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Die Komintern und der Nationalsozialismus

Published On: 24. Januar 2023 5:53

Die Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Zwischenkriegszeit lässt sich im Grunde als eine Geschichte von Fehleinschätzungen betrachten. Die Erfolge der NSDAP waren nicht zuletzt mit der Unfähigkeit ihrer Gegner, aber auch ihrer Verbündeten verknüpft, ihren Charakter zu begreifen.

Dieses Versagen der linken, der liberalen wie auch der konservativen Strömungen zeigt, wie wenig die europäischen Parteien insgesamt, aber auch das damalige europäische Staatensystem als solches auf neue und unvorhergesehene Herausforderungen vorbereitet waren. Als erstes möchte ich auf das Versagen der Kommunisten eingehen.

Das Versagen der KPD und der Komintern

Die Deutschlandpolitik der stalinistischen Führung Ende der 1920er-/Anfang der 1930er-Jahre, also am Vorabend der nationalsozialistische „Machtergreifung“, war derart selbstzerstörerisch, dass sie der Forschung bis heute, ungeachtet der partiellen Öffnung der Archive, Rätsel aufgibt. Besonders verhängnisvoll sollte sich in diesem Zusammenhang die Diffamierung der Sozialdemokraten auswirken, die viele stalinistische Ideologen als eine faschistische Kraft bezeichneten, die sogar gefährlicher als der Nationalsozialismus sei.

Seit 1928, als die Fraktion Stalins den Kampf um die Nachfolge Lenins zu ihren Gunsten entschieden hatte, stellte die „Sozialfaschismustheorie“ ein unerschütterliches Dogma der stalinistischen Politik dar, das bis zum Frühjahr 1934 nicht angetastet werden durfte. Dieses Dogma machte eine wirksame Auseinandersetzung der KPD mit der NSDAP praktisch unmöglich, denn durch die Diffamierung der SPD beraubten sich die Kommunisten des wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen Hitler und begaben sich in eine selbstverschuldete Isolation.

Zu den schärfsten Kritikern dieses selbstzerstörerischen Kurses Moskaus gehörten Marxisten russischer Herkunft, die sich Ende der 1920er-/Anfang der 1930er-Jahre im Exil befanden, und sich dadurch dem Zugriff der stalinistischen Sicherheitsorgane entziehen konnten. Zwei Autoren verdienen in diesem Zusammenhang eine besondere Aufmerksamkeit: Einerseits Lew Trotzki, der 1929 aus der Sowjetunion ausgewiesen wurde, andererseits der Sozialdemokrat (Menschewik) Alexander Schifrin (1901 – 1951) der sich seit den 1920er-Jahren im deutschen Exil befand (Schifrin trat der SPD bei, ohne die menschewistische Partei zu verlassen).

Trotzkis Auseinandersetzung mit der stalinistischen „Faschismustheorie“ bzw. mit dem Nationalsozialismus wurde in der bisherigen Literatur ausführlich analysiert, deshalb möchte ich mich in dieser Kolumne in erster Linie mit den Faschismusanalysen Alexander Schifrins befassen, die weitgehend in Vergessenheit geraten sind, obwohl Schifrin nach übereinstimmender Meinung vieler Zeitgenossen zu den originellsten marxistischen Autoren der damaligen Zeit zählte.

Alexander Schifrins Faschismusanalysen

Schifrin unterzog die stalinistische „Sozialfaschismustheorie“ einer äußerst scharfen Kritik. Der Begriff „Sozialfaschismus“ sei völlig absurd, schrieb Schifrin im November 1929. Hier würden zwei Phänomene miteinander verbunden, die sich in Wirklichkeit in unversöhnlicher Feindschaft gegenüberstünden. Die Komintern erkläre, man solle sich in den Kampf zwischen dem Faschismus und der Sozialdemokratie nicht einmischen, da dies ein Kampf zwischen zwei verwandten Kräften sei. Mit dieser Theorie verzichte die Komintern praktisch auf den Kampf gegen den Faschismus und veranlasse die kommunistischen Arbeiter zu Passivität.

Schifrin war sich darüber im Klaren, dass im Kampfe der beiden radikalen und antidemokratischen deutschen Parteien, die NSDAP der KPD eindeutig überlegen war. Er schrieb im Juli 1930, die Nationalsozialisten hätten viele kommunistische Kampfmethoden übernommen und verwendeten sie wesentlich effektiver als ihre kommunistischen Lehrer. In ihrer Propaganda und in ihrem Straßenkampf seien die Nationalsozialisten den Kommunisten weit überlegen.

