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Die Atomwaffen im Auge behalten

Published On: 14. Februar 2023 6:12

Über Zweck und Ziel der Waffenlieferungen an die Ukraine wird vor allem in Deutschland kontrovers diskutiert. Angesichts des grausamen Kriegsgeschehens in der Ukraine, des Blutbads an den Fronten und des Leidens der ukrainischen Bevölkerung fällt es nicht leicht, nüchterne Bewertungen über strategische Kriegsziele und den weiteren Verlauf des Krieges zu formulieren.

Bei allen sachlichen Analysen der militärischen Operationen beider Seiten darf zudem nicht vergessen werden, dass Russland in diesem Krieg klar der Aggressor ist und die Ukraine ihr nationales Territorium verteidigt. In allen Kriegen sind die strategischen Zielsetzungen keineswegs statisch. Im Verlauf der militärischen Operationen verändern sie sich, werden ausgeweitet oder vermindert. Schon der preußische General und Militärwissenschaftler Carl von Clausewitz stellte fest, dass der Krieg in seinen Gesamterscheinungen „ein wahres Chamäleon“ ist, weil in ihm das „Spiel der Wahrscheinlichkeiten und des Zufalls“ wirksam ist.

So haben sich die Kriegsziele Moskaus und Kiews im Verlauf der Kämpfe geändert. Am klarsten hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky seine derzeitigen Kriegsziele formuliert. Er will die vollständige militärische Rückeroberung der besetzten Gebiete und die Bestrafung der Verantwortlichen in Moskau durch ein internationales Gericht. Um dies erreichen zu können, fordert er weitere Waffenlieferungen der westlichen Staaten in erheblichem Umfang und gesteigerter Qualität.

Moskaus aktuelle Kriegsziele scheinen dagegen weniger klar zu sein. Nach dem Scheitern der Unterwerfung Kiews im Frühjahr 2022 will der Kremlchef Wladimir Putin offenbar die vollständige Besetzung der von ihm als annektiert erklärten vier Oblasten im Südosten der Ukraine erreichen.

Kriegsziele der westlichen Staaten

Komplizierter wird es, wenn es um die Ziele geht, die die westlichen Staaten mit ihren Waffensystemlieferungen verbinden. So verfolgen etwa die Regierungen in Washington, Berlin und Paris eine eher vorsichtige Linie. Der amerikanische Außenminister Antony J. Blinken hat zum Beispiel am 3. Februar 2023 im Zusammenhang mit der Ankündigung eines neuen militärischen Unterstützungspakets dessen Zweck mit dem interpretierbaren Satz beschrieben, man wolle der Ukraine dabei helfen, sich gegen den brutalen Krieg Russlands zu verteidigen.

In der innenpolitischen Debatte der westlichen Staaten gibt es gravierende Meinungsunterschiede über Zweck und Ziel verstärkter Waffenlieferungen. Die deutsche Diskussion hierzu ist polarisiert. Der realpolitischen Linie des Bundeskanzlers Olaf Scholz stehen Forderungen gegenüber, die Ukraine mit schweren Waffensystemen in einer Größenordnung zu unterstützen, die sie in die Lage versetzt, alle besetzten Gebiete zurückzuerobern. Solche Forderungen sind mitunter durch einen politisch-moralischen Rigorismus getrieben, der seriöse und rationale Folgenabschätzungen und Risikoanalysen ausblendet.

USA denkt geostrategisch

In den Vereinigten Staaten wird eher geostrategisch und auf nationale Interessen bezogen diskutiert. Die renommierte, überwiegend vom Pentagon finanzierte Rand Corporation kommt etwa in einer kürzlich erschienenen Studie zu der Erkenntnis, dass die weitere Entwicklung des Kriegs mit Konsequenzen für die Sicherheit der USA verbunden sei und dass ein zeitlich ausgedehntes Kriegsszenario nicht im amerikanischen Interesse liege. In der Studie werden Verhandlungsperspektiven im Zusammenhang mit Sanktionserleichterungen diskutiert.

Solche Wertungen korrespondieren mit den wiederholten Aussagen des höchsten amerikanischen Generals Mark Milley im Pentagon, der auf die extrem hohen Verluste auf beiden Seiten hingewiesen hat und zu Verhandlungen riet, weil beide Seiten ihre maximalen Kriegsziele nicht erreichen könnten. Andere amerikanische Stimmen, wie z. B. einige pensionierte amerikanische Generale, fordern im Gegensatz dazu, dass die Ukraine mit leistungsfähigeren Waffensystemen befähigt werden soll, die Krim zurückzuerobern. Das Ziel, die russischen konventionellen Streitkräfte in diesem Krieg auf viele Jahre hinaus zu schwächen, ist in der amerikanischen Debatte ebenfalls genannt worden.

