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Krieg gegen Kultur und Geschichte

Published On: 12. September 2022 18:27

Am 25. Februar, dem zweiten Tag des Kriegs in der Ukraine, verbrannten nach einem russischen Angriff auf die Stadt Tschernihiw 13 000 Akten des ukrainischen Staatssicherheitsarchivs, darunter 3000 Personalakten von Angestellten der sowjetischen Sonderdienste. Da nur ein kleiner Teil der Bestände digitalisiert war, ist das meiste für immer verloren. Forscher wie die deutsche Kulturwissenschafterin Aleida Assmann nehmen an, dass es sich um eine zielgerichtete Attacke handelte. In einer Diskussionsrunde der Robert-Havemann-Gesellschaft über das „Ukrainische Kulturerbe in Russlands Angriffskrieg“ sprach Assmann sogar von einem Genozid, hier in Form eines kombinierten Angriffs gegen die Menschen, ihre Geschichte und ihre Kultur.

Nach einer laufend aktualisierten Liste des ukrainischen Kulturministeriums wurden seit Kriegsbeginn mehr als 500 Kulturstätten beschädigt oder zerstört, darunter Sakralbauten, Museen, Bibliotheken, Denkmäler und antike Stätten. „Zigtausende Objekte werden gerade vernichtet, die vielleicht für immer verloren sind“, sagt der Ukrainer Andrij Kutnyi, Experte für historische Bauforschung. „Ganz abgesehen von den antiken Stätten auf der Krim, die durch die Annexion enteignet wurden.“

Kutnyi lebt seit vielen Jahren in Westeuropa und engagiert sich derzeit von Österreich aus für Initiativen zur Rettung von ukrainischem Kulturgut. In vielen Fällen ist es aber schon zu spät. Die Kyiv School of Economics schätzte den Schaden an Kulturinstitutionen Anfang August auf bereits rund 900 Millionen Dollar.

„Ein schmerzlicher Verlust im Frühjahr war die Zerstörung des Museums für Hrihori Skoworoda, den bedeutendsten Aufklärer der Ukraine“, erzählt Kutnyi. „Warum musste man es beschießen? Da ist keine Militäranlage weit und breit.“

Fünfzig Jahre existierte das Museum, ein nationales Kulturdenkmal, im Dorf Skoworodiniwka, unweit von Charkiw. Dieses Jahr waren anlässlich des 300. Geburtstags des Wanderphilosophen, den in der Ukraine jedes Kind kennt, Feiern geplant.

Am 7. Mai brannte das klassizistische Gebäude – das Sterbehaus Skoworodas – durch Brandbomben bis auf die Grundmauern nieder, einschließlich fast aller Objekte. „Ein Totalschaden“, betont Kutnyi. Wie ein Mahnmal ragte danach eine Statue des nachdenklich blickenden „ukrainischen Sokrates“ aus den verkohlten Trümmern.

Weltkulturerbe bedroht

Im Juni wurde in Swjatohirsk in der Nähe von Donezk die idyllisch, aber nahe der Front gelegene Klosteranlage „Zum Heiligen Entschlafen der Gottesmutter“ getroffen. Das Kloster aus dem 16. Jahrhundert, das dem Moskauer Patriarchat untersteht, wurde schwer beschädigt. Die über 100-jährige Allerheiligenkapelle mit Zwiebeltürmchen im russischen Stil, die größte Holzkirche der Ukraine, brannte lichterloh.

„Durch die dichten Wälder im nördlichen Teil“, hebt Kutnyi hervor, „besitzt unser Land eine schützenswerte Vielfalt an Holzarchitektur. Allein bei den Holzkirchen gibt es fünfzehn verschiedene Typen. Einige gehören zum Unesco-Weltkulturerbe. Jede Volksgruppe, jede Konfession hatte ihren eigenen Baustil.“

Die meisten Holzkirchen befinden sich in der ländlichen Westukraine und damit vorerst fern der Kampfhandlungen. Jedoch wurden in der Zentralukraine bereits einige der fragilen Gotteshäuser zerstört.

Am 7. März gingen sowohl die 160 Jahre alte Kirche „Zur gesegneten Jungfrau Maria“ bei Schitomir als auch die 1873 erbaute St.-Georg-Kirche im Dorf Saworitschi in der Nähe von Kiew in Flammen auf. „Unsere Gläubigen haben mit eigenen Augen gesehen, wie die russische Armee ein Geschoss direkt auf das Kirchendach gerichtet hat“, so wird Petro Kotjuk, Erzpriester von St. Georg, auf einer staatlichen Website zum Krieg zitiert. Mittlerweile haben mehr als 180 Kirchengebäude Schäden davongetragen.

Besonders dramatisch ist die Lage in der Millionenstadt Charkiw, die seit Kriegsbeginn fast ununterbrochen unter Beschuss steht. Charkiw ist nicht nur eine Perle des Jugendstils. Zwischen den Weltkriegen war es als temporäre Hauptstadt der Ukrainischen Sowjetrepublik ein Experimentierfeld für moderne Architektur. Mit dem Derschprom, einem Gebäudekomplex mit futuristisch wirkenden Verbindungsbrücken, entstand 1928 das erste Hochhaus der Sowjetunion.

