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Vergessene Opfer von Rassismus

Published On: 15. August 2022 16:23

„Weiße“ Menschen können keinen Rassismus erleiden? Vergesst nicht die Menschen aus Osteuropa

von Hans-Christian Petersen und Janis Panagiotidis

Die weltweite antirassistische Mobilisierung unter dem Motto „Black Lives Matter“ hat die Auseinandersetzung mit Rassismus auch in Deutschland verstärkt ins Zentrum öffentlicher und wissenschaftlicher Debatten gerückt. Dies ist im Sinne einer größeren Sichtbarkeit des Themas wie auch der von Rassismus betroffenen Menschen sehr zu begrüßen.

Rassismus wird hierbei jedoch häufig als ein „weißes“ Phänomen gedacht, dessen Objekte ausschließlich „People of Color“/BIPOCs (Black, Indigenous, People of Color) seien. Entsprechend könnten „weiße“ Menschen keinen Rassismus erleiden. Die Kategorien „schwarz“ und „weiß“ beziehen sich hierbei im Verständnis der Critical Whiteness Studies (auch als Kritische Weißseinsforschung bezeichnet) nicht auf Äußerlichkeiten (Hautfarben), sondern bezeichnen Zuschreibungen und gesellschaftliche Machtverhältnisse.

Ein solcher Begriff von Rassismus wirft verschiedene Fragen auf. Einerseits sind hautfarbenbezogene Äußerlichkeiten tatsächlich von entscheidender Bedeutung dafür, wer in der Gesellschaft rassistisch diskriminiert wird (Stichwort: „Racial Profiling“). Andererseits beschränkt sich rassistisches Denken nicht auf Farbkategorien. Durch die Reduzierung auf diese Dimension werden all jene Opfer von Rassismus ausgeschlossen, deren gesellschaftliche Positionierung nicht dieser Dichotomie entspricht.

Das wichtigste Beispiel hierfür sind Menschen aus dem östlichen Europa, die fast die Hälfte aller in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund ausmachen. Ihre Erfahrungen mit Diskriminierung und Rassismus in Deutschland stellen in der bisherigen Debatte einen weitgehend blinden Fleck dar.

Definition: Antiosteuropäischer Rassismus

Antiosteuropäischer Rassismus ist ein Bündel abwertender, essentialistischer Zuschreibungen zum geografischen Raum Osteuropa und seinen Menschen. Schon in der Aufklärung galt „Osteuropa“ im westlichen Denken als eine rückständige Zwischenwelt zwischen Okzident und Orient, als „Europe but not Europe“ (Larry Wolff). Ähnliche Befunde hat Maria Todorova zu Südosteuropa beziehungsweise dem „Balkan“ vorgelegt.

Im pseudo-wissenschaftlichen rassistischen Diskurs, der sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte, wurden speziell die „Slawen“ als eine eigene „Rasse“ konstruiert, deren „Weißsein“ zwar nicht in Frage stand, die aber dennoch als minderwertig konstruiert wurden. Der Rassismus gegen Menschen aus Osteuropa wird daher auch häufig als „antislawischer“ Rassismus oder „Antislawismus“ bezeichnet.

„Der Osten“ in der deutschen Geschichte

Deutschland stellt aufgrund seiner langen Verflechtungs- und Expansionsgeschichte mit und im östlichen Europa einen besonders relevanten Fall dar. Kolonialismus – nach den gängigen Definitionen der zentrale Kontext für die Entwicklung rassistischen Denkens – spielte sich in der deutschen Geschichte großenteils in Osteuropa ab. Ein abwertender, hierarchisierender Blick bildete eine Konstante des deutschen Diskurses im „langen“ 19. Jahrhundert.

Prominentes Beispiel sind die zutiefst kolonialen Diskurse in den Debatten in der Frankfurter Paulskirche 1848/49: Ausgehend von der Frage der Stellung Posens und Böhmens in einem zukünftigen Deutschen Reich wurde von einer großen, fraktionsübergreifenden Mehrheit über einen viel weitergehenden, bis ans Schwarze Meer reichenden, „deutschen Osten“ debattiert, den es in einer mission civilisatrice zu erobern und zu beherrschen gelte. Ein anderes, breitenwirksames Beispiel ist Gustav Freytags Erfolgsroman „Soll und Haben“ (1855), der stereotype Bilder desorganisierter, chaotischer und zu effektivem ökonomischem Handeln unfähiger polnischer Menschen in der kollektiven Wahrnehmung verankerte.

Der deutsche Blick nach Osten radikalisierte und rassifizierte sich im Kaiserreich. Das restriktive Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 sollte unerwünschte Zuwanderung aus dem östlichen Europa an der Einbürgerung verhindern. Auch die germanisierende Siedlungspolitik in den polnischen Teilungsgebieten Preußens („Ostmark“) war Ausdruck des zunehmend kolonialen deutschen Verhältnisses zum „Osten“, genauso wie das „Land Ober Ost“ im Ersten Weltkrieg und der in der Weimarer Zeit propagierte „Grenzkolonialismus“ sowie die „Grenzlandarbeit“. Die Radikalisierung des Antislawismus geschah hierbei im Zusammenspiel mit anderen Diskriminierungsformen gegen Menschen aus Osteuropa, insbesondere dem Antisemitismus (in dem auch Feindbilder der „Ostjuden“ und des „jüdischen Bolschewismus“ eine gewichtige Rolle spielten) und dem Antiziganismus.

