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Putin auf Breschnews Spuren

Published On: 13. Februar 2023 16:36

Im Kampf gegen Menschenrechtsgruppen wiederholt Putin die despotischen Praktiken des sowjetischen Totalitarismus

von Aryeh Neier

©Ed Kashi/Open Society Foundations

Aryeh Neier: Putin folgt Breschnew

Ende des vergangenen Monats ordnete ein russisches Gericht die Schließung der ältesten Menschenrechtsorganisation des Landes an. Die 1976 gegründete Moskauer Helsinki-Gruppe ist dabei nur das jüngste Opfer zunehmender staatlicher Repressionen gegen die Zivilgesellschaft, die fatal an ähnliche Bemühungen des früheren sowjetischen Staats- und Parteichefs Leonid Breschnew erinnern.

Breschnew, der von 1964 bis 1982 an der Macht war, unterzeichnete 1975 gemeinsam mit den USA, Kanada und den meisten europäischen Ländern die Schlussakte von Helsinki. Die damals an einer formellen Anerkennung ihrer Grenzen interessierte UdSSR unter Führung Breschnews unterschätzte, wie ihre Satellitenstaaten in Mittel- und Osteuropa auch, die potenziellen Auswirkungen der Vereinbarung. Vermutlich deshalb stimmte sie zu, Verpflichtungen in Bezug auf die Menschenrechte, darunter die Informationsfreiheit und die Freizügigkeit, in die Schlussakte aufzunehmen.

Die Sowjetunion hatte sich bei der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen 1948 der Stimme enthalten; daher war ihr Beitritt zur Vereinbarung von Helsinki das erste Mal, dass sie eine derartige Zusage abgab.

Die Moskauer Helsinki-Gruppe

Einige Menschenrechtsaktivisten in Moskau, die die Nachricht vernahmen, gründeten daraufhin die Moskauer Helsinki-Gruppe, um zu überwachen, dass die UdSSR die von ihr unterzeichnete Vereinbarung auch einhielt. Obwohl die Organisation damals nur elf Mitglieder hatte, erkannte Breschnews Regierung in ihr eine Bedrohung und bemühte sich, sie aufzulösen.

In den Folgejahren wurden die Leiter der Gruppe von der Sowjetunion strafrechtlich verfolgt: Der Vorsitzende der Organisation, der theoretische Physiker Juri Orlow, wurde zu sieben Jahren Gefängnis (die er in voller Länge absaß) und fünf Jahren internem Exil in Sibirien verurteilt. Auch der Journalist Alexander Ginzburg und Natan Scharanski, ein jüdischer „Refusenik“ (so wurden Juden bezeichnet, denen die Auswanderung nach Israel verweigert wurde), wurden zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Die Historikerin Ljudmila Alexejewa floh aus dem Land und ließ sich in den USA nieder, während die Kinderärztin Jelena Bonner ihren Gatten, den Physiker und Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow, ins interne Exil begleitete.

Die Helsinki-Gruppe lebt weiter

Da fast niemand mehr da war, um die Arbeit fortzusetzen, stellte die Helsinki-Gruppe 1981 ihre Tätigkeit ein und löste sich 1982 auf. Zu diesem Zeitpunkt jedoch hatte sie bereits geholfen, eine internationale Bewegung hervorzubringen, die allmählich zur Auflösung der Sowjetunion beitragen sollte. In der Ukraine und anderen Teilen des Ostblocks bildeten sich von Helsinki inspirierte Gruppen, u. a. in der Tschechoslowakei die Charta 77.

Anschließend breitete sich die Bewegung auch im Westen aus. Ich selbst gründete 1978 gemeinsam mit anderen die Helsinki Watch mit Sitz in den USA, die zunächst die Einhaltung der Verträge von 1975 durch die Sowjetunion überwachte und aus der später Human Rights Watch hervorging.

Die Helsinki-Gruppe selbst wurde wiederbelebt, nachdem 1985 in der Sowjetunion Michail Gorbatschow an die Macht kam. Wenig später entließ Gorbatschow Sacharow und Bonner aus dem internen Exil und erlaubte ihnen die Rückkehr nach Moskau. Dies signalisierte den Beginn von Glasnost. Nachdem sie geholfen hatte, die Gruppe wiederzubeleben, kehrte auch Alexejewa in die russische Hauptstadt zurück.

Wir waren während ihrer Zeit im Exil in den USA Freunde geworden, und ich hatte ihr geholfen, ihr Buch zur Geschichte des sowjetischen Dissidententums zu veröffentlichen. Als ich sie in ihrer Moskauer Wohnung mit Blick auf einige der goldenen Kuppeln des Kreml besuchte, schien sie glücklicher, als ich sie je gesehen hatte.

Putin brachte Blumen

Obwohl die Helsinki-Gruppe an der Politik des russischen Präsidenten Wladimir Putin nach dessen Aufstieg an die Macht im Jahr 2000 häufig Kritik übte, traf er Alexejewa gelegentlich und behandelte sie anscheinend respektvoll. Als Alexejewa 2017, ein Jahr vor ihrem Tod, ihren 90. Geburtstag feierte, besuchte Putin sie in ihrer Wohnung, um ihr seinen Respekt zu bekunden, und brachte ihr sogar einen Blumenstraß. Doch hinderte diese persönliche Bekanntschaft Putins Justizministerium nicht, Klage einzureichen, um die von Alexejewa mitgegründete Organisation aufzulösen.

Die gerichtlich angeordnete Schließung der Helsinki-Gruppe folgte auf ähnliche Gerichtsbeschlüsse, die die Schließung anderer zivilgesellschaftlicher Gruppen in Russland befahlen, darunter von Memorial (der 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten größten Menschenrechtsorganisation des Landes). Nachdem es in seinem Angriffskrieg in der Ukraine keinen schnellen Sieg erzielen konnte, geht das Putin-Regime immer aggressiver gegen kritische Stimmen vor, die der Öffentlichkeit seine systematischen Angriffe auf die ukrainische Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur zu Bewusstsein bringen.

Mit seinen Verfügungen zur Auflösung dieser Menschenrechtsgruppen wendet sich das Putin-Regime vom Erbe des sowjetischen Dissidententums ab. Schlimmer noch: Es wiederholt die despotischen Praktiken Breschnews und des sowjetischen Totalitarismus. Wenn das Regime auf diesem Weg fortschreitet, läuft es Gefahr, genauso zu enden wie jene.

Aryeh Neier ist Präsident emeritus der Open Society Foundations und Mitbegründer von Human Rights Watch. Er ist der Verfasser von The International Human Rights Movement: A History (Princeton University Press, 2012).

Aus dem Englischen von Jan Doolan Copyright: Project Syndicate 2022.

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