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Der Wandel der westlichen Gesellschaftsordnung

Published On: 27. Dezember 2022 0:05

Veröffentlicht am 27. Dezember 2022 von Red.

Im Jahre 1944 veröffentlichte der in Wien geborene Karl Polanyi (1886—1964), der seit 1935 im Exil in Grossbritannien und seit 1940 in den USA gelebt hat, eine Studie zu den Ursachen des Ersten Weltkrieges und des Faschismus. Seine These ist, dass die Ideologie des «selbstregulierenden Marktes» Ursache für Aufstieg und Niedergang der westlichen Industriegesellschaft ist. Die Frage dabei ist, ob die Brisanz dieser These bis heute erhalten blieb oder vielleicht sogar zugenommen hat? Der Suhrkamp Verlag veröffentlichte die Studie im Jahr 1978 unter dem Titel: «The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen».

Polanyi beginnt seine Darstellung unter der Überschrift «Der hundertjährige Friede» mit dem Zusammenbruch der Welt des 19. Jahrhunderts im Jahre 1914 (The Great Transformation, S. 19 ff.), setzt aber das Ende des 19. Jahrhunderts erst mit dem Jahr 1920 an. (S. 42) Später wurde der Ausdruck vom «langen 19. Jahrhundert» geprägt. Die Welt des 19. Jahrhunderts beruhe auf vier Säulen: System des Kräftegleichgewichts, internationaler Goldstandard, selbstregulierender Markt und liberaler Staat. (S. 14) Quelle und Matrix des Aufstiegs der grossen Industrie zwischen 1832 und 1914 sei die krasse Utopie «eines selbstregulierenden Marktes gewesen.» Eine solche Institution konnte über «längere Zeiträume nicht bestehen, ohne die menschliche und natürliche Substanz der Gesellschaft zu vernichten (…)». (S. 19 f.) Polanyi beschreibt die Entstehung dieser Ideologie und entzaubert gleichzeitig deren Revisionsversuche gesicherten Grundlagenwissens mit neuesten historischen und anthropologischen Erkenntnissen seiner Zeit.

Polanyi dokumentiert auch die politischen Interventionen, mit denen die Träger dieser Ideologie versucht haben, Arbeit, Boden und Geld als «Ware» zu deklarieren. Schliesslich stellt er klar, dass der «selbstregulierende Markt» nicht als Mittel zu irgendeinem sozialen Zweck erfunden wurde, sondern als reiner Selbstzweck. Unmittelbare Folgen dieser Markt-Politik seien die Gleichschaltung der kleineren Länder über die Währungssysteme (S. 334) und der Versuch der Vernichtung aller Verhältnisse, die nicht auf Vertragsbasis gegründet sind, wie Nachbarschaft, Familie, gegenseitige Hilfe, Beruf, Bekenntnis und anderes (S. 224 f.)

Polanyi beschreibt auch Gegenbewegungen zur Marktideologie. Zum Beispiel wurde in England über das sogenannte Speenhamland-Gesetz Ausgleichszahlungen für den Niedriglohnsektor beschlossen. Das hatte jedoch zur Folge, dass die Löhne und die Arbeitsproduktivität noch weiter sanken. Insgesamt sei die Entwicklung der Marktideologie in eine bestimmte Richtung gelenkt, die industrielle Entwicklung desorganisiert und die Gesellschaft zerrüttet worden. (S. 20)

Ausführlich analysiert Polanyi auch das internationale Gleichgewicht zwischen 1815 und 1914. In der ersten Hälfte dieser Periode bewahrten die «Heilige Allianz» und die katholische Kirche den Frieden zwischen den Grossmächten und in der zweiten Hälfte die vorwiegend in der Londoner City ansässige Hochfinanz. (S. 24 ff.) Die Herausbildung der industriellen Zivilisation wurde von einer Kette von Kriegen gegen die Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas begleitet. Doch zwischen den Grossmächten kam es in dieser Zeit nicht zu einem Krieg.

Am Ende des 19. Jahrhunderts brachte das neue Industriesystem koloniale Rivalitäten und den Kampf um exotische Märkte hervor. Es kam zur Herausbildung zweier feindlicher Machtgruppierungen. Die Vermittlungsmöglichkeit der Hochfinanz verringerte sich dadurch schnell. (S. 40) Das Marktsystem war 1914 auf einem gewissen Höhepunkt angelangt und masste sich Universalität an. (S. 182) Aber als die Wirtschaft zusammenbrach, brach auch das Kräftegleichgewicht zusammen. Der explosionsartig ausbrechende Krieg zwischen den beiden Machtblöcken vernichtete die Zivilisation des 19. Jahrhunderts.

Die Sieger einigten sich auf eine nahezu vollständige Abrüstung der Verlierer, veränderten zahlreiche Grenzen, verhängten Sanktionen gegen einzelne Länder und legten hohe Reparationszahlungen für die Verlierer fest. Man entledigte sich der «deutschen Konkurrenz», verzichtete auf Wiederherstellung eines Systems des Kräftegleichgewichts und damit auf einen Faktor der Stabilität. (S. 21) Nach dem Ersten Weltkrieg entstand der Völkerbund in Genf, jedoch ohne die USA. Einige Vertreter der Hochfinanz engagierten sich in der Politik für den Völkerbund.

