Bericht übt harsche Kritik an Coronapolitik

Published On: 10. Juli 2022 0:35

Veröffentlicht am 10. Juli 2022 von AS.

Ein interdisziplinärer Sachverständigenausschuss hat die deutsche Coronapolitik analysiert. Der Evaluationsbericht liegt seit Kurzem vor. Darin wird harsche Kritik an der Politik und dem Robert Koch-Institut (RKI) laut. Der Sachverständigenausschuss wurde im vergangenen Jahr mit dem Auftrag eingerichtet, die Corona-Massnahmen wissenschaftlich zu beurteilen. Ursprünglich sollte der Bericht bereits im Dezember 2021 vorliegen, wie die Politikerin Sahra Wagenknecht (Die Linke) bemerkt (siehe Video).

Demnach sind nach einem Artikel der Welt bereits die Grundlagen der Massnahmenpolitik unzureichend auf Daten abgestützt. Weiters wird die öffentliche Kommunikation und das Zustandekommen der Grundrechtseinschnitte bemängelt. Die positive Wirkung der meisten Massnahmen hätte sich nicht bestätigen lassen. Die mangelnde Datenlage hat gemäss Bericht entsprechend dazu geführt, nicht wissen zu können, wie es um die Wirksamkeit der Massnahmen bestellt ist. So heisst es auf Seite 27:

Während in anderen Ländern Möglichkeiten zur Einschätzung der Wirkung von NPI [nicht-pharmazeutische Massnahmen] genutzt wurden, ist eine koordinierte Begleitforschung während der Corona-Pandemie in Deutschland weitgehend unterblieben.

Die Wirkung vieler der verhängten Massnahmen sei nicht erforscht. Diese Lücke sei auch dem RKI bekannt, das bis heute diesbezüglich nichts unternommen habe. Das RKI erhebt seit dem 5. Mai 2022 die Wirksamkeit der «Impfung» nicht mehr in seinem Covid-19-Wochenbericht. Stattdessen sollen Auswirkungen künftig separat und «in grösseren Intervallen» eingeschätzt werden.

Der Evaluationsbericht hält fest, dass die «wissenschaftliche Begleitforschung (…) zu den unverzichtbaren Kernelementen einer jeden Krise» gehört. Die daraus entnehmbaren Erkenntnisse würden dazu dienen, zu evaluieren, ob Massnahmen wirksam sind.

Fehlende Kosten-Nutzen-Analyse

Eine Kosten-Nutzen-Analyse der Massnahmen wurde nie durchgeführt. Eigentlich ist dies zwingend erforderlich in allen möglichen Situationen, wo folgenreiche Entscheidungen gefällt werden. Erst recht, wenn es um umfassende Grundrechtsbeschneidungen geht. Die Wirksamkeit der Impfung und der einrichtungsbezogenen Impfpflicht sei ebenso nicht bewertet worden, heisst es im Bericht. Dieses Unterfangen ist gemäss Aussage des Sachverständigenausschusses zu komplex.

Mit der lapidaren Aussage, die Erfassung sei zu komplex, können sich Politik und Behörden ihrer Verantwortung entziehen. Verhängte Massnahmen enden im Blindflug, es entsteht ein reines Glaubenskonstrukt, mit dem allenfalls begangene Fehler vertuscht und nicht zukunftsgerichtet verbessert werden können.

Auch zu verschiedenen Lockdown-Massnahmen, zum Beispiel Ausgangssperren und Geschäftsschliessungen, sei ein abschliessendes Urteil nicht möglich – sprich welche Massnahme was konkret genützt hat. In Innenräumen könne es sinnvoll sein, eine Maske zu tragen. Allerdings (Seite 103):

Eine generelle Empfehlung zum Tragen von FFP2-Masken ist aus den bisherigen Daten nicht ableitbar.

Es überrascht nicht, dass keine adäquate Bewertung zu vielen der verhängten Massnahmen vorgenommen werden kann, wenn die Daten dazu nicht vorliegen und deren Erhebung sogar von den Behörden aktiv nicht gewünscht ist.

