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Teil 10: Das Referendum auf der Krim

Published On: 17. Februar 2023 15:00

Ich werde drei Wochen lang an jedem Wochentag einen Teil der Chronologie der Ereignisse des Jahres 2014 veröffentlichen, die den Grundstein für den Krieg in der Ukraine gelegt haben.

Die Ereignisse des Jahres 2014 haben den Grundstein für die Eskalation in der Ukraine gelegt, zu der es vor fast einem Jahr gekommen ist. In meinem Buch über die Ukraine-Krise habe ich die Ereignisse des Jahres 2014 auf über 700 Seiten chronologisch dokumentiert. Da sich diese Ereignisse nun zum neunten Mal jähren, werde ich in den nächsten drei Wochen täglich ein Kapitel aus dem Buch als Leseprobe veröffentlichen.

In dieser 15-teiligen Serie werde ich die Chronologie der Ereignisse vom Beginn des Maidan Ende 2013 bis zum Beginn des Krieges im Donbass im April 2014 behandeln. Diese – heute fast vergessenen – Ereignisse haben den Grundstein für den Krieg in der Ukraine gelegt und sind zum Verständnis dessen, was sich heute ereignet, unverzichtbar.

In diesem zehnten Teil der 15-teiligen Serie geht es um das Referendum auf der Krim. Ich verzichte hier auf Quellen, in dem Buch sind alle Quellen angegeben.

Das Referendum auf der Krim

In dem folgenden Tagen bis zum Referendum am 16. März übernahmen die gut organisierten, russischen Soldaten und ihre Unterstützer die Kontrolle über Schlüsselpositionen der Krim und belagerten ukrainische Kasernen und Militärstützpunkte. Zwar kam es vereinzelt zu kritischen Situationen, aber es fanden keine Kämpfe statt. Der schlimmste Vorfall betraf Warnschüsse in die Luft. Russland begründete diese Aktionen später mit der Notwendigkeit, die ukrainische Armee daran zu hindern, einen geordneten Ablauf des Referendums zu stören. Diese Version wurde von mehreren Kommentatoren (wie z.B. Frau Krone-Schmalz) bestätigt. Den Angehörigen der ukrainischen Armee wurde freigestellt, ob sie die Seiten wechseln (was viele auch taten) oder ob sie ohne Waffen die Kasernen verlassen und unbewaffnet in die Ukraine abrücken wollten.

Zur gleichen Zeit drohte der Westen Russland mit Sanktionen, die USA führten als erste Sanktionen Einreisebeschränkungen für einige Russen ein und der Ton zwischen Kiew und der Krim wurde rauer. Nachdem der Westen inklusive der westlichen Berichterstattung die Ereignisse in Kiew als „demokratische Revolution“ gefeiert hatte, war nun die Ratlosigkeit auf die Ereignisse auf der Krim spürbar. Dass Russland Soldaten auf der Krim eingesetzt hat, ist heute unbestritten. Inwieweit Russland die Ereignisse auf der Krim geplant hatte oder selbst von der Dynamik überrascht wurde, ist spekulativ. Russland verfügt nicht über ein so ausgeprägtes Netz an Stiftungen, wie die USA und die Nato, die jahrzehntelange Erfahrung haben, wenn es um die Beeinflussung von Staaten bis hin zu Regime-Changes geht. Daher ist es auch wesentlich schwieriger, die russische Einflussnahme auf die Ereignisse bzw. deren Umfang so genau festzustellen, wie im Falle der westlichen Stiftungen und Think-Tanks. Man darf aber wohl davon ausgehen, dass Russland enge Kontakte zu Aksjonow und seiner Partei hatte und diese im Verlauf der Krise auch genutzt wurden, denn es sind Reisen von Aksjonow nach Moskau dokumentiert und auch Besuche von russischen Duma-Abgeordneten auf der Krim. Ohne dies im Einzelfall genau belegen zu können, kann man eine Koordinierung der Aktionen zwischen Aksjonow und Moskau insgesamt wohl voraussetzen. Dies bestätigte indirekt auch Girkin, den wir später noch kennenlernen werden.