Ziele der Bundesregierung

In dieser nationalen und internationalen Gemengelage ist die Präzisierung von Kriegszielen für die Bundesregierung schwierig. Politischer Streit bis in die Regierungskoalition hinein wäre bei einem Klärungsprozess programmiert. Im Politikgeschäft wird daher versucht, die unterschiedlichen Positionen durch abstraktere Formulierungen zu überbrücken. „Die Ukraine darf diesen Krieg nicht verlieren“ oder „Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen“ sind Formeln, hinter denen sich möglichst viele Akteure versammeln können.

Aller Voraussicht nach werden nicht die Europäer, sondern wird Washington der Taktgeber für das weitere westliche Vorgehen bleiben. Kein guter Befund für die seit Jahren angestrebte strategische Autonomie oder Souveränität der Europäischen Union. Die USA und andere Nato-Staaten haben ihre Unterstützungsleistungen für die ukrainische Armee im Laufe des Kriegs graduell, quasi in Schüben, erhöht und damit entscheidend dazu beigetragen, dass die Ukraine etwa die Hälfte des von Russland okkupierten Territoriums zurückerobern konnte.

Die jüngsten Entscheidungen für die Lieferung von Kampf- und Schützenpanzern vom Typ Leopard 2 und Marder haben das Engagement Deutschlands auf eine neue qualitative Stufe gehoben. Forderungen, Kampfflugzeuge an die Ukraine zu liefern, folgten auf dem Fuß, vor allem befeuert von Regierungsmitgliedern osteuropäischer Nato-Staaten.

Im Nato-Bündnis besteht eine Beschlusslage, der zufolge die Allianz nicht Kriegspartei werden darf. Dies wäre eindeutig der Fall, wenn eine Truppe aus Nato-Staaten in der Ukraine eingesetzt würde. Die Frage, wann Waffen liefernde Staaten zur Kriegspartei werden, ist auch völkerrechtlich relevant und diskussionsbedürftig. Der Völkerrechtler Christian Schaller erläutert in einer aktuellen Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), dass das humanitäre Völkerrecht keine eindeutigen Antworten darauf gibt, wann die Schwelle zur Kriegsbeteiligung überschritten wird.

Auf dem Weg in die Grauzone

Unabhängig von der völkerrechtlichen Dimension bewegen sich die Nato-Staaten mit der fortgesetzten Steigerung ihrer Waffensystemtransfers auf eine Grauzone zu, in der die Grenzen, jenseits derer letztlich die Nato Kriegspartei wird, verschwimmen. Umso mehr wächst mit den jetzt aufwachsenden deutschen Panzerlieferungen die Mitverantwortung Deutschlands für den weiteren Kriegsverlauf und dessen Folgen für die europäische Sicherheit. Damit einher gehen das Recht und die Notwendigkeit, auf die Führung in Kiew Einfluss zu nehmen.

Mit Blick auf die Perspektive der Beendigung dieses verlustreichen Krieges noch einmal zurück zu Clausewitz: „Sobald also der Kraftaufwand so groß wird, dass der Wert des politischen Zwecks ihm nicht mehr das Gleichgewicht halten kann, so muß dieser aufgegeben werden und der Friede die Folge sein.“ Dieser Punkt scheint mit Blick auf die kommenden Monate weder in Moskau noch in Kiew erreicht zu sein. Russland wird in nächster Zeit eine größere Offensive starten, bevor die westlichen Panzer in die ukrainischen Landstreitkräfte eingegliedert sind.

Es werden vermutlich noch Zehntausende Soldaten und Zivilpersonen umkommen, bis ein Ende des Blutvergießens in Sicht ist. Ob sich im Zuge der Kämpfe der Frontverlauf überhaupt wesentlich ändern wird, ist alles andere als sicher. Zudem konnte Clausewitz im 19. Jahrhundert nicht ahnen, dass seine Gleichung mehr als hundert Jahre später durch die Existenz von Massenvernichtungswaffen infrage gestellt werden könnte. Es sind Atomwaffen in einer Zahl und einem Gesamtzerstörungspotenzial der beiden atomaren Supermächte, mit dem die Erde in einem dystopischen Eskalationsszenario unbewohnbar gemacht werden könnte.

Die militärpolitische Konfrontation des Westens mit Russland ist heute gefährlicher als während der Höhepunkte des Kalten Kriegs. Das Eskalationsrisiko mit dem Hinweis auf irrationale Ängste abzutun, ist grob fahrlässig, ja verantwortungslos. Es geht hier um eine nüchterne und rationale Analyse. Die Regierungschefs der Nato-Staaten stehen in der Verantwortung, Schaden von ihren Ländern und Bevölkerungen abzuwenden. Es bleibt Staatsraison, eine nukleare Eskalation unbedingt zu vermeiden.

Dieser Beitrag ist am 7.2.2023 in der Berliner Zeitung erschienen. Wir danken dem Autor und der BZ-Chefredaktion für die Erlaubnis, den Text auch auf KARENINA anzubieten.

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