Es scheint so, dass sie kein Interesse daran haben, ihr Handeln evidenzbasiert abzustützen und auszurichten. Der Verdacht liegt nahe, dass erhobene Daten das bisherige politische Handeln de­le­gi­ti­mie­ren könnten, was bedeuten würde, dass die Durchsetzung zahlreicher Massnahmen nicht gerechtfertigt ist, weil die sachliche Grundlage fehlt.

Kritik an der Rollenverteilung

Auf dem Papier seien die Zuständigkeiten und Aufgaben zwischen dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG), dem RKI, dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) klar geregelt. In der Praxis wurde dies laut den Sachverständigen aber nicht umgesetzt, was zum fragwürdigen rechtlichen Zustandekommen der Massnahmen führte.

Wie der Bericht festhält, war die «Bund-Länder-Runde» häufig de facto die Entscheidungsinstanz über einzelne Massnahmen. Diese bestand aus den Ministerpräsidenten der Länder und der Bundeskanzlerin Angela Merkel. Dieses Gremium sei nicht im Grundgesetz verankert und auch nicht parlamentarisch legitimiert. «Es tagte hinter verschlossenen Türen und tat dann nach Ende seiner Beratungen der Öffentlichkeit deren Ergebnisse kund.»

Man könnte sagen, dass es sich dabei um eine exekutive Machtkonzentration handelte, was aus Sicht der Gewaltenteilung höchst problematisch ist. Seit Beginn der Corona-Krise seien viele Beratungsgremien und Expertenräte eingesetzt worden, über deren Zusammensetzung wenig bekannt war. Seite 57:

In diesem klassischen Fall einer reinen Top-down-Kommunikation fehlte naturgemäss alles, was bei parlamentarischer Beratung selbstverständlich gewesen wäre: der öffentliche Austausch von Argumenten, das Vortragen von Begründungen, die Gegenüberstellung kontroverser Positionen sowie die Präsentation von Alternativen.

Die bestehende Verordnungsermächtigung hält der Bericht für verfassungswidrig, da sie dem BMG erlauben, Gesetze vielfältig durch Ausnahmen zu umgehen. Bezüglich «Bundesnotbremse» wird festgehalten, dass die Folgeprobleme verfassungspolitisch so gravierend seien, «dass eine Wiederholung dieses Regelungsregimes nicht empfohlen werden kann».

Fehlgeleitete Kommunikation

Abweichende Meinungen seien in der Corona-Krise oft vorschnell verurteilt worden. Dies trage langfristig kaum zu einer erfolgreichen Pandemiebewältigung bei. Seite 63:

Wer alternative Lösungsvorschläge und Denkansätze vorschlug, wurde nicht selten ohne ausreichenden Diskurs ins Abseits gestellt. (…) Begreift man Kontroversen in der Krisensituation nicht als Hindernis, sondern als Chance, trägt dies zur konstruktiven, respektvollen und im demokratischen System unumgänglichen Debatte bei.

Die Politik habe zur Verwirrung beigetragen, indem sie sich immer wieder auf neue Kennzahlen berief, um Massnahmen zu beschliessen. Diesen fehle häufig die Relevanz für das Infektionsgeschehen. So würden Inzidenzwerte nichts über die Gefährlichkeit von Covid-19 aussagen.

Zweifelhafte Unabhängigkeit

Der Sachverständigenausschuss wurde von der Regierung und vom Parlament selbst zusammengestellt (wir berichteten). Die Kontrollierten haben also ihre Kontrolleure selbst ausgesucht, was Fragen zur Unabhängigkeit der Sachverständigen aufwirft. Bis März war auch Christian Drosten, Virologe der Berliner Charité, dabei, der sich angesichts der Datenlage und der personellen Ausstattung gegen die Evaluierung einzelner Massnahmen ausgesprochen hatte.

Übrig bleibt ein Bericht, der zu den Wirkungen vieler Massnahmen kaum neue Einsichten bringt, sondern immer wieder auf die mangelnde Datenlage hinweist. Er droht selbst zum Politikum zu werden und verwässert eine dringende Untersuchung zu den Massnahmen, die nicht nur scheinbar Kritik darstellt. Ausserdem betreffen die berechtigten Kritikpunkte im Bericht meistens Problemfelder, bei denen die negativen Auswirkungen ohnehin längst klar sein dürften, etwa bei der eingeengten Debatte oder der Machtfülle von nicht gesetzesmässigen Gremien.