Am 6. März beschloss das Krim-Parlament das Referendum endgültig, setzte es für den 16. März an und veröffentlichte die zur Abstimmung stehenden Fragen und das Reglement. Außerdem legte das Parlament fest, dass es der Wunsch des Parlaments war, der Russischen Föderation beizutreten und daher das Volk darüber abstimmen zu lassen. Zur Abstimmung stand die Entscheidung zwischen zwei Alternativen: „1. Sind Sie für eine Vereinigung der Krim mit Russland als Subjekt der Russischen Föderation? 2. Sind Sie für die Wiedereinführung der Verfassung der Republik Krim von 1992 und für den Status der Krim als Teil der Ukraine?“

In der Verfassung von 1992 war vorgesehen, dass die Krim alle Rechte einer unabhängigen Verwaltungseinheit im ukrainischen Staat hatte, mit vielen Vollmachten, ihr Schicksal selbst zu bestimmen und Beziehungen mit jedem anderen Land, einschließlich Russland, aufzunehmen.

Daher wollen wir uns den Text der Verfassung von 1992 anschauen, damit der Leser sich ein eigenes Bild machen kann. Dort regelte Artikel 9: „Die Republik Krim gehört zum Staat Ukraine und regelt ihre Verhältnisse mit ihm auf Basis von Verträgen und Vereinbarungen.“ Und Artikel 10: „Die Republik Krim tritt eigenständig in Verhältnisse mit anderen Staaten und Organisationen ein und regelt die Beziehungen zu ihnen auf Basis von Verträgen und Vereinbarungen, die die Zusammenarbeit in Wirtschaft, Kultur, Gesundheitswesen, Bildung, Forschung und anderen Bereichen betreffen; sie gründet ihre Beziehungen zu ihnen auf Basis von Gleichberechtigung, Respektierung der Souveränität, der territorialen Unversehrtheit, Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten, Lösung von Streitfragen auf ausschließlich friedlichem Wege und gutwilliger Erfüllung gegenseitiger Verpflichtungen.“

Man kann damit festhalten, dass die Einwohner der Krim die Wahl hatten, sich entweder Russland anzuschließen oder eine erheblich ausgeweitete Autonomie anzunehmen. Die Beibehaltung des Status Quo – das kann man unbestritten festhalten – fand sich jedenfalls nicht als Antwortmöglichkeit.

Nachdem am 7. März ein Team aus OSZE Beobachtern an einem Kontrollpunkt die Weiterfahrt auf die Krim verweigert wurde, berichtete Radio Liberty am 10. März, dass das Krim-Parlament die OSZE eingeladen hatte, das Referendum zu beobachten. Die OSZE lehnte diese Einladung am 11. März ab, da das Referendum der ukrainischen Verfassung widersprach und daher aus diesem Grund illegal sei. Am 14. März meldete der Newsticker des „Focus“ hierzu: „11.40 Uhr: Russland hat die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) aufgefordert, Beobachter zu dem umstrittenen Referendum auf der ukrainischen Halbinsel Krim zu schicken. Die OSZE solle „positiv auf die Einladung der Behörden der Krim zur Beobachtung des anstehenden Referendums reagieren“ erklärt das russische Außenministerium in Moskau. Die OSZE dürfe nicht „mit zwei Maßen messen“ OSZE-Präsident Didier Burkhalter hatte das anstehende Referendum auf der Krim am Dienstag allerdings als „illegal“ bezeichnet“

Die Einladung der Krim und Russlands wurde in den deutschen Medien nicht weiter thematisiert und auch die Ablehnung durch die OSZE nicht. Dafür wurde in der Folgezeit immer wieder kritisiert, dass das Referendum undemokratisch gewesen sei und dass es ohne Wahlbeobachter der OSZE durchgeführt wurde. Ob das Referendum demokratischen Standards genügte, werden wir noch versuchen zu analysieren. In jedem Fall ist es jedoch interessant, dass die OSZE die Einladung zur Beobachtung ablehnte und der Westen anschließend Russland und der Krim-Regierung unter anderem vorgeworfen hat, dass keine Beobachter der OSZE vor Ort gewesen sind. Dabei kann der Eindruck entstehen, dass Russland oder die Krim-Regierung OSZE-Beobachter abgelehnt hätten, was nachweislich jedoch nicht stimmt.

