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Rutschbahn zur Apokalypse?

Published On: 7. März 2023 6:37

Die Furcht vor der nuklearen Apokalypse geht seit Jahrzehnten als Dauergespenst um in Deutschland. Bei sicherheitspolitisch einschneidenden Anlässen schreckt die Gesellschaft auf und erinnert sich, dass die Abschreckung auch scheiternd und sich in die atomare Vernichtung umkehren könnte.

So lautete 1957 bis 1959 die Parole eines breiten Bündnisses gegen die Ausrüstung der Bundeswehr mit nuklearen Gefechtsfeldwaffen „Kampf dem Atomtod“. Die Friedensbewegung protestierte in der Hauptphase von 1981 bis 1984 mit unzähligen Aktionen gegen die Aufstellung von US-Pershings und Cruise Missiles in der Bundesrepublik als atomare Nachrüstung gegen die sowjetischen SS-20.

Und jetzt in Gegenwart des Kriegs in der Ukraine bangen einer repräsentativen Forsa-Umfrage von Anfang März zufolge 69 Prozent, Deutschland könnte durch einen potenziellen Angriff Russlands auch auf ein Nato-Mitglied in den dritten Weltkrieg hineingezogen werden. Die nukleare Abschreckung der Nato als das kriegsverhütende Kernelement der Bündnissicherheit hat für mehr als zwei Drittel der Gesellschaft offensichtlich keine Bedeutung.

USA, Nato und Abschreckung

In der aktuellen Nuclear Posture Review vom Oktober 2022 wird ausgeführt, die US-Nuklearkapazitäten seien „der Schlüssel, um sicherzustellen, dass die russische Führung sich hinsichtlich der Folgen einer nuklearen Nutzung jeglichen Maßstabs nicht verrechnet“. Diese Ausrichtung soll Russland davon abhalten, einen „konventionellen Krieg gegen die Nato“ zu beginnen und den Einsatz „nicht strategischer Atomwaffen in einem solchen Konflikt“ zur erwägen. Bewusst werden die Konsequenzen eines Scheiterns der Abschreckung vage gehalten: „Die Vereinigten Staaten würden versuchen, jeden Konflikt mit dem geringstmöglichen Schaden zu den bestmöglichen Bedingungen zu beenden.“

Das kann je nach militärischer Lage bedeuten: Beschränkung auf eine konventionelle Kriegsführung, Ausschluss oder lediglich limitierten Einsatz von Nuklearwaffen, versuchte Begrenzung der Zerstörungswirkung allein beim angegriffenen Staat oder auch beim Angreifer. Es liest sich zumindest in der Theorie als Absicht, möglichst nicht auf eine Rutschbahn in die atomare Apokalypse zu geraten. Ungeachtet dessen, dass durch die konventionelle Strukturschwäche der russischen Streitkräfte – im Vergleich zur Gesamtstärke der Nato – ihre potenziell frühzeitige Bereitschaft zum Einsatz von Nuklearwaffen in Rechnung zu stellen ist.

Scholz will Atomkrieg unbedingt vermeiden

Das Axiom, einen Atomkrieg unbedingt zu vermeiden, leitet auch den Bundeskanzler: „Ich tue alles, um eine Eskalation zu verhindern, die zu einem dritten Weltkrieg führt. Es darf keinen Atomkrieg geben.“ Gleichwohl: Deutschlands Rolle bei der erweiterten Bündnis-Abschreckung besteht derzeit in der Bereitstellung von Tornado-Jagdbombern und Piloten für den atomaren Einsatz.

Im Dezember 2022 entschied der Bundestag den Kauf von 35 US-F35A Tarnkappen-Mehrzweckkampfflugzeugen. Das Bundesverteidigungsministerium erklärt: „Die F‑35A soll bei der Luftwaffe die bisher dem Jagdbomber Tornado zugewiesene Rolle der nuklearen Teilhabe bis zu dessen Außerdienststellung bruchfrei übernehmen. Zudem soll sie als Jagdbomber gegnerische Ziele am Boden bekämpfen und der eigenen Truppe Luftnahunterstützung leisten.“

Bei einem potenziellen militärischen Angriff auf ein Nato-Mitglied würde sehr wahrscheinlich die Allianz den Bündnisfall nach Artikel 5 beschließen. Der Bundeskanzler als dann Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt müsste kriegslagebedingt entscheiden, ob er letztlich auch die Starterlaubnis für die Tornado/F-35A mit ihren taktischen Atomwaffen B61-12 mit vierfach variabler Sprengkraft erteilt.

Eine Frage der Glaubwürdigkeit

Die USA verfügen über den elektronischen Auslösemechanismus der atomaren Traglast und würden die Zielkoordinaten vorgeben. Es wäre die deutsche militärische Mitwirkung in die atomare Auseinandersetzung.

Die zentrale Kategorie im Abschreckungstheorem ist die Glaubwürdigkeit. In diesem Kontext wäre der deutsche Kauf von F-35A für die nukleare Abschreckung nur unter der Prämisse formal logisch und gerechtfertigt, wenn der potenzielle Gegner glaubhaft davon ausgehen muss, dass sie tatsächlich auch eingesetzt würden. In sein Kriegskalkül würde auch die lange überdenkende und abwägender Entscheidungsfindung des Bundeskanzlers über die Lieferung von allein wenigen Kampfpanzern an die nicht-atomare Ukraine einfließen.

