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Kaum Hoffnung auf innere Demokratisierung

Published On: 9. August 2022 6:06

Meinungsumfragen zufolge sollen sechzig bis achtzig Prozent der russischen Bevölkerung Putins Krieg befürworten. Da die Demoskopie in Russland kaum besser funktioniert als die Demokratie, kann man zwar vermuten, dass sich viele Befragte nicht trauen, ihre wirkliche Meinung und eventuelle Ablehnung zu bekunden, doch bleibt der traurige Befund einer verblendeten kriegerischen Mehrheit. Die ins Exil gegangen sind, gelten ihnen als feige Landesverräter.

Das Ansehen der Russen und Russinnen in der (westlichen) Welt ist tief gesunken, ganz gleich, ob Putin seine am Ende unvermeidliche Niederlage durch extensive Stellungskriege hinauszögert oder er seine Kriegsziele auf andere „Einflusszonen“ ausweitet. In beiden Fällen hat Putin ein weitgehend zerstörtes Land hinterlassen, mit Hekatomben von Toten, darunter ethnische Russen.

Seine Armee hat nachweislich Völkermord begangen in Gestalt von summarischen Erschießungen von Zivilisten, systematischer sexualisierter Gewalt, Folterungen und Deportationen, darunter von Minderjährigen. Ins Gewicht fallen wird auch die systematische Zerstörung von Kirchen, Kulturstätten und Kulturgütern, und nicht zuletzt die Auslösung einer weltweiten Hungerkrise. Das Resümee wird lauten: Russland ist Feind der Menschheit geworden.

Ein Abgrund hat sich aufgetan

Eine derart katastrophale moralische Bilanz haben nur die Deutschen nach 1945 für sich ziehen müssen. Insofern lohnt sich ein Vergleich, wie sie in der „Stunde Null“ angesehen wurden, als sie nach der bedingungslosen Kapitulation materiell wie moralisch kompromittiert waren.

„Ein „Abgrund (hat) sich zwischen Deutschland, dem Land unserer Väter und Meister, und der gesitteten Welt aufgetan“, beschrieb Thomas Mann die deutsche Lage am 10. Mai 1945 in seiner vorletzten der berühmten Radioansprachen, die er im amerikanischen Exil von Los Angeles aus an seine Landsleute gehalten hatte. Den Zusammenbruch des Deutschen Reichs, den Mann damals schon eine „Befreiung“ nannte, rückte der Literaturnobelpreisträger in eine geistesgeschichtliche Kontinuität ein. In der „deutschen Innerlichkeit“, speziell jener der Reformation und Romantik, erkannte er geistige Steinbrüche des Nationalsozialismus.

Thomas Mann drückte kein Mitleid aus, wollte aber auch kein überheblicher Richter sein. Denn mit dem „altertümlich-neurotischen Untergrund“ dieser Geschichte fühlte sich der damals am „Doktor Faustus“ arbeitende Schriftsteller auch persönlich verwandt – Adolf Hitler hatte er in der Reflexion seiner Künstlerexistenz einmal als seinen „Bruder“ tituliert. „Nichts von dem, was ich Ihnen über Deutschland zu sagen oder flüchtig mitzuteilen habe, kam aus fremdem, kühlem, unbeteiligtem Wissen; ich habe es auch in mir, ich habe alles am eigenen Leibe erfahren.“

Mann, belehrt durch die Erfahrungen im Exil in der westlichen Welt, verwarf den fatalen Freiheitsbegriff der Deutschen, in dem – wer denkt da nicht an die politischen Nihilisten von heute – ein „vertrotzter Individualismus“ mit einem „befremdeten Maß an Unfreiheit, Unmündigkeit, dumpfer Untertänigkeit“ einhergehe. Nur so sei das nationalsozialistische „Verbrechen aus weltfremdem Idealismus“ möglich geworden.

Kosmopolitische und paneuropäische Perspektiven auf eine „soziale Weltreform“ schlossen Manns Vortrag ab, den er am 29. Mai 1945 vor großem Auditorium hielt. Der Redner stufte ihn selbst als „halsbrecherisch“ ein, eine Befürchtung, die sich jedenfalls in der geharnischten Kritik daran aus Nachkriegsdeutschland bewahrheitete und eine jahrelange Polemik gegen den Exilanten mit amerikanischem Pass am Leben hielt, die ihn von seinem Land weiter entfernte. Verrisse kamen von allen Seiten.