In den letzten Tagen vor dem Referendum erklärte das ukrainische Verfassungsgericht das Referendum erwartungsgemäß für verfassungswidrig. Die Rada in Kiew löste das Krim-Parlament offiziell auf. Auch der Westen bezeichnete das Referendum als „illegal“. All dies hatte jedoch keinen Einfluss auf die Ereignisse auf der Krim und am 16. März fand das Referendum statt.

Nachdem die OSZE und die EU die Entsendung von Beobachtern abgelehnt haben, sind trotzdem Beobachter bei dem Referendum zugegen gewesen. Darüber berichtete unter anderem die russischsprachige Ausgabe von „Euro News“ am 16. März in ihrem Newsticker zum Referendum: „Für die Arbeit beim Referendum waren 135 Beobachter aus 23 Ländern registriert. Wie mitgeteilt wurde, wurden keine Verstöße bei den Wahlen beobachtet.“

Das offizielle Endergebnis des Referendums lautete 96,77% für den Anschluss an Russland bei einer Wahlbeteiligung von 83,1%. Über die Reaktion auf der Krim schrieb der „Focus“ in seinem Newsticker am 16. März: „23.07 Uhr: Mit Autokorsos und „Russland“-Rufen bejubeln tausende Menschen in Simferopol den nun möglichen Beitritt der Krim zur Russischen Föderation. Auf dem zentralen Leninplatz ist eine riesige Menge versammelt. „Wir sind zu Hause“ wird in grüner Schrift auf den Regierungssitz projiziert. Der Platz ist in ein Meer aus russischen Fahnen und Krim-Flaggen gehüllt. Hupend fahren zahlreiche Befürworter des Beitritts durch die Straßen.“

Abgesehen von ethnischen, sprachlichen oder nationalen Gründen gab es auch noch andere Gründe für die Einwohner der Krim für den Beitritt zur Russischen Föderation zu stimmen: wirtschaftliche. Auch wenn dies in Deutschland kaum jemandem bekannt ist, war der Lebensstandard in Russland wesentlich höher als in der Ukraine. Nach russischen Angaben lebten und arbeiteten zu diesem Zeitpunkt ca. 3 Millionen Ukrainer (also immerhin ca. 6% der ukrainischen Bevölkerung) schon lange in Russland. Natürlich gehörte zum Anschluss der Krim an Russland auch eine sofortige Anhebung der Gehälter der Staatsbediensteten und der Renten auf russisches Niveau. Für viele – nicht nur ethnische Russen – mag die Aussicht auf eine Verdreifachung der Gehälter und Renten ebenfalls ein Anreiz gewesen sein, für die Vereinigung mit Russland zu stimmen.

Kritik am Referendum

Die Kritik an dem Referendum war danach vielfältig und ich will darauf detailliert eingehen.

Ein unterschwelliger Kritikpunkt, den man vereinzelt lesen konnte, war die Tatsache, dass gläserne Wahlurnen und Stimmzettel ohne Umschläge benutzt wurden. Damit wäre die Wahl nicht geheim gewesen. Ohne diese Kritik bewerten zu wollen sei hierzu nur angemerkt, dass bei dem Referendum nach ukrainischer Vorschrift vorgegangen wurde, denn in der Ukraine sind Wahlurnen immer gläsern und Umschläge für die Wahlzettel gibt es nicht. Es steht jedem frei, seinen Wahlzettel vor dem Einwurf in die Urne so oft wie man möchte zu falten. Wenn gläserne Urnen und fehlende Umschläge also ein Kritikpunkt sind, dann gilt diese Kritik auch für sämtliche anderen Wahlen in der Ukraine vor und nach dem Referendum auf Krim, unabhängig vom Wahlergebnis.