„Das Derschprom besticht durch seine Ästhetik der reinen Struktur“, sagt Ievgenija Gubkina, eine Architekturhistorikerin, die Charkiw nach Kriegsbeginn verließ und inzwischen in London lebt. „Der federführende Architekt des Projekts, Sergei Serafimow, legte Wert darauf, dass Treppen, Korridore und Passagen ablesbar sind und nicht irgendwo verborgen im Inneren des Gebäudes.“

Charkiws Bausubstanz massiv zerstört

Das Wahrzeichen von Charkiw stehe leider noch immer nur auf der Tentativliste für das Unesco-Weltkulturerbe, wie viele ukrainische Kulturerbe-Objekte. „Die Unesco ist zu sehr auf Westeuropa fixiert“, sagt Gubkina. „Zu allem Überfluss hat Russland dieses Jahr den Vorsitz.“

In der Ukraine habe man jedenfalls seine Hausaufgaben gemacht und die sehr aufwendige Bewerbung für das Derschprom forciert. „Noch ist das Gebäude unversehrt. Aber es ist umgeben von denkmalgeschützten Gebäuden aus den zwanziger und dreißiger Jahren, die extrem gelitten haben.“

Gubkina erwähnt das Kulturhaus der Eisenbahner von 1929, das mitsamt Originaldekor sehr gut erhalten war, bis es nach zwei Angriffen total ausbrannte. Auch das für die Ukraine hochsymbolische „Slowo“-Haus, vor dem Zweiten Weltkrieg Zentrum der ukrainischen Literatur, wurde getroffen. Der Architekt Michail Daschkewitsch hatte das Schriftstellerhaus als Hybrid aus Jugendstil und Konstruktivismus entworfen.

Zerstört wurde auch die 1925 im ukrainischen Nationalstil erbaute Wirtschaftsfakultät der Staatsuniversität. „Dieser Bau war sehr wichtig für das Verständnis unserer Architektur“, unterstreicht Gubkina. „Auch das Gebäude des Regionalrats, ursprünglich ein modernistischer Entwurf des marxistischen Architekten Jakow Steinberg für die ukrainische Kommunistische Partei, wurde getroffen. Im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstört, hat man es in den fünfziger Jahren im Stil des sozialistischen Realismus wieder aufgebaut.“

Um diese Bau-Ikone ist im Zusammenhang mit dem vieldiskutierten Masterplan des Star-Architekten Norman Foster für Charkiw ein Streit entbrannt. „Foster möchte auf den erhaltenen Teil des Gebäudes eine Superstruktur aufsetzen, ähnlich wie beim Reichstag“, bemerkt Gubkina. „Ukrainische Architekten stellen sich jetzt dagegen. Übrigens wurde der Masterplan der Öffentlichkeit nie vorgestellt. Die Diskussion findet – völlig unangemessen – hinter verschlossenen Türen statt. Nur manchmal sickern Details durch.“

In Charkiw, dessen Bausubstanz schon zu einem Viertel zerstört sein soll, lebte bis zum Kriegsausbruch auch der Architekt Oleh Drosdov. Zwei Wochen später floh er mit seiner privaten Kharkiv School of Architecture nach Lwiw. Kürzlich ist Drosdov bei einem Besuch in seiner früheren Heimatstadt auch nach Saltiwka gefahren, ein zerbombtes Plattenbau-Viertel im Nordosten Charkiws mit eingestürzten Fassaden und zugenagelten Fenstern. Das Quartier, einst Heimat von 500 000 Menschen, liegt nah an der Frontlinie.

„Saltiwka ist so menschenleer, es ist surreal“, erzählt der Architekt. „Die Situation hat mich an Pripjat erinnert, die Satellitenstadt, die nach dem Atomunfall von Tschernobyl evakuiert werden musste. Man kann inzwischen überall die Zikaden hören.“

Aufbauarbeiten für die Nachkriegszeit

Inzwischen sind die Studenten für den neuen Jahrgang ausgewählt. Der Andrang war groß. „Es ist wohl jedem bewusst, was für gewaltige Aufgaben beim Wiederaufbau vor uns liegen“, sagt Drosdov. „Wir haben viel zu wenig Fachleute und müssen jetzt so viele lokale Experten wie möglich ausbilden.“

Eines der größten Problemfelder sind Flüchtlingsunterkünfte. Millionen Ukrainer sind aus den Kampfzonen in westliche Landesteile geflohen. Allein in Lwiw hat sich die Einwohnerzahl verdoppelt.