Für kurze Zeit schien die Möglichkeit der Rückkehr zur Stabilität des 19. Jahrhunderts und der Verhinderung eines Krieges zwischen den Grossmächten wiederhergestellt. Der Goldstandard aus dem 19. Jahrhundert erschien als verbliebene Säule der Stabilität. Polanyi beschreibt, wie kleinere europäische Länder im Vertrauen auf diese Entwicklung versuchten, den Goldstandard wieder zu erreichen, um eine Stabilität zu sichern, ohne es allerdings zu schaffen. Auch im Finanzzentrum London glaubte man lange an den Goldstandard.

Doch in den 1920er Jahren war eine «Transformation» der Ideologie eines selbstregulierenden Marktes zur internationalen Dominanz vollzogen worden. Deren Ideologen verhinderten alle Reformversuche, das heisst alle gesetzlichen Regelungs-, Planungs- und Rettungsversuche. 1931 mussten Grossbritannien und 1933 die USA aufgrund der Entwicklung im Währungsbereich den Goldstandard aufgeben. Damit brach der Weltmarkt, der internationale Handel, praktisch zusammen. Der «Völkerbund» und das politische Engagement der Hochfinanz endeten damit faktisch ebenfalls. Für den Inselstaat Grossbritannien und die grossen USA selbst hatte das Ende des Goldstandards zunächst keine verheerenden Auswirkungen. Aber für die Mehrheit aller Länder war die autarke Entwicklung der einzig mögliche Ausweg.

In dieser Situation stand auch schon eine neue Ideologie bereit: «Wenn es je eine politische Bewegung gab, die den Erfordernissen einer objektiven Situation entsprach und nicht das Ergebnis zufälliger Ursachen darstellte, dann war es der Faschismus. Gleichzeitig war der zerstörerische Charakter der faschistischen Lösung offensichtlich. Sie bot einen Ausweg aus der strukturellen Sackgasse an, die in vielen Ländern im wesentlichen gleicher Art war, und doch würde diese Kur, falls man sie versuchte, überall zu einer todbringenden Krankheit führen. Dies ist die Art und Weise, in der Zivilisationen zu Grunde gehen.» (S. 314) Den Faschismus könne man, so Polanyi, als eine «Reform der Marktwirtschaft» betrachten – um den Preis der Auslöschung aller demokratischen Institutionen. (S. 314)

Das Aufkommen einer solchen Bewegung in den Industrieländern und in den schwach industrialisierten Ländern hatte also keine lokalen, nationalen oder geschichtlichen Ursachen. (S. 314). Der Faschismus hatte, so Polanyi, mit dem Weltkrieg ebenso wenig zu tun wie mit dem Vertrag von Versailles, mit dem Militarismus der Junker oder dem italienischen Temperament. Polanyi zählt nahezu alle europäischen Länder auf und nennt ihre ganz unterschiedlichen historischen, kulturellen und religiösen Voraussetzungen: «Es gab in der Tat keine Art von Tradition religiöser, kultureller oder nationaler Art, die ein Land gegen den Faschismus immunisiert hätte, sobald die Bedingungen für sein Entstehen gegeben waren.» (S. 315)

Die Wirksamkeit der faschistischen Strömung sei wesentlich grösser als deren zahlenmässige und materielle Stärke gewesen. In keinem der Fälle habe der Faschismus eine Revolution gegen die verfassungsmässige Macht durchgeführt: «Die faschistische Taktik bestand stets in einer Scheinrebellion mit stillschweigender Billigung der Staatsmacht, die vorgab, von der Gewalt überwältigt worden zu sein.» (S. 316)

Polanyi fügt hier an: «Dies sind die Konturen eines komplizierten Bildes, in dem wohl noch Platz wäre für so verschiedenartige Gestalten wie der katholische Demagoge in der Industriestadt Detroit, der ‹Kingfish› im rückständigen Louisiana, die japanischen Armeeverschwörer und die ukrainischen antisowjetischen Saboteure. Der Faschismus war seit den dreissiger Jahren in jeder Industriegesellschaft eine latente politische Möglichkeit, eine jederzeit mögliche emotionale Reaktion.» (S. 316)

Polanyi führt Beispiele verschiedener europäischer Länder an und fasst zusammen: «Wie wir sehen, verband sich der europäische Faschismus in den zwanziger Jahren nur zufällig mit nationalistischen und konterrevolutionären Bestrebungen. Es handelte sich um eine Symbiose von Bewegungen unabhängiger Herkunft, die einander verstärkten und den Eindruck einer wesentlichen Gleichartigkeit hervorriefen, während sie eigentlich nichts miteinander zu tun hatten. In Wirklichkeit wurde die vom Faschismus gespielte Rolle von einem Faktor bestimmt: dem Zustand des Marktsystems.» (S. 321)