Ein wichtiger Kritikpunkt, der im Westen aufgeworfen wurde, waren die Wahlbeobachter. Am 17. März schrieb der „Tagesspiegel“ unter der Überschrift „Linke, die Krim und ein ausgeladener Gysi“ einen Artikel über das Referendum, in dem ausgeführt wurde: „In den russischen Propagandamedien war das eine große Sache: Internationale Beobachter sollten das umstrittene Referendum auf der Krim aufwerten. … Wer diese Leute waren, zum Beispiel auch aus Österreich von der rechtspopulistischen FPÖ, war für Moskau erst an zweiter Stelle wichtig. … (Der Landtagsabgeordnete der Linken) Koplin verteidigte die Tour am Montag in einem Telefonat mit dem Tagesspiegel. „Die politische Beobachtung ist ein Mittel, um den gewaltfreien Prozess weiterzuentwickeln“ sagte er. Er selbst war unterwegs in Jalta, besuchte dort zwölf Wahllokale, sprach mit der städtischen Wahlleiterin und dem Vizebürgermeister. … Grundsätzlich ist der Landtagsabgeordnete, Chef des Finanzausschusses im Schweriner Landtag und früher Vize-Landeschef der Partei, aber sehr zufrieden. „Alles ohne Beanstandungen“ sagte er. Dass viele Wahlberechtigte die ungefalteten Zettel in gläserne Wahlurnen warfen, wertete er als Hinweis dass die Krim-Bevölkerung „sehr offen und selbstbewusst“ auftrete.“

Auch hier bemerkt man, wie die Formulierungen in der deutschen Berichterstattung umgeschlagen sind, wenn nun z.B. von „russischen Propagandamedien“ gesprochen wurde. Sachliche Berichterstattung sieht in meinen Augen jedenfalls anders aus, sie sollte sich mit den Fakten beschäftigen, Meinungen zitieren, aber kaum suggestiv formulieren. In dem langen Artikel, der sich mit der Kritik an den Personen der Wahlbeobachter beschäftigte, fand sich lediglich ein Satz zur OSZE: „Die OSZE hatte entschieden, keine Beobachter zur Krim zu schicken, um die Abstimmung nicht aufzuwerten.“

Dass die OSZE auf ihrer Homepage eine völlig andere Begründung für ihr Fernbleiben gegeben hatte, schien den Autor des Artikels, Matthias Meisner, nicht zu stören. Wie gesehen hatte die OSZE die Ablehnung der Einladung zur Wahlbeobachtung damit begründet, dass das Referendum gegen die ukrainische Verfassung verstieß und die OSZE es daher für illegal hielt.

Man kann die einzelnen Wahlbeobachter, die zum Großteil aus europäischen Abgeordneten linker und rechter Parteien bestanden, natürlich trefflich kritisieren. Allerdings muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden, dass die Organisatoren nach der Absage der OSZE nur die Wahl hatten, andere Beobachter einzuladen oder gar keine. Es war also eine Situation entstanden, in der Kritik zur Wahlbeobachtung in jedem Fall unvermeidbar war.

Übrigens kritisiere ich in diesem Zusammenhang die OSZE ausdrücklich nicht, im Gegenteil. Aufgrund der juristischen Situation hatte die OSZE keine andere Wahl, als ihre Teilnahme an der Wahlbeobachtung abzusagen. Die OSZE darf nur auf Einladung des entsprechenden Staates in einem Land aktiv werden. Da die Ukraine, zu der die Krim zu diesem Zeitpunkt noch gehörte, jedoch weder das Referendum anerkannte, noch der OSZE Erlaubnis oder gar Einladung zur Beobachtung des Referendums zukommen ließ, waren der OSZE die Hände gebunden. Da sich die OSZE, wie wir im späteren Verlauf noch sehen werden, fast immer neutral verhielt, gibt es auch keinerlei Hinweise zu der Frage, ob die OSZE das Referendum gerne beobachtet hätte oder nicht. In der Pressemeldung der OSZE wurde ausschließlich auf die juristischen Aspekte hingewiesen. Daher stellt sich die Frage, woher Herr Meisner vom „Tagesspiegel“ die Formulierung nahm, die OSZE hätte keine Beobachter geschickt, um die „Abstimmung nicht aufzuwerten“. Von der OSZE jedenfalls stammt diese Begründung nicht.

