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„Ich schäme mich nicht, Russe zu sein“

Published On: 9. August 2022 5:59

Am Freitag, 22. Juli, unterzeichnete Russland die Vereinbarung, Getreideexporte aus der Ukraine nicht zu behindern und ukrainische Häfen nicht anzugreifen. Am Samstag früh beschoss Russland den Hafen von Odessa. Dann bestritt die russische Führung, Odessa beschossen zu haben. Dann behauptete sie, man habe ein Kriegsschiff und ein Lager mit Harpoon-Raketen vernichtet, als würde es, selbst wenn es so wäre, den Vertragsbruch rechtfertigen.

Dass Russland Verträge bricht, ist nicht neu. Dass es solche schließt ohne die geringste Absicht, sich daran zu halten, dürfte inzwischen den meisten internationalen Akteuren klargeworden sein. Jeden einzelnen Angriff auf zivile Ziele, sei es auf das Theater in Mariupol, das Stadtzentrum von Winnizja oder das Einkaufszentrum in Krementschuk, hat Russland damit begründet, militärische Objekte zerstört zu haben.

Jedes ukrainische Kind scheint für Russland ein militärisches Objekt zu sein. Man fragt sich allerdings, welchen Zweck der Angriff auf den Hafen von Odessa genau haben könnte.

Russland kann die besetzten Gebiete gerade nur mit großer Mühe halten, das ukrainische Militär setzt moderne westliche Waffen gegen russische Munitionslager und Versorgungsinfrastruktur offenbar sehr effizient ein. Bei Cherson wurden über tausend russische Soldaten eingekesselt. Es scheint nur eine Frage der Zeit und der Waffenlieferungen, bis die ukrainischen Streitkräfte eine Gegenoffensive starten, die gemäß vielen Analysen durchaus erfolgreich sein kann.

Militärisch ist die Befreiung von zumindest einigen besetzten Gebieten wohl kaum abzuwenden, also versucht Russland, sie durch eine „diplomatische Lösung“ zu verhindern, für die seine Lobbyisten und Sympathisanten nun unermüdlich werben. Der sächsische Ministerpräsident Kretschmer hat das russische Bestreben wohl am treffendsten mit seinem Vorschlag artikuliert, der Konflikt solle eingefroren werden.

Dafür müsste Russland aber zumindest für einen kurzen Augenblick vortäuschen, es sei vertragsfähig. Stattdessen führt es genau das Gegenteil vor.

Große Unterstützung für den Krieg

Man wundert sich, welche strategischen oder taktischen Vorteile diese Heimtücke Russland bringen könnte, und findet beim besten Willen keine. Selbstschädigendes Handeln ist längst zum Markenzeichen des russischen Regimes geworden, entsprechend groß ist die Versuchung, diese extreme Dreistigkeit als seine spezielle Eigenschaft zu betrachten.

Die russische Bevölkerung scheint sie aber nicht zu stören. Alle jüngsten Meinungsumfragen, sowohl die veröffentlichten des relativ unabhängigen Lewada-Zentrums als auch die geleakten des staatlichen Wziom, zeigen eine große Unterstützung für den Krieg, die Zahlen liegen zwischen 57 und 75 Prozent.

Prominente russische Soziologen und Analytiker aus dem liberalen Lager führen das auf die propagandistische Beschallung und die brutale Unterdrückung der Bevölkerung durch das Regime zurück. Oppositionelle, wie etwa Alexei Nawalny oder Ilja Jaschin, bezeichnen Russland gern als ein „besetztes Land“ und beschimpfen das Regime als „Okkupanten“, als wären Putin und seine Schergen, von denen es allein in den Gewaltorganen nach den letztmals 2018 veröffentlichten Zahlen mindestens 2,6 Millionen gibt, Außerirdische, eine fremde Macht, die mit dem eigentlichen Russland nichts zu tun hat.

Das ist eine beruhigende Vorstellung, die die russische Bevölkerung von der Last der Mitverantwortung befreit. „Zu unser aller Bedauern haben die Russen nichts besonders Bösartiges an sich, denn dann würde es ausreichen, sie einfach zu isolieren, eine hohe Mauer zu bauen und den Planeten sicher vor ihnen zu schützen. Leider sind nicht die Russen das Problem. Das Problem ist, dass Wladimir Putin allzu gut verstanden hat, wie die moderne Welt funktioniert – er hat die Schwächen und Hebel erkannt, die man bedienen muss, um sie zu lenken“, schrieb der russische Philosoph Grigori Judin in einem Essay unter dem Titel „Ein anderes Russland ist möglich“ in der NZZ.

„Wir schämen uns nicht“

Das populäre russische Nachrichtenportal Meduza mit Redaktionssitz im lettischen Riga interpretierte den Essay nicht etwa als Analyse der Komplizenschaft von Leuten wie Gerhard Schröder, sondern als einen kompletten Freispruch und publizierte es auf Russisch mit dem Titel „Sorry, mit den Russen hat es nichts zu tun. Über die moralische Verantwortung der westlichen Führung für den Krieg in der Ukraine“.

