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Tschechien: Warten auf den Wandel in Moskau

Published On: 5. September 2022 19:39

Russland hat mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine den Rahmen der internationalen Normen verlassen. Putins Kriegsführung und die Drohung, Nuklearwaffen einzusetzen, zeigen, dass er zu fast jedem Zivilisationsbruch bereit ist. Damit hat er viele seine langjährigen Unterstützer in den mittel- und osteuropäischen Ländern gegen sich aufgebracht.

Der Versuch, mit militärischer Gewalt die territoriale und politische Realität neu zu ordnen, stellt eine Tragödie für das ukrainische und das russische Volk dar, die seit dem Zweiten Weltkrieg keinen Vergleich hat. Selbst die sowjetische Führung hatte sich an die Vereinbarungen der Helsinki-Schlussakte zum Gewaltverzicht und zur Wahrung der Grenzen gehalten. Bis zum 24. Februar 2022 bildeten diese Vereinbarungen die Grundlage der europäischen Sicherheitsordnung.

Die russische Aggression wurde mit dem Verweis auf Fehler oder die angeblich böswillige Politik des Westens zu legitimieren versucht. Typischerweise stützen sich die Verteidiger Putins auf die Behauptung, der Westen (James Baker, Hans-Dietrich Genscher u. a.) hätte 1990 versprochen, dass die Nato sich nicht nach Osten erweitern würde.

Aus tschechischer Sicht ist diese Behauptung seltsam. Nicht die Nato-Erweiterung, sondern der Erhalt des Warschauer Pakts war 1990 das Ziel der Nato. Davon hing die Implementierung des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte (KSE) ab, den man zwischen 1973 und 1989 mühsam verhandelt hatte. Die tschechoslowakische Führung wurde deshalb aufgefordert, den Warschauer Pakt nicht zu verlassen.

Die Nato wurde hier nicht erwähnt, auch nicht im deutsch-tschechoslowakischen Vertrag vom 27. Februar 1992. Präsident Havel und Außenminister Dienstbier plädierten noch 1990 für die Auflösung beider Militärallianzen auf europäischem Gebiet.

Vorschläge für eine Erweiterung der KSZE wurden 1991 im Rahmen der „Prager Thesen“ vom deutschen Außenminister Genscher und seinem tschechoslowakischen Amtskollegen geäußert. Die Nato-Erweiterung stand zu dieser Zeit nicht zur Debatte. Die Konstellation hat sich allerdings mit dem Zerfall der UdSSR, dem Jugoslawienkrieg sowie dem Golfkrieg grundlegend geändert.

Offensichtlich gab es auf der Seite des Westens bzw. der USA einige echte Fehler, wie die Aufhebung von Rüstungskontrollverträgen wie den ABM-Vertrag, den KSE-Vertrag, den Open Skies- sowie den INF-Vertrag. Allerdings liefert das keine Begründung für den Einmarsch Russlands in die Ukraine. Die Nato-Erweiterung wurde seit 2000 in Absprache mit Russland vollzogen. Putin wollte die Anbindung einer neutralen Ukraine an die EU verhindern und rief damit die Maidan-Revolution ins Leben. Ihm ging es um weit mehr als einen neutralen Status der Ukraine.

Bei der Nato-Erweiterung ging es nicht primär um russische Sicherheitsinteressen, sondern um die russischen Einflusszone. Während die nationale Sicherheit ein legitimer Anspruch jedes Staats ist, damit auch für Russland, garantiert das Völkerrecht aus guten Gründen keinen Anspruch auf Einflusssphären.

Putins Freunde wenden sich ab

Durch den Krieg hat Putin mit Deutschland seinen wichtigsten und einflussreichsten Partner in Europa verloren. Die gut funktionierenden deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen wurden mit einem Schlag vernichtet.

Russland hat auch die meisten mittel- und osteuropäischen Staaten gegen sich aufgebracht. Die Beziehungen waren nach dem Zerfall der Sowjetunion ohnehin nie einfach. Sie waren belastet durch die Vergangenheit, die unterschiedlichen Transformationsdynamiken und verschiedene außenpolitische Orientierungen.

Das Hauptproblem Moskaus in den Beziehungen zu seinen Nachbarn war das geringe Maß an soft power im Verhältnis zur inneren und äußeren Gewaltbereitschaft Putins. Das hat die MOE-Staaten zunehmend entfremdet und alarmiert.

Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in:

WeltTrends

„Strategische Instabilitäten“

September 2022, Nr. 191

Potsdamer Wissenschaftsverlag

72 Seiten

Zeitschrift

5,80 Euro

ISBN 978-3-947802-661

Zum Verlag

Die Tschechische Republik ist ein gutes Beispiel dafür. Ihr Verhältnis zu Russland ist weniger historisch belastet als das polnisch-deutsche. Trotzdem wuchs mit dem russischen historischen Revisionismus die Entfremdung, vor allem mit der von oben gesteuerten Rehabilitierung Stalins. Die tschechisch-russische Historikerkommission konnte, ähnlich wie die deutsch-russische, in den letzten Jahren keine gemeinsamen Positionen entwickeln.

Dabei gab es in Tschechien genug Leute, die ein normales Verhältnis mit Russland wollten, und das selbst nach der Krim-Annexion und dem Krieg im Donbass. Die Öffentlichkeit war zersplittert durch die Migrationskrise und den Versuch der EU, eine Zwangsverteilung der Flüchtlinge durchzusetzen. Das Misstrauen gegenüber Angela Merkel war im Jahr 2018 höher (70 Prozent) als gegenüber Trump (67) oder gar Putin (66).