Die Kommunisten werden von Schifrin beschuldigt, durch ihren Kampf gegen die deutsche Demokratie den Nationalsozialismus indirekt zu stärken. So schreibt er im Juni 1931: Das Gewicht des deutschen Faschismus werde dadurch ungeheuer verstärkt, dass auf der extremen Linken eine demokratiefeindliche Massenpartei wirke.

Die SPD und die Kommunisten

Aufgrund des Bekenntnisses der Sozialdemokratie zu den Prinzipien des demokratischen Sozialismus war keine Einigung mit den Kommunisten zu erzielen.  Nur eine Minderheit innerhalb der Führung der SPD war bereit, angesichts der immer größeren nationalsozialistischen Gefahr, mit den Kommunisten zusammenzuarbeiten. Zu diesen Politikern zählten der Chefredakteur des Zentralorgans der SPD „Vorwärts“, Friedrich Stampfer und Mitglied des SPD-Vorstands, Rudolf Breitscheid, die im Herbst 1931 ein Kooperationsangebot an die KPD richteten. Es wurde aber von der Komintern und von der KPD-Führung abgelehnt.

Die SPD-Führung lehnte ihrerseits den kommunistischen Vorschlag ab, den durch die Regierung Papen durchgeführten Staatsstreich in Preußen vom 20. Juli 1932 mit einem Generalstreik zu beantworten.

Der offene Verfassungsbruch der Reichsregierung vom 20. Juli 1932 verstärkte die Kräfte innerhalb der Sozialistischen Arbeiter-Internationale, die eine Lösung für die damalige deutsche Krise nur in einer proletarischen Einheitsfront sehen wollten. Der österreichische Sozialdemokrat, Otto Bauer, gehörte zu den wichtigsten Befürwortern dieser Annäherung an die Komintern. Bauers Initiative wurde indes von der Mehrheit der SPD-Führer sehr kritisch aufgenommen.

Für einen der führenden Theoretiker der SPD, Rudolf Hilferding, kam eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten nicht in Frage. Die KPD wolle die SPD zerstören und die sozialdemokratischen Massen für revolutionäre Ziele gewinnen, so Hilferding. Der Konflikt mit der KPD war für Hilferding ein Konflikt grundsätzlicher Art.

Schifrin: Spaltung der Arbeiterklasse

Ähnlich scharf wandte sich zur gleichen Zeit auch Schifrin gegen direkte Verhandlungen mit der kommunistischen Führung. Er hielt sie für zwecklos. Die Komintern sei nichts anderes als die organisierte Spaltung der Arbeiterklasse im internationalen Maßstab. Die Führung der Komintern sei wirklichkeitsfremd, sie lasse sich durch den Druck der kommunistischen Massen in Europa in keiner Weise beeinflussen und übe den verderblichsten Einfluss auf die kommunistischen Parteien der ganzen Welt aus. Obwohl die Spaltung der europäischen Arbeiterklasse nach 1918 auch objektive Ursachen gehabt hätte, sei es eine besondere „Leistung“ der Kominternführung, diese Spaltung zum Glaubensbekenntnis zu erheben.

Die Schwächen der SPD, die in der erhitzten politischen Atmosphäre der Jahre 1930 – 33 sich immer stärker offenbarten, werden von Schifrin auch deutlich gesehen. Die SPD habe sich stark entpolitisiert, so Schifrin. Organisatorische Probleme und Verwaltungsaufgaben hätten die Partei derart stark in Anspruch genommen, dass sie es verlernt habe, um die menschlichen Seelen zu kämpfen. Die großen politischen Aufgaben seien in den Hintergrund geraten. „Was uns jetzt droht, ist nicht die unsachliche Politik, sondern die unpolitische Sachlichkeit“, schrieb Schifrin im Juni 1931.

Einige Monate später fügte Schifrin hinzu, früher sei die SPD mit ihrer effizienten politischen Technik konkurrenzlos gewesen, auch politische Gegner hätten dies anerkannt. Diese Vormachtstellung der SPD hätte allerdings zunächst die KPD durchlöchert und dann die NSDAP durchbrochen.

Auch gegenwärtig besitze die SPD die stärkste, solideste und widerstandsfähigste Organisation, die mit allen Lebensbereichen des Proletariats verbunden sei. Jedoch habe die SPD den kritischen Charakter der Zeit, die Gärung im Proletariat und die Krise des Mittelstands zu spät bemerkt. Ihre eigene Organisation habe auf die SPD konservativen und defensiven Einfluss.

