder wenn es irgendwie opportun erscheint und sich Nutzen daraus schlagen lässt. So funktioniert auf Dauer kein friedliches und befriedigendes Zusammenleben. Aber der Mensch ist nun mal nur selten fürs Alleinsein gemacht. In der Regel sehnt er sich nach Geborgenheit in einer Gemeinschaft. Diese funktioniert jedoch nicht ohne gegenseitige Rücksichtnahme. Aus meiner Sicht verlorengegangen ist, und zwar auf allen Gebieten, vor allem eines: Maß und Mitte. Dahin müssten wir zurückfinden. Solange dies nicht geschieht, wird es keine Besserung geben.

Wie mit dem täglichen Irrsinn umgehen, ohne verrückt zu werden? Man kann sich Fluchtpunkte suchen. Welche diese sind, muss jeder für sich selbst herausfinden. Die verschiedensten Hobbys können da ein guter Anhaltspunkt sein und für stundenlange Ablenkung und Vertiefung jenseits der Nachrichtenlage sorgen. Man kann sich mit Büchern in eine andere Welt träumen. Man kann ins Basteln und Schaffen schöner oder nützlicher Dinge versinken.

Man kann auch einem Hobby frönen, bei dem man sich dem Leben zuwendet und damit den Lebewesen, ob sie nun zweibeinig, vierbeinig, mit Fell, geflügelt oder geschuppt sind. Die Natur ist keineswegs nur brutal und gnadenlos, sie bietet ebenso viel Schönes und Staunenswertes, Lustiges und Tröstliches. Man kann sogar von ihr lernen. Man muss sich nur darauf einlassen. Und das Schöne ist: Es kostet nichts, man braucht nur rauszugehen in Wald und Flur.

In diesem Sinne wünsche ich den Achgut-Herausgebern, der Redaktion sowie allen Lesern Momente zum Durchatmen und trotz allem eine schöne Advents- und Weihnachtszeit sowie beizeiten alles Gute fürs kommende Jahr. Verzagtheit macht nichts besser, eher schlimmer, das zeigt auch ein Blick auf die Geschichte. Wenn die Menschen resignierten, hatten die Machthaber stets ein leichtes Spiel. Ich habe immer jene Menschen bewundert, die in dunklen Zeiten sich nicht brechen ließen. Und die inmitten von Unmenschlichkeit menschlich blieben.

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