Präsident Zeman war immer ein Anhänger engerer Beziehungen zu Moskau, vor allem im wirtschaftlichen Bereich. Im politischen Bereich betonte er, wie auch der ehemalige Präsident Klaus, die nationale Souveränität und Eigenständigkeit. Zugleich war die Machtfülle der russischen und chinesischen Staatsführung für Zeman und Klaus attraktiv – jedenfalls äußerten sie nie Kritik an deren autokratischen Herrschaftsstil.

Ähnliche Positionen vertraten auch der ehemalige Ministerpräsident und der heutige Oppositionsführer Andrej Babiš und sein möglicher Koalitionspartner, die tschechische SPD. Aber auch Direkte Demokratie, die rechtsradikale Partei Freiheit sowie die kommunistische KSCM standen auf der Seite Putins. Interessanterweise gab es auch in der Demokratischen Bürgerpartei (ODS) und der christlich-sozialen KDU-ČSL nationalkonservative Kräfte, die mit dem Souveränismus, der Euroskepsis, sowie dem kulturellen Konservatismus von Putin, Orbán und Kaczyński sympathisierten.

Die wirtschaftlichen Beziehungen haben sich nach der Krim-Annexion fast halbiert. Der Anteil Russlands an tschechischen Importen ist vom 4,8 Prozent im Jahr 2007 auf 2,4 Prozent im Jahr 2019 gefallen.2 Der Anteil Russlands am tschechischen Außenhandel betrug im Jahre 2019 2,5 Prozent (Deutschlands 28,5 Prozent).

Tschechien in der politischen Zeitenwende

Tschechien trug die Sanktionen der EU gegen Russland – wie auch die gegen Belarus – uneingeschränkt mit. In der Öffentlichkeit fand ein symbolischer Kleinkrieg statt, zum Beispiel um ein Denkmal für den sowjetischen Marschall Konew. Ihren Tiefpunkt erlebten die tschechisch-russischen Beziehungen, nachdem russische Agenten für den Anschlag auf ein Munitionsdepot in Vrbětice verantwortlich gemacht wurden. Dabei starben 2014 zwei tschechische Bürger.

Die Regierung bemühte sich trotzdem immer wieder um einen Dialog mit Russland. Sie ernannte etwa Rudolf Jindrák, einen der angesehensten Diplomaten des Lands, zum Sonderbeauftragten für die Konsultationen mit Russland.

Das strukturelle Problem ist, dass Russland Tschechien für keinen eigenständigen Akteur hält. Nach den Vorstellungen der russischen Regierung sind nur wenige Großmächte wirklich souverän, alle anderen Staaten sind von den Großmächten abhängig und müssen sich anpassen.

So betrachtet Moskau die Tschechische Republik, ähnlich wie auch die anderen MOE-Staaten und die Ukraine, als Vasallen der USA. Putin möchte die Ukraine zu seinem Vasallen zu machen.

Seit Kriegsbeginn sind die Beziehungen völlig eingefroren, und die Bevölkerung unterstützt mehrheitlich die Position der Regierung: Nur 10 Prozent übernehmen völlig das russische Narrativ und unterstützen Russland im Krieg; für 19 Prozent sind die USA schuld am Krieg, für 14 Prozent ist es Ukraine. Dagegen missbilligen 81 Prozent den Krieg und 74 Prozent sehen Russland als schuldig an.

Die Tschechische Republik wird seit November 2021 von einer Anti-Babiš-Koalition aus fünf sehr unterschiedlichen Parteien geführt. Diese hat sich im vollen Umfang auf die Seite der Ukraine gestellt. So wie Deutschland braucht auch die Tschechische Republik eine Übergangsperiode, um unabhängig vom russischen Gas zu werden. Nicht nur eine vollständige politische, sondern auch eine wirtschaftliche Abkoppelung von Putins Russland wird auf den Weg gebracht. Da „Wandel durch Annäherung“ gescheitert ist, wird jetzt „Annäherung durch Wandel“ abgewartet. Inzwischen unterstützt Tschechien die Ukraine auch mit schweren Waffen.

Offensichtlich wird ein Verhandlungsweg gesucht, vorerst muss man jedoch Putins Feuerwalze stoppen. Das kann weder die russische Gesellschaft leisten noch können es die westlichen Mächte, da diese keinen atomaren Krieg riskieren wollen. Also müssen es die Ukrainer selbst machen, mit westlichen Waffen. Eine schlechte Alternative wäre eine Art Münchner Abkommen. Das letzte ebnete 1938 den Weg in den Zweiten Weltkrieg.

Die deutsche Rolle wird in Tschechien teils positiv, aber auch kritisch gesehen. In einer Zeitwende wünscht man sich keine deutsche militärische Führungsrolle, sondern dass Deutschland die Rolle einer „enabling power“ (Ermöglichungsmacht) spielen wird und mehr schwere Waffen in die Ukraine liefert. Die Interessen Deutschlands als eine nicht-nukleare Macht und Tschechiens sind weitgehend kompatibel und bieten viel Raum für Kooperation.

Beide müssen diesmal in Einvernehmen ein neues Münchner Abkommen ablehnen und die Souveränität der Ukraine verteidigen. Damit setzt man sich zugleich auch für ein anderes, normales Russland ein.

Vladimir Handl ist Politikwissenschaftler, Institut für Internationale Studien, Prag, und Dozent an der Karls-Universität Prag.

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