Die SPD müsse ihre Wirkung auf die öffentliche Meinung in Deutschland verstärken. Sie habe den größten Pressekonzern in Europa und nichtsdestoweniger sei sie nicht in der Lage, die deutsche Öffentlichkeit in einem nennenswerten Ausmaß zu erreichen, schreibt Schifrin.

Die SPD: Zerdrückt zwischen NSDAP und KPD

Die Lage der SPD war zu Beginn der dreißiger Jahre in der Tat äußerst kompliziert. Im Kampf um die immer radikaler werdenden deutschen Wähler konnte sie weder mit der NSDAP noch mit der KPD konkurrieren. Deshalb stagnierte sie auch, obwohl sie bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung die zweitstärkste Massenpartei in Deutschland blieb. Ihre Tolerierungspolitik gegenüber den konservativen Präsidialregierungen verlor bei den deutschen Wählern immer mehr an Popularität. Sie entschloss sich jedoch zu dieser unpopulären Politik des „kleineren Übels“, weil sie glaubte, die Staatsräson verlange dies von ihr. Auch Schifrin hat sich wiederholt für die Politik des „kleineren Übels“ ausgesprochen und bezeichnete das im März 1930 gebildete Kabinett Brüning als die „einzige dünne Wand“, die den Faschismus von der Beteiligung an der Macht trenne.

Die Fehleinschätzung Schifrins wie auch anderer deutscher Sozialdemokraten bestand allerdings darin, dass sie bei den deutschen Konservativen die gleiche Auffassung der Staatsräson voraussetzte, die sie selbst vertraten.

Die SPD versuchte nicht nur ihre eigenen Reserven, sondern auch die der gesamten Sozialistischen Arbeiter-Internationale zu mobilisieren, um die bestehende deutsche Regierung zu unterstützen. Dies war nach Ansicht der SPD im Interesse aller Demokraten, da der Sieg der NSDAP in einem so hochentwickelten Industrieland wie Deutschland dem demokratischen Prinzip als solchem einen ungeheuren Schlag versetzen würde.

Die Sprengung der Demokratie in Deutschland würde die Demokratie in allen Ländern östlich des Rheins erschüttern, sagt im September 1931 Schifrin.

Ohne den Sieg der Gegenrevolution in Deutschland seien die Diktaturen in Osteuropa nur periphere politische Erscheinungen. Mit dem Sieg des deutschen Faschismus würde der Kern Europas vom Faschismus erobert werden, fügt Schifrin hinzu.

Rechtsschwenk der deutschen Konservativen

Der Rechtsschwenk der deutschen Konservativen nach der Entlassung der Regierung Brüning im Mai 1932 veranlasste Schifrin keineswegs zur Befürchtung, dass die Tendenz, mit den Nationalsozialisten zu koalieren, im konservativen Lager angewachsen sei. Er interpretierte diese Rechtsschwenkung als einen Versuch der deutschen Konservativen, ganz ohne Massenparteien zu regieren, also auch ohne die NSDAP. Für die regierenden deutschen Konservativen sei der Nationalsozialismus zu plebejisch, zu unstabil und zu revolutionär, schrieb er im Juli 1932.

Der Obrigkeitsstaat, dem die deutsche Regierung nach dem Staatsstreich in Preußen am 20. Juli 1932 (Absetzung der sozialdemokratischen Regierung Braun-Severing) eine zusätzliche Facette hinzufügte, wurde von Schifrin scharf kritisiert. Er wies im Dezember 1932 die Bezeichnung „bonapartistisch“ zurück, die Trotzki diesem Staat gegeben hatte. Mit dieser Benennung habe Trotzki diesem System zu viel Ehre erwiesen. Eine Militärdiktatur sei noch kein Bonapartismus, so Schifrin.

Der Bonapartismus trete die Erbschaft der Revolution an, er vertrete neue Klassen, er sei nicht bloß Restauration. Der deutsche Obrigkeitsstaat sei dagegen eine Kombination von bürokratisch-militärischer Diktatur mit feudaler Reaktion.

Trotz dieser vernichtenden Kritik glaubte Schifrin nicht an den Zusammenbruch dieses Staats. Zwar habe er wirtschaftlich und politisch Bankrott erlitten, sein machtpolitischer Untergang sei jedoch wenig wahrscheinlich.

Schifrin wies auf den Konflikt zwischen der deutschen konservativen Regierung und den Nationalsozialisten hin und war davon überzeugt, dass die deutschen Konservativen dabei den Sieg davontragen würden. Zwar stünden dem deutschen Staatsapparat keine Massen zur Verfügung, ebenso verfüge aber der deutsche Faschismus nicht über Machtmittel.