Nach dieser These erinnert Polanyi noch einmal an die Genese: Von 1917 bis 1923 war es in der Folge des Krieges zu einigen Revolutionen und anschliessenden Konterrevolutionen gekommen. «1924 und danach waren Europa und die Vereinigten Staaten Schauplatz einer ungestümen Hochkonjunktur, die alle Besorgnisse bezüglich der Solidität des Marktsystems erstickte (… ) Die Reichsmark wurde wie durch ein Wunder saniert; der Dawes-Plan hatte die Reparationen aus dem Bereich der Politik herausgeführt; Locarno stand bevor (…). Vor Ende des Jahres 1926 regierte der Goldstandard wiederum von Moskau bis Lissabon.» (S. 322)

Doch im Jahr 1929 erfolgte der Umbruch: «Ein zusätzliches, aber keineswegs zufälliges Ereignis leitete den Zusammenbruch des internationalen Systems ein. Eine Baisse der Wallstreet erweiterte sich zu riesigen Ausmassen. Dann kam (1931) Grossbritanniens Entscheidung, den Goldstandard aufzugeben, und zwei Jahre später die ähnliche Entscheidung der USA. Gleichzeitig hörten die Sitzungen der Abrüstungskonferenz auf, und Deutschland trat 1934 aus dem Völkerbund aus. Diese symbolträchtigen Ereignisse leiteten eine Epoche aufsehenerregender Veränderung der Weltstruktur ein. Drei Mächte — Japan, Deutschland und Italien — rebellierten gegen den Status Quo und sabotierten die zerfallenden Friedensinstitutionen. Gleichzeitig wurde die reale Organisation der Weltwirtschaft funktionsunfähig. Der Goldstandard wurde zumindest zeitweilig von seinen angelsächsischen Schöpfern ausser Kraft gesetzt; unter dem Deckmantel der Zahlungsunfähigkeit wurden Auslandsschulden nicht mehr anerkannt; die Kapitalmärkte und der Welthandel schrumpften zusammen. Das politische und das wirtschaftliche System der Erde zerfielen gleichzeitig.» (S. 323)

Zusammenfassend schreibt Polanyi: «Die Zivilisation des 19. Jahrhundert wurde zerstört durch Massnahmen, die die Gesellschaft traf, um nicht ihrerseits durch die Auswirkungen des selbstregulierenden Marktes vernichtet zu werden.» (S. 329) Der »Konflikt zwischen dem Markt und den elementaren Erfordernissen eines geordneten gesellschaftlichen Lebens [verlieh] diesem Jahrhundert seine Dynamik und erzeugte die typischen Spannungen, die schliesslich zur Zerstörung dieser Gesellschaft führten. Die Kriege beschleunigten bloss diesen Prozess.» (S. 329)

Hier folgt eine der wenigen Passagen, in denen Polanyi an den Leser appellierte: «Soll der Industrialismus nicht zur Auslösung der Menschheit führen, dann muss er den Erfordernissen der menschlichen Natur untergeordnet werden. Die eigentliche Kritik der Marktgesellschaft besteht darin, (…) dass ihre Wirtschaft auf Eigeninteresse beruhte. Eine solche Organisation der Wirtschaft ist völlig unnatürlich.» (S. 329)

Kommentar von Johannes Eichenthal:

Beeindruckend sind die Kenntnisse des Autors auf vielen Wissensgebieten und die vorbildliche Nüchternheit der Untersuchung. Freilich macht er es uns nicht leicht. Man ahnt, dass er mit grosser Intensität an der Studie gearbeitet hat, um einen Beitrag zur Analyse der Weltkriegskatastrophe zu leisten. Der Text wurde mit «heisser Nadel« gestrickt. Doch mehr Zeit hatte er nicht. Seine grundlegende Erkenntnis, dass Arbeit, Boden und Geld keine Waren sein können und dass die Postulierung eines «selbstregulierenden Marktes« zur Zerstörung aller menschlichen und sozialen Verhältnisse führt, besitzt bleibende Bedeutung.

Das Schicksal wollte es, dass sich die Tragödie der 1920er Jahre in den 1970/80er Jahren als Farce wiederholte: Die neoliberal-konservative Kurzsichtigkeit stellte die Weichen noch einmal in Richtung der alten Sackgasse, in der wir inzwischen angekommen sind. Im 21. Jahrhundert ist nur noch mit grosser Anstrengung zu übersehen, dass die Idee vom «selbstregulierenden Markt» dem Anschein nach den Gipfel okzidentaler Rationalität darstellt: als die Effizienz an sich, die reine Effizienz. Vielleicht funktioniert diese Idee auf dem Mars? Nur für die menschliche Gesellschaft ist diese Art von Vernunft ungeeignet.

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Johannes Eichenthal (Jg. 1982) ist als Redaktor der Internetzeitschrift Litterata tätig. Er studierte Architektur und Jura, seine Liebe gilt jedoch der Literaturgeschichte. Im Mironde-Verlag erschien 2021 von ihm: Johannes Eichenthal: Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn 2. Von Goethe bis Rathenau. Der Text ist zuerst auf der Website www.mironde.com erschienen. Transition News durfte ihn mit freundlicher Genehmigung des Autors und von Dr. Andreas Eichler, dem Geschäftsführer des Mironde-Verlags, veröffentlichen.

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