Dennoch wäre es aus heutiger Sicht einfacher, das Referendum objektiv zu beurteilen, wenn es einen OSZE-Wahlbericht geben würde.

Am Tag des Referendums zitierte die ukrainische „Vesti“ Premierminister Jazenjuk unter der Überschrift „Jazenjuk eröffnet die Jagd auf Separatisten im ganzen Land“ mit den Worten: „Wir finden alle, in einem Jahr, in zwei, bringen sie vor Gericht und ukrainische und internationale Gerichte werden über sie richten. Die Erde unter ihren Füßen wird brennen. … wir tun alles Mögliche, damit jeder, der sich heute unter dem Schutz russischer Maschinengewehre sicher fühlt, weiß, dass er seine Verantwortung … tragen wird“

Die „Huffington Post“ kritisierte das Referendum am 19. März in einem Beitrag scharf. Unter dem Titel „Crimea’s Technically Flawed Referendum“ wurde das Referendum ausführlich kritisiert, interessant ist, dass schon hier, nur drei Tage nach dem Referendum, die Legende geboren wurde, internationale Beobachter seien nicht zugelassen gewesen: „Keine nationalen oder objektiven internationalen Beobachter hatten die Erlaubnis, die Bedingungen des Referendums zu beobachten.“

Dass dies eine objektiv falsche Behauptung war, die später aber gerne im Westen wiederholt wurde, haben wir gesehen. Die OSZE war eingeladen und hatte die Einladung aus juristischen Gründen abgelehnt. Oder anders gesagt, wenn jemand „objektiven internationalen Beobachtern“ verboten hatte, das Referendum zu beobachten, dann war es die vom Westen unterstützte neue Regierung in Kiew, aber nicht Russland oder die Krim.

Zu dem Referendum auf der Krim sei noch ein allgemeiner Hinweis gestattet. Man kann, abgesehen von den zitierten Kritikpunkten, auch den kurzen Zeitraum für die Vorbereitung kritisieren. Und hier vor allem, dass es auf der Krim nur „Wahlwerbung“ für die Vereinigung mit Russland gab und die Vertreter einer anderen Meinung nicht die Gelegenheit hatten, ihre Meinung zu propagieren. Bei aller Kritik, die im Westen und in Kiew geäußert wurde, fand sich jedoch nicht ein Experte, der behauptet hätte, dass sich die Krim unter anderen Umständen anders entschieden hätte. Die Bevölkerungsmehrheit war pro-russisch und es gab auch für die nicht-russischen Bevölkerungsteile wirtschaftliche Gründe, die für eine Vereinigung mit Russland sprachen.

Das Referendum und das Völkerrecht

Rein juristisch ist die Abspaltung der Krim kein einfaches Thema und wird sicher die Staats- und Völkerrechtler noch lange beschäftigen. Aus Sicht der Ukraine und ihrer Verfassung ist es klar: Eine Abspaltung von Teilen der Ukraine ist nur nach einem landesweiten Referendum möglich. Aber nationales Recht kann mit Völkerrecht kollidieren. Und juristisch gesehen, zählt dann das Völkerrecht und nicht das nationale Recht.

Im Völkerrecht gibt es zwei Bestimmungen, die einander widersprechen. Da ist zunächst die Unverletzbarkeit der Grenzen, nach der die Abspaltung der Krim eine illegale Verletzung der ukrainischen staatlichen Integrität darstellte. Andererseits gibt es das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die frei entscheiden können, in welchem Staat sie leben möchten. Nach dieser Bestimmung hatte die Bevölkerung der Krim das Recht, sich von der Ukraine loszusagen und zu entscheiden, ob sie einen eigenen Staat gründen oder sich einem anderen Staat anschließen wollte. Da diese Punkte im Fall der Krim einander widersprechen, wird es kompliziert. Obwohl, eigentlich nicht, denn seit der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes zum Kosovo ist die Sache klar: Eine einseitige Sezession (also Unabhängigkeitserklärung) ist vom Völkerrecht gedeckt, auch wenn sie den Gesetzen des Landes widerspricht.