Schifrin glaubte nicht, dass dieser Zustand sich in absehbarer Zeit ändern werde. Er hob bereits im Mai 1931 mit Recht hervor, dass der Faschismus nicht imstande sei, aus eigener Kraft an die Macht zu kommen.

Zu den wichtigsten Voraussetzungen seiner Machtübernahme gehöre die völlige Zerrüttung des bestehenden Staatsapparats. Diese sei aber in Deutschland nicht gegeben. Deshalb könne der deutsche Faschismus nicht, im Gegensatz zum italienischen, mit einem gewaltsamen Vorstoß die Exekutivmacht an sich reißen. Er könne nur so viel Macht erhalten, wie ihm der Obrigkeitsstaat freiwillig einräumen werde, bilanzierte Schifrin seine Ausführungen.

So hielt Schifrin auch am Vorabend der nationalsozialistischen Machtübernahme ein Bündnis der konservativen Eliten, die die Schlüsselpositionen im deutschen Obrigkeitsstaat kontrollierten, mit der NSDAP für wenig wahrscheinlich.

Trotzki war in dieser Hinsicht weitblickender. Bereits im Jahre 1931 hielt er es für wahrscheinlich, dass die herrschenden Gruppierungen in der Weimarer Republik der NSDAP die Regierungsverantwortung freiwillig überlassen würden.

Hilferdings Fehleinschätzung

Noch fester als bei Schifrin war bei Rudolf Hilferding der Glaube an den Widerstandswillen der deutschen Konservativen. Die herrschgewohnte konservative Schicht Deutschlands habe nicht die Absicht, vor einer plebejischen Massenbewegung zu kapitulieren, schrieb er am 10. Januar 1933. In Italien sei die Staatsmacht vor dem Oktober 1922 bereits zerbrochen gewesen, in Deutschland hingegen sei sie unerschüttert geblieben, hob Hilferding hervor und fügte hinzu:

„Die Stärke der Staatsmacht auch gegenüber der Partei mit den stärksten und ausgebildetsten Kampfformationen (gegenüber der NSDAP, L.L.) war offenbar geworden… Am 13. August steht Hitler vor Hindenburg, wie zehn Jahre früher Mussolini vor dem König. Der Deutsche spielt dasselbe Stück wie der Italiener: Abdankung der Staatsmacht in die Hände des Faschismus. Aus der italienischen Tragödie wird das deutsche Satyrspiel. Herr Hitler geht die Treppe des Palais hinunter – es ist der Absturz des Faschismus… Hitler wollte ohne Revolution die Resultate der Revolution fordern – deutsches Hirngespinst.“

Da dem Nationalsozialismus dieser Griff zur unumschränkten Macht vorerst misslungen sei, meinte Hilferding, dass nun der gefährlichste Angriff des deutschen Faschismus abgewehrt worden sei.

Komintern: Hitler kommt nicht an die Macht

Auch in Moskau glaubte man damals nicht an eine baldige nationalsozialistische Machtübernahme. Dmitri Manuilski, der zur Führungsriege der Komintern gehörte, meinte auf dem 12. Plenum des Exekutivkomitees der Komintern im September 1932, dass eine Regierung Hitler den deutschen Kapitalismus nicht aus der Sackgasse führen könne. Die kluge deutsche Bourgeoisie lasse Hitler nicht an die Macht kommen, um ihre letzte Reserve nicht zu kompromittieren. Sie fürchte, Hitler werde die innen- und außenpolitische Lage Deutschlands komplizieren und die revolutionäre Krise beschleunigen.

Um zu begründen, warum in Deutschland eine „offene faschistische Diktatur“ der NSDAP kaum wahrscheinlich sei, wiesen einige Kominterntheoretiker auf grundlegende Unterschiede zwischen Italien und Deutschland hin. Deutschland sei ein hochentwickeltes Industrieland mit einem starken Proletariat und einer starken kommunistischen Partei. Die Kräfte, die einer nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland Widerstand entgegensetzen würden, seien viel stärker als die antifaschistischen Kräfte im unterentwickelten Italien der Jahre 1920 bis 1922.

