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verwickelt

Verwickelt

Published On: 21. September 2023 21:10

Ich finde es unanständig, vorsichtig zu leben. Ich kann es nicht“ (Emmy Hennings). Ich bin keine Symbol, sondern eine Frau, die auf dem Weg zur Arbeit ist und gerade einen Sitzplatz in der U-Bahn ergattert hat. Ich lehne mich erleichtert zurück und schließe die Augen. Heute Morgen erscheint es mir rätselhaft, dass der Wunsch nach Schönheit selbst an den schrecklichsten Orten durchdringen kann. Wie kann man daran denken, dass etwas schön werden soll, wenn es doch nur um das nackte Überleben geht? Plötzlich sehe ich die Mütze eines Gefangenen vor mir, selbst gehäkelt, ein einfaches rundes Käppi von harmonischer, aber längst verblasster Farbigkeit. Ich hatte lange vor einer Ausstellung über sowjetische Gulags gestanden und die Mütze betrachtet. Es war offensichtlich, dass der Gefangene seine kahl geschorene Kopfhaut vor der sibirischen Kälte schützen musste. Die äußeren Umstände waren verständlich. Aber wie hatte er es geschafft, sich das Häkeln beizubringen? Woher hatte er Wolle und Nadel bekommen? Und was mochte in seinem Kopf vorgehen, während er sich in einer Welt, die gegen sein Vorhaben sprach, bemühte, die Farben und Muster harmonisch aufeinander abzustimmen? Die Anstrengung seiner ungeübten und von harter körperlicher Arbeit gezeichneten Hände kann als Gebet eines Menschen um Schönheit und Würde vorgestellt werden. Aus Schmutz, Hoffnungslosigkeit und dumpfem Schweigen tritt die Gestalt eines Mannes hervor, der jedem Menschen gehören könnte, dem das Schicksal der dunklen Seite der Welt zugeschlagen hat. Er soll nicht erkannt werden. Er soll seinen Kampf alleine ausfechten. Seine Spuren sollen sich verwischen, als hätte es ihn nie gegeben. Aber in seiner Mütze haben sie überlebt. Sie bezeugt, dass er sich den Gesetzen der Wirklichkeit nicht unterworfen hat, sondern sie als Herausforderung begriffen hat. Die Mütze sollte ihn nicht nur wärmen, sondern ihn auch zu einem freien Menschen machen. Indem er sich nicht mit wahllosen Stücken zufrieden gab, ließ er den Ort und seine Schrecken hinter sich. Seine schöne Mütze konnte die Wirklichkeit nicht besiegen, aber sie hatte auch ihn nicht besiegt. Er war kein Opfer mehr. Seine inneren Landschaften hatten Gestalt angenommen. Furcht und Finsternis waren durch Maß und Form gebannt. Tatsächlich können Steine blühen, wenn man fest genug daran glaubt. Ein zweites Bild inmitten der morgendlichen Menge auf dem Weg zur Arbeit: ein Kriegsschauplatz. Eine alte Frau sitzt auf einem Karren, umgeben von hastig zusammengeschnürten Bündeln und schreienden Kindern. Sie strickt. Die einfachste Antwort auf die ewigen Zerstörungen des Krieges ist, das Begonnene fortzusetzen. Du bist glücklich, der Kugel entkommen zu sein, und solange du lebst, hat es einen Sinn, auch den zweiten Strumpf zu vollenden. Selbst wenn die Menschen um dich herum den Weltuntergang herbeiführen, hat es immer noch einen Sinn, sich auf den kommenden Winter vorzubereiten. Vorlieben. Unerklärliche Abneigungen. Plötzliche Affekte. Ein Mensch schenkt einem anderen eine Kirsche. Seine einzige. Sie verbeugen sich voreinander. Ein japanisches Gedicht spricht davon, dass ausgerechnet das Feuer den Menschen das Wesen eines Schneeballs erklären kann. Kann man den Charakter eines lebendigen Menschen in einer einzigen Geste, einem Satz oder Blick zusammenfassen? Dürfen wir uns dem Augenblick anvertrauen, einem Windhauch? Selbst in den Todeszellen der Nationalsozialisten wurde mit Gott gerungen, es wurden Briefe geschrieben, Gedichte gelesen und übersetzt. Derjenige, dem etwas wichtiger war als er selbst, tat, was er tun musste, bis man ihm die Hände band und den Mund für immer verschloss. Kämpfe mit ihm, deinem Engel, bis der Morgen graut. Dieser Kampf ist der Preis der Freiheit. Jedes Kind sollte das wissen. Aber Kinder sollten heute – und wohl zu allen Zeiten – gar nicht erst auf die Idee kommen, sich ein Bild von der Freiheit zu machen. Zu Weihnachten und generell bekommen sie Dinge geschenkt, um sich abzulenken. So werden sie groß und hart. Das Ende der Kindheit als Triumph der Vernunft über ein tiefes inneres Wissen um Zusammenhänge. Für den Satz „Ich will aber ein schöner Mensch werden“ muss man bereit sein, verlacht zu werden. Ein Gedanke aus Hannah Arendts Biografie über Rahel Varnhagen fällt mir ein: Wie man aus einer völlig unmöglichen Situation, die einen als Mensch komplett infrage stellt, herauskommt, ist die entscheidende Erfahrung. Nur wer sie im Augenblick erkennt und ihr nicht ausweicht, hat die Chance, tiefer zu blicken und vielleicht zum Leben zu gelangen. „Man muss das Leben nicht verstehen, dann wird es wie ein Fest.“ Das steht in einem Gedicht von Rilke, und ich habe diese Zeile auf einem schlichten Grabstein irgendwo wiedergefunden. Der Wunsch der Kinder, aufzubrechen und nicht zu wissen, wohin. Eine kleine Statue im Archäologischen Museum von Taranto: Le acrobate. Drei kleine, dicke Turnerinnen. Zwei machen einen schiefen Handstand, die mittlere eine einhändige Brücke. Es fällt ihnen nicht ein, dass sie fallen könnten oder in ihrer Suche nach Lebendigkeit und Glück scheitern könnten

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Verstrickt

„Ich finde es unanständig, vorsichtig zu leben. Ich kann es nicht“ (Emmy Hennings). Ich bin kein Symbol, sondern eine Frau auf dem Weg zur Arbeit, die gerade noch einen Sitzplatz in der U-Bahn ergattert hat und sich nun erleichtert zurücklehnt und die Augen schließt. Dass sich der Wunsch nach Schönheit noch an den schrecklichsten Orten durchzusetzen vermag, erscheint mir heute Morgen das Rätselhafteste überhaupt. Wie ist es möglich, daran zu denken, dass etwas schön werden soll, wenn es doch eigentlich nur um das nackte Überleben geht? Die Mütze eines Gefangenen, selbst gehäkelt, steht mir plötzlich wieder lebhaft vor Augen, ein einfaches rundes Käppi von harmonischer, wenn auch längst verblasster Farbigkeit, vor dem ich auf einer Ausstellung über sowjetische Gulags lange

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