Und natürlich hätten Nato-Streitkräfte bei einem Bündnisfall auch die Aufgabe,  logistische Knoten für die Militärtechnik auf dem Gebiet des potenziellen russischen Angreifers zu zerstören. Das Verteidigungsrecht erlaubt grundsätzlich der Ukraine ein solches Vorgehen ebenfalls. Doch sie besitzt im Gegensatz zu Russland dazu keine entsprechenden militärisch wirksamen Potenziale, sondern lediglich die Fähigkeit zu sehr wenigen begrenzten  Einzelaktionen.

Wann wird Deutschland Kriegspartei?

Eine ständig geäußerte Sorge lautet, Deutschland könnte durch seine Waffenlieferungen Kriegspartei werden. Bekanntlich besitzt die Ukraine durch den bewaffneten Angriff nach Artikel 51 UN-Charta „das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“. Im Rahmen der kollektiven Selbstverteidigung würde der unterstützende Staat völkerrechtskonformer co-belligerent, Co-Kriegsteilnehmer. Deshalb sind nach Artikel 51 alle „Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen“. Aus Erwägung der politischen Opportunität, eben nicht legitime Kriegspartei zu werden, entschied die Bundesregierung, ihre Waffenunterstützung nicht als Beitrag zur kollektiven Selbstverteidigung zu firmieren, und informiert den UN-Sicherheitsrat auch nicht darüber.

Auch international renommierte Völkerrechtler widersprechen der Position, durch die Waffenlieferung werde Deutschland Kriegspartei. Claus Kreß führte Ende Februar im Spiegel gegen solche Bedenken an: „Die in der deutschen Debatte im Mittelpunkt stehende Frage ‚Kriegspartei ja oder nein‘ hat mit der Frage, in welchem Umfang Deutschland die Ukraine unterstützen darf, gar nichts zu tun. Es geht um eine politische Festlegung, die man auch politisch gut begründen kann.“

Sein Kollege Matthias Herdegen hatte Mitte Januar in der Neuen Zürcher Zeitung kongenial argumentiert: „Das Völkerrecht ist bei dieser Frage klar: Kriegspartei wären wir dann, wenn wir mit deutschen Soldaten unmittelbar in die Kampfhandlungen eingreifen würden. Die Lieferung von Waffen und anderem Material aber bleibt unterhalb dieser Schwelle, egal ob wir Helme oder Panzer liefern. Also: Nur weil wir Kampfpanzer liefern, werden wir noch keine Kriegspartei.“

Aus russischer Perspektive sind derartige Einwände ohnehin sophistisch. Nach Aussage von Putins Pressesprecher Dmitri Peskow befindet sich die Nato längst schon „de facto“ im Krieg mit Russland: „Ihre Geheimdienste arbeiten rund um die Uhr gegen uns, während ihre Waffen, wie Putin kürzlich in einem Interview sagte, kostenlos an die Ukraine geliefert werden, um auf unser Militär zu schießen.“

Die Ukraine wird weiterkämpfen

Ohne inhaltliche Bedeutungsklärung von impliziten Konsequenzen werden in der deutschen Debatte mantraartig Aussagen hochgehalten, wie: Die Ukraine muss gewinnen, Russland darf nicht gewinnen, eine Atommacht kann nicht besiegt werden. Eine erläuternde Schneise in das Aussage-Dickicht schlug Anfang diesen März General Viktor Nasarow, militärische Berater des ukrainischen Oberkommandierenden General Waleri Saluschni: „Damit der Krieg beendet werden kann, muss die Ukraine die Russische Föderation auf dem Schlachtfeld besiegen. Wir wissen, dass es angesichts der Größe Russlands und seiner Atomwaffen unmöglich ist, dem Land eine totale Niederlage im Sinne einer bedingungslosen Kapitulation zuzufügen. Aber eine Niederlage auf dem Schlachtfeld ist möglich. … Wenn wir bestimmte besetzte Gebiete zurückerobern, können wir über Verhandlungen sprechen.“ Dieser Zielkorridor bedingte aber eine kontinuierliche, weitaus umfangreichere  westliche Waffenhilfe als bislang und vor allem die Inkaufnahme von noch viel mehr Zerstörung und Opfer.

Wie beurteilt deshalb die ukrainische Gesellschaft eine solche, auf die militärische Ermattung der russischen Streitkräfte setzende militärische Durchhaltestrategie? Die Ergebnisse einer repräsentativen Untersuchung des international angesehenen Kekst CNC Institut für strategische Kommunikation in der Ukraine im Auftrag der Münchner Sicherheitskonferenz sind dazu eindeutig. Die Bewertung betraf verschiedene Szenarios, unter denen die Befragten weiterkämpfen oder sich ergeben sollte. 95 Prozent würden unter fortgesetzte Bombardierung ihrer Städte weiterkämpfen. 89 Prozent würden den Kampf fortsetzen, wenn Russland taktische Nuklearwaffen auf dem Gefechtsfeld einsetzen sollte, und ebenfalls 89 Prozent plädieren für weiterkämpfen, wenn auch taktische Nuklearwaffen gegen ihre Städte eingesetzt würden.

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