Der Vernichtungskrieg im Osten und der „Generalplan Ost“ des NS-Regimes stellten den negativen Höhepunkt solcher rassistischen Hierarchisierungen und Expansionsprojekte dar. Neben der jüdischen Bevölkerung, die in der Shoah fast vollständig vernichtet wurde, war der slawischen Bevölkerung die Rolle von rassisch minderwertigen Sklaven zugewiesen („slawische Untermenschen“). Erinnert sei nur an die Blockade Leningrads: Mehr als eine Million Menschen verhungerten und erfroren in der Stadt, weil sie aus Sicht der Deutschen „überflüssige Esser“ waren. Ein anderes Beispiel ist die rassistische Behandlung der Millionen „Ostarbeiter“, die im Deutschen Reich unter unmenschlichen Bedingungen Zwangsarbeit verrichteten, durch den Aufnäher „Ost“ stigmatisiert wurden und denen es verboten war, sexuelle Beziehungen mit der „arischen“ Bevölkerung einzugehen.

Keine „Stunde Null“

Die gezielt gegen Osteuropa gerichtete Komponente des Antikommunismus in der Zeit des Kalten Kriegs sowie Abwertungen von osteuropäischen Zuwandererungsgruppen, die vor allem nach 1989 eine erneute Konjunktur erlebten („Polenwitze“), zeigen an, dass antislawischer und antiosteuropäischer Rassismus nicht mit dem Untergang des Nationalsozialismus endeten. Die nach dem Ende des Kalten Kriegs vorhandene Furcht vor massenhafter Zuwanderung aus Osteuropa ist auch in Kontinuität solcher Ressentiments zu sehen und führte mit dazu, dass die Menschen der seit 2004 zur EU gehörenden baltischen und ostmitteleuropäischen Staaten erst nach der maximal siebenjährigen Übergangsfrist in die meisten EU-Länder, darunter allen voran Deutschland, freizügig einreisen durften. Vor dem antiöstlichen Ressentiment waren hierbei auch die vermeintlich privilegierten Migrationsgruppen der ethnisch deutschen Spätaussiedler und jüdischen Kontingentflüchtlinge nicht gefeit.

Auch sie erlebten berufliche Dequalifizierung und fanden und finden sich in der deutschen Arbeitshierarchie weit unten in der Lagerlogistik oder als Pflege- oder Reinigungskräfte wieder. Sie erfuhren Diskriminierung aufgrund ihres Akzents, ihrer Nachnamen oder weil zuhause anders gekocht wurde und bekamen im Zweifelsfall die Wohnung nicht, für die sie sich bewarben. Solche Erfahrungen von Abwertung verbinden sie mit anderen migrantischen Gruppen und Menschen in der Bundesrepublik.

Antislawischer Rassismus in Zeiten des Kriegs

Der am 24. Februar 2022 begonnene Interner Link: Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat dem Thema des Antislawismus erhöhte Aufmerksamkeit verschafft. Einerseits gab es seit Kriegsbeginn eine Häufung von Vorfällen, bei denen russischsprachige Menschen, häufig fälschlicherweise, als „Russen“ adressiert und kollektiv für den Krieg in der Ukraine verantwortlich gemacht wurden. Auf der anderen Seite gibt es eine gezielte Instrumentalisierung solcher Fälle: Sowohl bei den nationalistischen Pro-Putin-Autokorsos als auch auf der Homepage der russischen Botschaft in Deutschland wird der Eindruck erweckt, alle russischsprachigen Menschen in Deutschland würden diskriminiert. Zugleich werden das mangelnde Wissen der deutschen Öffentlichkeit über Osteuropa und der fehlende Respekt für die eigenständigen Interessen seiner Menschen, insbesondere der angegriffenen Ukraine, als Kontinuität kolonialen Denkens interpretiert.

Für Osterweiterung der Rassismusdebatte

Ein historisch adäquater und nicht ausschließender Umgang mit dem Thema „Rassismus“ müsste bestehende Essentialismen und Dichotomien überwinden und einen Konsens darüber etablieren, dass es nicht um Erinnerungs- oder Opferkonkurrenz gehen darf. Verschiedene rassistische Kategorien und Praktiken müssen mit ihren jeweiligen spezifischen Eigenschaften analysiert werden.

Gerade den Rassismus gegen Menschen aus Osteuropa müssen wir dabei sehr ernst nehmen – ein „Rassismus gegen Weiße“, der die Menschen nicht trifft, weil sie „weiß“ sind, sondern weil andere rassistische Hierarchisierungen äußerlich „weiße“ Menschen treffen. Deshalb erscheint uns der Blick auf das Nachwirken des kolonialen Erbes im östlichen Europa – eine „Osterweiterung der Erinnerung“ (Mark Terkessidis) und damit auch der Rassismusdebatte – als überfällig und dringend notwendig.

Hans-Christian Petersen ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa und Dozent an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Janis Panagiotidis ist wissenschaftlicher Geschäftsführer des Forschungszentrums für die Geschichte von Transformationen (RECET) an der Universität Wien.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 8.7.2022 erschienen auf der Webseite der Bundeszentrale für Politische Bildung. Wir danken den Autoren und der Bundeszentrale für die Erlaubnis, den Text auch auf KARENINA zu veröffentlichen.

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