Zunächst haben Drosdov und seine Kollegen Pappbetten und Zonierungselemente für mehr Privatsphäre in großen Hallen entworfen. Inzwischen haben sie das Netzwerk Ro3kvit – was ungefähr „Aufblühen“ bedeutet – gegründet, an dem Architekten und Stadtplaner aus ganz Europa beteiligt sind. Gemeinsam sucht man nach nachhaltigen Lösungen. „In der Ukraine gibt es durch die verbreiteten Immobilienspekulationen viele leerstehende Wohnungen“, betont Drosdov. „Die sollten wir nutzen, statt neues Land zu bebauen.“

Der Niederländer Fulco Treffers, ebenfalls im Ro3kvit-Netzwerk dabei, ergänzt: „Übergangslösungen wie Container oder umgenutzte Eisenbahnwaggons haben einen großen Nachteil: Sie bleiben meistens für immer. Bei unseren Modellprojekten, die wir auch beim World Urban Forum Ende Juni vorgestellt haben, renovieren Freiwillige und Flüchtlinge gemeinsam leere Häuser. In Iwano-Frankiwsk haben wir auf diese Weise in nur sechs Wochen 64 Apartments wiederhergestellt.“

Treffers arbeitet schon seit 2015 an ukrainischen Projekten. Damals holte man ihn nach Mariupol, das nur wenige Kilometer vom Kampfgeschehen im Donbass entfernt lag. „Die Stadt war übervölkert und in ständiger Angst“, erzählt der Stadtplaner. „Viele waren traumatisiert. Die Wirtschaft war um 70 Prozent geschrumpft. Durch die zwei riesigen Fabriken in der Stadt, die zugleich die wichtigsten Arbeitgeber waren und immer weniger auf Nachhaltigkeit achteten, nahm die Umweltverschmutzung stetig zu.“

Treffers fing mit kleinen Schritten an, mit scheinbaren Trivialitäten wie der Einrichtung gepflegter öffentlicher WC, aber auch einem Stadtfestival und einem Traumazentrum. Natürlich machte die Invasion im Februar 2022 alles wieder zunichte. Doch gegenwärtig arbeitet Treffers im Auftrag des nach Saporischschja geflüchteten Stadtrats schon wieder an einer Strategie für das Nachkriegs-Mariupol. Sicher ist: Es wird viel getan werden müssen, um die Menschen in den entvölkerten Landstrich zurückzuholen.

Auch der Berliner Philipp Meuser, ein Architekt mit zwanzig Jahren Erfahrung im postsowjetischen Raum, engagiert sich bei Ro3kvit. Er ist zudem Mitglied im New European Bauhaus, das die Europäische Kommission zu Nachhaltigkeitsthemen in der Ukraine berät.

Wieder Leben nach Butscha bringen

Im ukrainischen Immobilienmarkt sieht Meuser großen Reformbedarf. „Das Bild ist seit der Einführung der Marktwirtschaft 1991 von turbokapitalistischen Strukturen geprägt“, sagt er. Zum Beispiel gebe es keine gemeinnützigen Baugenossenschaften. Öffentlicher Raum komme bei Planungen fast immer zu kurz.

Am Anfang des Wiederaufbaus stehe jedoch die Analyse: Welche Typologien von (vorfabrizierten) Häusern gibt es? Wie können die Produktionskapazitäten schnell gesteigert werden? Wie baut man mit wenig Energieaufwand? Für besonders wichtig hält er es, dass bei Wiederaufbauprojekten Ukrainer und andere Europäer paritätisch beteiligt sind.

Sein Architekturverlag DOM Publishers entwickelt derzeit mehrsprachige Handbücher und Architekturführer, die Wissen für alle Beteiligten bündeln und verfügbar machen sollen.

Vor ein paar Wochen haben Treffers und Drosdov gemeinsam mit dem stellvertretenden Bürgermeister von Butscha den Ort besichtigt, wo russische Soldaten im März Massaker an Hunderten Zivilisten verübten. „Es war sehr emotional“, sagt Treffers bewegt.

Der Kiewer Vorort war einst ein hübsches Mittelklassestädtchen mit urbanen Qualitäten, viel Grün und Sportmöglichkeiten. „Unsere Aufgabe ist es jetzt, wieder Leben nach Butscha zu bringen“, berichtet der Stadtplaner. „Ganz praktische Fragen müssen gelöst werden. Wo kommt die Arbeit her? Wie ist man ohne Auto mobil? Es geht nicht nur um Design und schnellen Wiederaufbau.“

Drosdov holt noch weiter aus: „Wir brauchen im ganzen Land demokratischere Entscheidungsprozesse zwischen Verwaltung und Bürgern, mehr Mitbestimmung. Auch an der Klimafrage und neuen Formen der Energieversorgung kommen wir nicht mehr vorbei. Wir müssen die Ukraine umfassend modernisieren. Dieser Krieg provoziert Veränderungen in alle Richtungen.“

Im Berliner DOM-Publishers-Verlag liegt bereits der Stadtführer über Kiew vor. Weitere Guides über Charkiw, Lwiw und Odessa sind in Planung. Außerdem werden in der Grundlagen-Reihe sieben Titel zum Wohnungsbau in der Ukraine mit Themenschwerpunkten wie Typologie, Baugeschichte, Wohnungspolitik und Wiederaufbaustrategien erscheinen.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 10.9.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung

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