Der Westen hat nämlich im Kosovo einen Präzedenzfall geschaffen. Auch der Kosovo hat sich ohne Erlaubnis von der Zentralregierung Jugoslawiens für unabhängig erklärt und der Westen hat dies unterstützt und Serbien damals – unbestritten völkerrechtswidrig – bombardiert.

Ich will nicht nach politischen oder moralischen Standpunkten urteilen, diese sind subjektiv und jeder kann sich politisch und moralisch seine eigene Meinung bilden. Ich versuche, die Krise möglichst objektiv und nach den Richtlinien des Völkerrechts zu beurteilen. Moralisch-politisch muss man beim Kosovo berücksichtigen, dass dem Eingreifen des Westens ein jahrelanger blutiger Bürgerkrieg vorausging und dass es moralisch angesagt war, das Töten zu beenden. Einige Kritiker haben seinerzeit sogar bemängelt, der Westen hätte viel früher eingreifen müssen. Die Frage ist, wann? Wie viele Tote muss es geben, bevor ein Eingreifen moralisch gerechtfertigt ist?

Aber diese Frage ist nur moralisch schwer zu beantworten. Völkerrechtlich ist es eindeutig: Eingegriffen werden darf von außen nur, wenn es der UNO-Sicherheitsrat erlaubt.

Die russische Seite argumentiert im Falle der Krim, dass ihr Eingreifen Blutvergießen verhindert hat. Ob es tatsächlich zu dazu gekommen wäre, ist spekulativ, da niemand die Zeit zurückdrehen kann, um zu prüfen, ob es zu Blutvergießen gekommen wäre, wenn die Krim Teil der Ukraine geblieben wäre. Der Bürgerkrieg in der Ostukraine, auf den wir noch eingehen werden, zeigt jedoch, dass ein solches Szenario zumindest möglich war. Im Gegensatz zur Krim, wo kein Blut geflossen ist, gab es am Jahresende 2014 in der Ostukraine offiziell über 4.000 Tote und fast eine Million Flüchtlinge, wobei die Dunkelziffer bei der Anzahl der Toten wesentlich höher ist. Schon im Februar 2015 wurde geschätzt, dass es bereits über 50.000 Tote waren, obwohl die Medien bis heute die Zahl von 10.000 nennen und das seit 2015. Dazu später mehr.

Aber zurück zur juristischen Beurteilung. Der Internationale Gerichtshof hat am 22. Juli 2010 ein Rechtsgutachten zum Kosovo veröffentlicht und kam zu dem Ergebnis, dass eine einseitige Unabhängigkeitserklärung nicht gegen das Völkerrecht verstößt. Damit wäre die Unabhängigkeitserklärung der Krim rechtmäßig und der anschließende Beitritt zur Russischen Föderation ebenfalls, denn nach ihrer – demnach völkerrechtlich legalen – Abspaltung konnte die Krim frei wählen, ob sie eigenständig sein oder sich einem anderen Staat anschließen wollte. Einschränkend kann man sagen, dass im Falle Kosovo eine Empfehlung eines UN-Sonderbeauftragten vorgelegen hat, die im Falle der Krim nicht vorlag. Andererseits ist festzuhalten, dass es im Kosovo nie eine Volksabstimmung zu dem Thema gab, die auf der Krim – trotz aller schon genannten berechtigten Kritik an dem Referendum – jedoch durchgeführt wurde.

Wie man all dies dreht und wendet, der Westen hat mit dem Kosovo einen Präzedenzfall geschaffen, auf den sich Russland und die Krim nun berufen konnten. Und in der Diskussion, die seitdem unter Staatsrechtlern läuft, wird diese Position von vielen geteilt.