In einem parallel erschienenen Aufsatz schrieb Mann dann: „Man fragt sich, wie überhaupt noch in Zukunft ‚Deutschland‘ in irgendeiner seiner Erscheinungen es sich soll herausnehmen dürfen, in menschlichen Angelegenheiten den Mund aufzumachen.“

Mann hatte, anders als andere aus dem Exil Heimkehrende, wenig Vertrauen in ein „anderes“, besseres Deutschland und fürchtete ein neues Revanchedenken wie nach dem Versailler Vertrag. So setzte er auch wenig Hoffnung in einen Lernprozess, den die Besiegten jedenfalls im Westen des Landes unter weit günstigeren Bedingungen, vor allem unter Ausnutzung des Gelegenheitsfensters des Kalten Kriegs, durchmachen konnten.

Was könnten russische Exilanten leisten?

Für einen kühlen Vergleich oder gar Analogieschluss auf die russische Lage heute fehlen noch die Grundlagen. Pessimisten sehen die dortigen politischen Eliten nicht als Opfer oder Geiseln Putins, sondern als seine Handlanger, die sich die aktuelle Radikalisierung des großrussischen Imperialismus zunutze machen.

Darüber, wo die Armee und Geheimdienste stehen und die diversen Oligarchenklubs, wird so wild spekuliert wie seinerzeit bei „Kreml-Astrologen“. Zusammen mit der noch kaum von den Sanktionen getroffenen Extraktionswirtschaft, den autoritären Traditionen einer „orientalischen Despotie“ sowie dem Einfluss der Orthodoxie bestünde da kaum eine Hoffnung auf eine innere Demokratisierung.

Welche Rolle kann da, wie im Falle Thomas Manns, die „Diaspora“ übernehmen? Im Exil leben viele russische Schriftsteller von Rang, die Putins Desaster kommunizieren und die bereits eingetretene Paria-Situation ihres Landes kritisch reflektieren. Sie denken wie Mann über die unheilvollen geistigen Traditionen nach, die in Jahrzehnten kontinuierlicher Unfreiheit in verschiedensten Gewändern emanzipatorische Ideen verkümmern ließen und völkisch-imperiale Fantasien beflügelt haben.

Bleibt am Ende die höchst vage Idee einer russischen Exilregierung in einer westlichen Hauptstadt. Kandidaten von Prominenz und Autorität drängen sich nicht auf, und solange ein Alexei Nawalny und andere Figuren der Opposition inhaftiert sind, käme man nur auf jemanden, der genauso ein unbeschriebenes Blatt ist wie Wladimir Putin kurz vor seiner Machtübernahme 2000.

Das Vorbild sind Exilregierungen der jüngeren Vergangenheit, deren ältester, der Rat der Weißruthenischen Republik (Belarus), seit 1919 besteht und deren relativ erfolgreichste aus den NS-besetzten Ländern während des Zweiten Weltkriegs in London angesiedelt waren, von wo aus Charles de Gaulle sein Charisma begründete und die Macht in Paris eroberte.

Doch ein De Gaulle ist derzeit nicht in Sicht. Die Überlegungen für die Zeit „danach“ – bei welchem militärischen Ausgang des Kriegs auch immer – richten sich zu Recht auf die Zukunft der Ukraine. Aber auch in deren Sinne ist es, die Zukunft Russlands einzubeziehen; die Stunde der wahren Russlandfreunde hat gerade erst begonnen. Für ihre Entschlossenheit gilt, was Thomas Mann im Oktober 1941 gehofft hatte und man auf Putin münzen kann: „Seid getrost! Hitlers Sieg ist ein leeres Wort: es gibt so etwas gar nicht, es liegt nicht im Bereich des Annehmbaren, Zulässigen, Denkbaren“, schrieb er im Oktober 1941.

Claus Leggewie ist Politikwissenschaftler und war 2021 Honorary Fellow des Thomas Mann House in Pacific Palisades. Zuletzt erschien seine Studie „Reparationen im Dreieck Algerien, Frankreich, Deutschland“ (Verlag Donata Kinzelbach).

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 6.8.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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