Diese Stimmung liegt in der russischen Luft. Der kleinere liberale Teil der Gesellschaft lechzt nach einer Absolution für sich selbst und die Russen im Ganzen, während der wenig liberale Rest strotzt vor Selbstzufriedenheit und Stolz. Die sozialen Netzwerke sind voll mit Texten, Memes und Videos mit dem Hashtag „Wir schämen uns nicht“; den Spruch gibt es häufig als T-Shirt-Motiv oder Autoaufkleber.

Diese Dinge sind nicht erst in den Monaten der Invasion entstanden, doch spätestens nach dem 24. Februar wurde Schamlosigkeit offiziell zu einem zentralen Teil der Staatsdoktrin. „Jemand, der sich schämt, Russe zu sein, ist keiner“, erklärte Putins Sprecher Dmitri Peskow kurz nach dem Beginn der russischen Großoffensive. Große und kleine kremltreue Medien widmeten dem Thema unzählige Kolumnen und Talkshows.

Die Botschaft findet viel Zuspruch und inspiriert kreative Geister. Der eher in Nischen bekannte Barde Dmitri Lik etwa veröffentlichte auf dem Streamingdienst Spotify (welcher sich ironischerweise aus Russland bereits zurückgezogen hat) einen Song mit dem Titel „Ich schäme mich nicht, Russe zu sein“.

Der ungleich populärere Pop-Sänger Shaman wartete erst vor einigen Tagen mit einem Video auf, wo er „Ich bin Russe, der ganzen Welt zum Trotz“ brüllt und dabei durch eine ikonische ukrainische Landschaft schlendert: ein gelbes Weizenfeld unter blauem Himmel; ein Schelm, wer dabei Böses denkt. In nur vier Tagen hat das Video über drei Millionen Aufrufe auf Youtube und etwa 50 000 meist begeisterte Kommentare ausgelöst.

Der hurrapatriotische Schlager kommt auch deswegen so gut an, weil er ein anderes wichtiges Element der russischen Selbstwahrnehmung bedient. Ein Russe zu sein, bedeutet, seine Kraft, seine geradezu übermenschliche Stärke aus der Natur zu schöpfen, aus den an Schätzen reichen Tiefen von Russlands Erde und seinen unendlichen, buchstäblich grenzenlosen Weiten.

„Russlands Grenzen enden nie“, erklärte Russlands Herrscher Putin schon im Jahr 2016. Laut etlichen Untersuchungen betrachten sich die meisten Russen als anderen Völkern überlegen. Der ehemalige russische Kulturminister Wladimir Medinski behauptete einst allen Ernstes, die Russen hätten ein zusätzliches Chromosom.

Doch meistens speist sich der russische Größenwahn nicht aus Vulgärgenetik, sondern vielmehr aus dem fast schon heidnischen Glauben, ein Teil des Naturphänomens zu sein. In diesem Bild muss Russland immer größer werden, und seine Bodenschätze, etwa das Gas, sind keine Ware, sondern eine Art Lebenselixier: Wir haben es qua Natur, und die anderen können nicht ohne und sind auf uns angewiesen.

Diese Ideen sind keine Erfindung Putins und seiner Umgebung: Man kann sie bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen, sie spielten eine wichtige Rolle in der sowjetischen Ideologie und kommen in der offiziell gebilligten Kunst genauso zum Ausdruck wie in der Trivialliteratur, in Internet-Memes oder in der Folklore.

Noch im Mai beteuerte Außenminister Lawrow, Russland strebe keinen Machtwechsel in der Ukraine an. Am 24. Juli erklärte er schließlich, genau das sei das Ziel der russischen Invasion: „Wir helfen dem ukrainischen Volk, sich von diesem volks- und geschichtsfeindlichen Regime zu befreien.“

Der notorische Lügner hat dabei mehr Wahrheit verraten, als ihm bewusst sein dürfte. Das russische Regime sieht sich ja auch nicht ganz zu Unrecht selbst als Befreier. Es hat die russische Bevölkerung von der Scham befreit sowie von der lästigen Notwendigkeit, sich irgendwelchen Normen und Gesetzen zu beugen.

Die Russen können sich unter Putin ungehindert und ungeniert ihrer selbst ergötzen. Dieses Geschenk will das Regime auch den Ukrainern machen, die es ohnehin als vom Westen verwirrte Russen betrachtet, und hört dabei nicht auf, sich zu wundern, wie jemand auf diese Freiheit, auf diese Überlegenheit, auf diese grenzenlose Macht freiwillig verzichten kann.

Nikolai Klimeniouk wurde 1970 in Sewastopol auf der Krim geboren und lebt heute als freier Autor in Berlin. Dieser Beitrag ist ursprünglich am 2.8.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung

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