Ein weiterer Punkt, der bei der juristischen Betrachtung eine Rolle spielen kann, ist die Vorgeschichte. Nikita Chrustschow, ukrainischer Generalsekretär der KPdSU der Sowjetunion, übergab die Krim, die damals zur Russischen Sowjetrepublik gehörte, an die Ukrainische Sowjetrepublik. Diese Übergabe ist juristisch nicht korrekt verlaufen, da damals Staatsorgane diese Entscheidung getroffen haben, die laut sowjetischer Verfassung dazu nicht autorisiert waren. Von daher ist es fraglich, ob die Krim überhaupt zur Ukraine gehören konnte. Allerdings erkannte Russland diese Übergabe beim Zerfall der Sowjetunion an und schloss am 19. November 1990 einen Vertrag mit der Ukraine, in dem die beiden Länder gegenseitig auf Gebietsansprüche verzichteten. Es ist interessant, dass sich westliche Kritiker bei der Beurteilung der Krim-Frage immer wieder auf das Budapester Memorandum beriefen und nicht auf diesen Vertrag aus dem Jahre 1990.

Auch das Budapester Memorandum muss also bei der Beurteilung der Krim-Frage herangezogen werden, weil es immer wieder in diesem Zusammenhang thematisiert wurde. Im Memorandum verpflichteten sich die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Russland in drei getrennten Erklärungen jeweils gegenüber Kasachstan, Weißrussland und der Ukraine, als Gegenleistung für einen Nuklearwaffenverzicht die Souveränität und die bestehenden Grenzen der Länder (Art. 1) sowie deren politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit zu achten (Art. 2 f.) und im Falle eines nuklearen Angriffs auf die Länder unmittelbar Maßnahmen des UN-Sicherheitsrates zu veranlassen (Art. 4).Diese drei Staaten waren im Zuge der Auflösung der UdSSR in den Besitz von Nuklearwaffen gekommen. Das Budapester Memorandum war Vorbedingung der Unterzeichnung und Ratifizierung des Atomwaffensperrvertrags und des Atomteststoppvertrags. Bis 1996 wurden alle Kernwaffen der früheren UdSSR nach Russland gebracht, das als Nachfolgestaat der UdSSR das Recht auf den Besitz von Atomwaffen hat.

Im Zuge von Diskussionen über Sanktionen Seitens der USA gegen Weißrussland erklärten die USA am 12. April 2013, dass das Budapester Abkommen juristisch nicht bindend sei: „Auch wenn das Memorandum rechtlich nicht bindend ist, nehmen wir diese politischen Erklärungen ernst und glauben nicht, dass US-Sanktionen … unseren Verpflichtungen gegenüber Weißrussland aus dem Memorandum widersprechen oder diese untergraben.“

Wenn das Budapester Abkommen, wie die USA in diesem Fall argumentierten, juristisch nicht bindend war, erübrigen sich alle Diskussionen über das Budapester Memorandum im Zusammenhang mit der Krim-Krise. Sollte es doch juristisch bindend gewesen sein, dann stellt sich die Frage, ob die USA und die europäischen Unterzeichner des Memorandums selbst als erste gegen das Abkommen verstoßen haben, als sie auf dem Maidan Partei ergriffen haben, denn eine solche Parteinahme widerspricht dem Inhalt des Abkommens, die „Souveränität“ (Punkt 1 des Abkommens) und die „politische Unabhängigkeit“ (Punkt 2 des Abkommens) der Ukraine „zu achten“. Gleiches gilt dann natürlich auch für die Einmischung Russlands auf der Krim, wobei – wenn man mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker argumentiert – das Budapester Memorandum wiederum diesem Teil des Völkerrechts widersprechen würde und Völkerrecht über derartigen zwischenstaatlichen Vereinbarungen steht.

Aber nochmal zurück zum Kosovo, der immer wieder als Argument herhalten muss. Wie gesehen waren die Situationen im Kosovo und auf der Krim nicht wirklich vergleichbar. Einzig wichtig ist, dass der Internationale Gerichtshof einseitige Unabhängigkeitserklärungen für völkerrechtskonform erklärte. Aber gibt es in der jüngeren Geschichte einen Fall, der mit Krim vergleichbarer ist, als der Kosovo und der uns bei der Beurteilung helfen kann?