Im Juni 1932 schrieb der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann: „In Deutschland mit seinem riesigen Industrieproletariat und seiner starken kommunistischen Partei ist eine solche Perspektive (wie in Italien) schon auf Grund der ganzen objektiven Vorbedingungen selbst theoretisch unwahrscheinlich.“

Es ist erstaunlich, wie marxistische Theoretiker verschiedener Schattierungen, sowohl Kommunisten wie auch Sozialdemokraten, der Illusion erliegen konnten, der deutsche Obrigkeitsstaat sei imstande, allein, ohne die Hilfe der politischen Parteien, Deutschland zu regieren. Und dies im revolutionären Zeitalter, zur Zeit einer der tiefsten Krisen der deutschen Geschichte! Es gab nur wenige Marxisten, die, so wie der kommunistische Dissident August Thalheimer, nicht auf die Allmacht des deutschen Obrigkeitsstaates vertrauten.

Das Versagen der deutschen Konservativen

Wenn Schifrin bei seiner Analyse des Verhältnisses der alten konservativen Schicht zum Nationalsozialismus ähnliche Fehler wie andere Marxisten beging, zeichneten seine Analyse der Beziehung der „konservativen Revolution“ zum Nationalsozialismus Originalität und Weitblick aus. In seinem Artikel „Adelfaschismus und Edelfaschismus“ vom Juli 1932 nahm er viele Thesen der heutigen historischen Forschung zur „konservativen Revolution“ vorweg.

In seinem Artikel analysiert er die Ideen der zum damaligen Zeitpunkt wohl einflussreichsten „neukonservativen“ Gruppierung – des Tat-Kreises. Der Tat-Kreis wolle sich der nationalsozialistischen Bewegung bedienen, um einen „deutschen Sozialismus“ zu verwirklichen. Aber auch der Nationalsozialismus profitiere von dieser Komplizenschaft und erhalte von ihr einen zusätzlichen geistigen Beistand und Möglichkeiten, die öffentliche Meinung mit seiner Ideologie zu vergiften, hebt Schifrin hervor.

Die vom Tat-Kreis propagierte Idee eines konservativen Sozialismus sei ein Widerspruch in sich und eine Utopie. Naivität könne bei Leuten wie Zehrer nicht als mildernder Umstand gelten, „denn diese Leute wollen betrogen werden, sie wollen in der Reaktion Sozialismus entdecken“. Schifrin war sich darüber durchaus im Klaren, dass der Tat-Kreis den Nationalsozialismus keineswegs ohne Vorbehalte akzeptiert.

Aus intellektuellen und ästhetischen Gründen sei der italienische Faschismus der „Tat“ sympathischer als der plumpe Nationalsozialismus. Und dennoch betrachte die „Tat“ den Nationalsozialismus als große Chance für einen Durchbruch der wirtschaftlich-revolutionären Kräfte und für eine Entfaltung der nationalen Energien.

Die „Tat“ glaube nicht an eine bleibende historische Sendung des Nationalsozialismus. Dieser sei für sie nur ein Bahnbrecher für den nach ihm kommenden und ihn ablösenden echten, revolutionären, nationalen Sozialismus. Deshalb idealisiere die “Tat“ den Nationalsozialismus, eine selbstlose Stilisierung der NSDAP sei jedoch noch gefährlicher als seine kaltblütige Ausnutzung im klassenpolitischen Interesse, bilanziert Schifrin seine Ausführungen.

Nachträglich wiesen einige Erforscher der „konservativen Revolution“ darauf hin, auf welch tragischem Missverständnis die Idealisierung des Nationalsozialismus durch die konservativen Revolutionäre beruhte. Der Philosoph Helmut Kuhn schrieb 1961 in diesem Zusammenhang: „Während der Geist an der Wirklichkeit vorbeidachte, fiel die Wirklichkeit dem Ungeist anheim.“

Eine ungewöhnliche politische Naivität, wie sie Schifrin dem Tat-Kreis nicht zubilligen wollte, lag dem Verhalten der konservativen Revolutionäre sicher zugrunde. Sie verstanden sich als kaltblütige Realpolitiker, die dem Nationalsozialismus nur gestatteten, die Vorarbeit für eine wirklich nationale Revolution zu leisten.

Die Gründung einer gewaltigen Massenbewegung und der Sturz der Weimarer Republik waren nach ihrem Plan die wichtigsten Teile dieser Vorarbeit. Danach wollten die konservativen Revolutionäre selbst die Führung der nationalen Revolution übernehmen. Nach dem 30. Januar 1933 hat sie aber niemand mehr gebraucht. Statt die Früchte der Arbeit der anderen zu ernten, leisteten sie in Wirklichkeit selbst nur die Vorarbeit zum totalen Sieg der NSDAP.

Dieser Beitrag ist ursprünglich im Debattenmagazin Die Kolumnisten erschienen. Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, den Text auch auf KARENINA zu veröffentlichen.

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