
Verhüllte Werte
Meine Mutter hatte eine starke Liebe zu Youssef, einem sehr attraktiven Algerier, der jedoch nicht mein Vater wurde. Sein Bild hängt immer noch in ihrer kleinen Wohnung und begleitete mich während meiner Kindheit. Ich fragte sie immer wieder nach ihm und lauschte gespannt ihren Erzählungen. Youssef studierte Politikwissenschaften, war hochintellektuell und liebte sowohl Camus als auch meine Mutter, eine junge, schöne Studentin an der Sorbonne. Ihre Liebe dauerte einige Jahre, bis mein Vater kam. Youssef gab meine Mutter nur ungern auf und äußerte seine Verzweiflung und seinen Unmut, indem er die Autoreifen meines Vaters zerschnitt. Es ist wichtig anzumerken, dass er, der arabische Mann, nur Gegenstände beschädigte und niemals Hand anlegte. Das war eher eine Vorliebe meines deutschen Vaters. Ich bin mir bewusst, dass dies zu Kontroversen führen könnte, aber ich werde später noch mehr über meine Realität sprechen, trotz der möglichen Polarisierung.
Die liebevollen Erzählungen meiner Mutter über Youssef weckten früh meine Neugierde für andere Kulturen und Menschen. Diese Neugierde wurde noch stärker, als ich mit 12 Jahren zum ersten Mal nach Tunesien und mit 13 Jahren nach Marokko reiste. Die Eindrücke, die ich dort gewann, führten dazu, dass ich mich mein ganzes Leben lang zu islamischen, orientalischen und arabischen Menschen und Kulturen hingezogen fühlte. Der Klang des Muezzins wird mir immer in Erinnerung bleiben und oft habe ich ihn in meiner Musik imitiert. Die Altstadt/Souk und ihre Farben sowie die wunderbaren Gerüche der marokkanischen Stadt Fès werde ich nie vergessen. Als ich später für ein halbes Jahr in Paris lebte, verbrachte ich viel Zeit mit maghrebinischen Menschen. Meine Affinität wurde noch verstärkt, als meine Cousinen und mein Onkel zum Derwisch-Orden Dscherrahi-Tariqa unter Muzaffer Ozak konvertierten. Ich wurde Zeugin von Gebetsritualen und mystischen Geschichten. Als junge, feministische, politische und vor allem atheistisch erzogene Frau kamen jedoch Zweifel in mir auf. Ich sah, wie meine Cousinen in zweiter Reihe beten mussten, während die erste Reihe immer von Männern belegt war. Sie mussten ihren Kopf bedecken, während ihre männlichen Kollegen keinerlei Einschränkungen hatten. Ich verstand nicht, warum es vor Allah so viele Unterschiede zwischen Mann und Frau geben sollte. Ich nahm mir eine Übersetzung des Qur-ans und versuchte es in der Schrift nachzuvollziehen. Dabei stieß ich auf Ähnliches oder sogar noch Befremdlicheres in der Bibel. Nach langem Lesen und Recherchieren kam ich zu dem Schluss, dass Frauen in allen Heiligen Schriften und spirituellen Glaubensgemeinschaften mehr oder weniger benachteiligt sind. Die englische Übersetzung des Qur-ans von A. Yusuf Ali aus dem Jahr 1975, die ich gelesen habe, war jedoch weniger frauenfeindlich. Mir wurde klar, wie wichtig es ist, sich tiefgründig und ausführlich zu informieren, anstatt schnell und oberflächlich zu urteilen. Der Qur-an ist in meiner Übersetzung weniger frauenfeindlich und schafft ganz andere Bilder von Frau und Mann als die Bibel.
Gewalt hat keine Nationalität, keine Ethnie und grundsätzlich auch kein Geschlecht. Sie wird von Männern und Frauen in verschiedenen Formen ausgeübt. Am Ende bleiben immer Opfer zurück, die Anerkennung und Hilfe brauchen, damit sie nicht selbst zu Tätern werden. Diese Spirale kann nur durch strukturelle Veränderungen und ein offenes, differenziertes und achtsames Miteinander durchbrochen werden. Die Akzeptanz und Wahrung der Grenzen des Gegenübers, des Partners und des eigenen Kindes sind dabei essenziell. Die folgenden Texte meiner Kollegin Nina Maleika beschäftigen sich mit Ambivalenzen und beschreiben unter anderem ihre Gedanken zur Stellung der Frau in Ägypten. Ihre Beschreibungen sind kurz, stark und nachklingend, gerade weil sie so transparent über ihre Zweifel spricht
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Verschleierte Werte
Meine Mutter liebte Youssef, im Paris der Fünfziger Jahre! Das Bild des sehr attraktiven Algeriers, der nicht mein Vater wurde, hängt heute noch in ihrer kleinen Wohnung und begleitete mich durch meine Kindheit. Immer fragte ich sie nach ihm und lauschte gespannt ihren Erzählungen. Er studierte Politikwissenschaften, war hochintellektuell, liebte Camus und meine Mutter, eine junge, schöne Studentin an der Sorbonne — die mit 21 Jahren ihr Dorf in der Pfalz verließ, um das Leben zu lernen. Die Liebe währte ein paar Jahre, bis mein Vater kam. Youssef gab meine Mutter ungerne auf und äußerte seine Verzweiflung und seinen Unmut, indem er meinem Vater die Autoreifen zerschnitt. Und bevor ich die Unken rufen höre, möchte ich vorwegnehmen, dass er, der
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