Den gibt es in der Tat: Slowenien. Am 25.Juni 1991erklärte sich Slowenien einseitig für unabhängig von Jugoslawien. Es gab nur 10 Tage einige Kampfhandlungen, von dem schlimmen Elend wie es Bosnien und Kroatien erlebten, blieb Slowenien verschont. Nachdem Slowenien im Dezember 1991 eine eigene Verfassung verabschiedet hatte, wurde es innerhalb von weniger als einem Monat von allen Staaten der damaligen Europäischen Gemeinschaft anerkannt. Wir haben also eine absolut vergleichbare Situation: Ein Teil eines Staates erklärt sich einseitig für unabhängig und seine Unabhängigkeit wird anerkannt, sobald diese unabhängige Region eine eigene Verfassung hat. Die Krim hatte ja auch vorher schon eine eigene Verfassung gehabt, brauchte sich also nicht erst eine zu geben.

Damit steht die Argumentation des Westens nun auf recht tönernen Füssen, denn wenn der Westen einerseits im Falle Sloweniens eine einseitige Unabhängigkeit gegen den Willen der jugoslawischen Zentralregierung anerkannt hat, stellt sich die Frage, warum dies nun im Falle der Krim anders sein sollte.

Man sieht an diesen Ausführungen, dass die völkerrechtliche Beurteilung der Krim-Krise anders ist, als die Medien und Politiker dies im Westen darstellen. Von einem Bruch des Völkerrechts kann keine Rede sein. Unstrittig ist lediglich, dass Russland seine vertraglichen Verpflichtungen verletzt hat, als es russische Soldaten auf der Krim außerhalb von deren Stützpunkten einsetzte, um die ukrainische Armee in ihren Kasernen zu binden. Durch den Vertrag zwischen der Ukraine und Russland über die Nutzung der Stützpunkte der russischen Schwarzmeerflotte durfte Russland zwar Soldaten auf der Krim stationieren, diese durften jedoch nicht außerhalb ihrer Stützpunkte aktiv werden.

Im Zusammenhang mit der Vereinigung der Krim mit Russland muss man jedoch folgendes festhalten: Der Begriff der Annexion ist sicher so nicht korrekt, es war eine Sezession, der ein Beitrittsgesuch zur Russischen Föderation folgte. Vor allem das Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs zum Kosovo spielt der russischen Argumentation in die Hände. Und Slowenien wurde, warum auch immer, bisher von den Befürwortern der Krim-Abspaltung von der Ukraine noch gar nicht zum Vergleich herangezogen, obwohl dieser Fall – zumal nach der Feststellung des Internationalen Gerichtshofes, dass einseitige Unabhängigkeitserklärungen völkerrechtlich zulässig sind – besser zur Situation auf der Krim passt und den Befürwortern noch bessere Argumente gibt, als es der Vergleich mit dem Kosovo tut, wo vorher schon ein Krieg getobt hat.

Wie einleitend gesagt, wird dieses Thema die Staatsrechtler sicher noch lange beschäftigen. Es bleibt anzumerken, dass es bedauerlich ist, dass die westlichen Medien dieses Thema in der Folgezeit nicht angemessen behandelt haben, sondern praktisch ausschließlich von „Annexion“ und „Völkerrechtsbruch durch Russland“ sprachen, obwohl dies eine nicht korrekte Sicht der Dinge ist.

Egal, wie viele internationale Abkommen und Verträge man berücksichtigt, am Ende kommt man immer wieder bei der eingangs gestellten Frage an: Was wiegt schwerer? Die Unverletzbarkeit der Grenzen oder das Selbstbestimmungsrecht der Völker?

So kann jeder für sich selbst die Frage beantworten: Ist das Recht eines Staates auf Unverletzbarkeit seiner Grenzen höher einzustufen, als das Recht der Menschen in einem Staat auf Selbstbestimmung? Wenn man mit demokratischen Werten argumentiert, ist wohl das demokratische Recht der Menschen auf Selbstbestimmung höher zu bewerten. Aber zu diesem moralischen Aspekt darf jeder seine eigene Meinung haben, völkerrechtlich ist es hingegen ziemlich eindeutig.


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