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Kranke, gekränkte Großmacht

Published On: 14. März 2023 6:14

Michael Thumann erklärt, wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat

©Wikipedia/Stephan Röhl

Thumann über die gekränkte Großmacht Russland

Es war die Kränkung, ein Minderwertigkeitskomplex. Gekränktheit sei „ein Hauptcharakterzug“ Putins, schreibt Michael Thumann in seinem Buch „Revanche“. Darin zeichnet der Moskau-Korrespondent der Wochenzeitung Die Zeit nach, „wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat“. Russlands Präsident „zog aus, um Rache zu nehmen für den gescheiterten Aufstand gegen Gorbatschow und Jelzin und für den Zerfall des Sowjetreichs. Heute wird Russland ganz im Geist der Putschisten regiert.“

Eine „unerträgliche Arroganz“ des Westens zeige sich in der falschen Überzeugung, „dass Russland als Weltmacht in seiner inneren Entwicklung vom Westen abhängig wäre oder seine Politik als Reaktion auf den Westen gestalten würde“. Putin habe sich alleine für den Angriff auf die Ukraine entschieden, „weil aus seiner Sicht die Zeit reif sei und der Westen vor dem Untergang stehe“.

Thumann hat für all jene, die nicht in der Lage sind, die Analysen der meinungsführenden Blätter und der Politikberatungsindustrie zu verarbeiten, eine gute Zusammenfassung dessen geliefert, was in den vergangenen Jahrzehnten in Russland geschehen ist – und warum. Er führt die Leserschaft mit fundierter Sachkenntnis durch die jüngste Geschichte Russlands: von Jelzin auf dem Panzer über Putins „Machtergreifung“ bis zu dessen „Rache am Westen“, seinem „heiligen Krieg“.

Für Thumann ist Putin ein Machiavelli, schon 1999 gewesen, als der Journalist ihn erstmals traf: „Damals tat er so, als wolle er gute Beziehungen mit dem Westen aufbauen.“ Schon damals habe er Putin nicht geglaubt, lässt Thumann wissen.

Anschaulich erläutert er die russische Propagandaindustrie mit Margarita Simonjan an der Spitze, die so erfolgreich ist, dass sogar Putin darauf hereingefallen sei. Thumann vermittelt eine Ahnung davon, wieso in Russland die Mehrheit vor dem Fernseher den Krieg für richtig hält und „in einem Rausch von Revanche und Genugtuung“ zustimmt, wenn „die Minderheit unter die Polizeistiefel gerät“.

Die verfehlte deutsche Ostpolitik

Thumann erklärt die Ziele von Putins Verdrehung der Geschichte und begründet das Recht der Ukraine darauf, „ein normaler europäischer Nationalstaat“ zu sein. Er teilt aus gegen all jene, die Putin von 2000 an vertrauten, in erster Linie Ex-Kanzler Gerhard Schröder, der „zum Oligarchen in russischen Konzernen geworden“ sei. Der Autor beklagt die fehlerhafte deutsche Politik seit der preußisch-russischen Allianz über den Vertrag von Rapallo und den Hitler-Stalin-Pakt bis hin zur Gegenwart mit der Gaspipeline Nord Stream 2, ein „unrühmliches Kapitel, das Deutschlands Verhältnis zu seinen unmittelbaren Nachbarn stark eintrübte und seine Glaubwürdigkeit nachhaltig beschädigte“.

Wobei er nicht vergisst zu sagen, dass in der EU „reichlich geheuchelt“ werde. Auch „ostmitteleuropäische Staaten, die Berlin für seine frühere Russland-Politik kritisieren, hatten ihre eigenen Verflechtungsskandale mit Moskau“, allen voran die neuen Nationalisten. „Putins gute Freunde in der Welt“.

Auch verdammt Thumann nicht die deutsche Ostpolitik des vorigen Jahrhunderts, sie habe erheblich dazu beigetragen, die Spaltung Europas zu überwinden; allerdings hätten Egon Bahr und andere Sozialdemokraten später für „eine fortschreitende Verirrung der Ostpolitik“ gesorgt. Verpasst habe der Westen außerdem „in der Zeit des halbwegs demokratisch gesinnten Präsidenten Boris Jelzin eine Chance, Russland etwas fester an sich zu binden“.

Minsk und Nato-Erweiterung

Thumann meint nicht, dass es prinzipiell falsch gewesen wäre, mit Putin zu reden, zumindest für die ersten Jahre von dessen Regentschaft. Auch die „Modernisierungspartnerschaft“ mit Medwedew sei „zumindest den Versuch wert“ gewesen. Den „Kipppunkt“ hätten die Deutschen allerdings verpasst, 2012, Putins Rückkehr als Präsident.

Klare Urteile auch zu „Minsk“ und zur „Nato-Osterweiterung“: Die Minsker Abkommen seien für die Ukraine zwar schmerzhaft und erniedrigend gewesen, „aber er schenkte dem Land sieben wichtige Jahre, um sich zu ertüchtigen und wehren zu können“.

Zum „Versprechen“, die Nato nicht gen Osten zu erweitern, stellt Thumann klar: Es gebe keinen schriftlichen Vermerk. Allerdings war westlichen Regierungschefs klar, welche Gefahr darin lag. Und deshalb habe es damals die „Ansage“ gegeben: „Der Westen wollte beim Zerfall des Warschauer Paktes keine Nato-Osterweiterung.“ Auch „US-Politiker im Ruhestand“ hätten gewarnt. Letztendlich hätten der „Druck der Mitteleuropäer und die unruhige Entwicklung Osteuropas“ den Anstoß für neue Mitgliedschaften gegeben.

Natürlich zeichnet Thumann auch den Krieg nach. Alles drin also. Aber eine Frage, die wichtigste und umstrittenste, auf die nur die allwissenden Wortführer an der deutschen Meinungsfront so eindeutige Antworten haben: Wird Putin Atomwaffen einsetzen? Ist die Drohung Bluff oder eine ernste Gefahr?

Thumann zeigt, wie Putin verbal aufrüstet – „weit über die russische Nukleardoktrin hinaus“. Das sei „Teil der psychologischen Kriegsführung. Sie sollte vor allem die Deutschen mit ihrer Tradition der Atom-Apokalyptik zermürben und gegen ihre Regierung rebellisch machen.“

Eine Seite weiter schreibt Thumann allerdings: „Doch es spricht leider auch etwas für den Gebrauch von Atombomben.“ Putin habe zuletzt immer wieder die radikalste Möglichkeit gewählt. Er sei „ein Kämpfer für das eigene Überleben“. Es sei „kaum vorherzusagen, wofür sich der 70-jährige Herrscher im atomsicheren Bunker entscheiden wird“.

Michael Thumann

Revanche
Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat

C. H. Beck

288 Seiten

Hardcover

25 Euro

ISBN 978-3-406-79935-8

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