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Russland ruft in einigen Regionen das Kriegsrecht aus

Published On: 19. Oktober 2022 19:00

Russland hat in den neuen und in den an sie angrenzenden Gebieten das volle oder teilweise Kriegsrecht ausgerufen. Offenbar erwartet Russland eine Eskalation und massive ukrainische Raketenangriffe auf zivile Ziele in den Gebieten.

Ich habe bereits berichtet, dass das Gebiet Cherson evakuiert wird und dass Russland in der Region mit einer massiven Offensive des ukrainischen Militärs rechnet. Offenbar ist die Befürchtung auf russischer Seite weniger, dass die ukrainische Armee dabei nennenswerte militärische Erfolge erringen könnte, vielmehr befürchtet man in Russland massive ukrainische Raketenangriffe auf zivile Ziele – und zwar nicht nur in Cherson, sondern auch in anderen Regionen Russlands.

Dass Russland massive Raketenangriffe befürchtet, hat neue Oberkommandierende der russischen Truppen im Konfliktgebiet, General Sergej Surowikin, bereits in dem mit ihm veröffentlichten Interview gesagt:

„Wir haben Informationen, dass das Kiewer Regime in der Region Cherson verbotene Kriegsmethoden anwenden könnte, dass Kiew einen massiven Raketenangriff auf den Staudamm des Wasserkraftwerks Kachowka und einen massiven Raketen- und Artillerieangriff auf die Stadt vorbereitet, ohne bei den Zielen wählerisch zu sein.

Diese Aktionen könnten zur Zerstörung der Infrastruktur des wichtigen Industriezentrums und zu schweren Opfern unter der Zivilbevölkerung führen.“

Die Staumauer des Kachowka-Wasserkraftwerkes wird von der Ukraine immer wieder mit Raketen beschossen. Ich habe das Kraftwerk im Sommer besucht, als es noch unbeschädigt war, und ich habe es bei meiner letzten Reise nach Cherson wieder gesehen. Die Staumauer, die auch als Straße über den Dnjepr fungiert, ist bereits sehr schwer beschädigt und für den Verkehr gesperrt. Bei weiterem Beschuss ist zu befürchten, dass die Staumauer bricht und eine Flutwelle die Ortschaften und Städte darunter überflutet. Russland befürchtet offenbar, dass Kiew die Staumauer zerstören will, weshalb das Gebiet, das von der darauf folgenden Flutwelle verwüstet würde, evakuiert wird. Es wird gemeldet, dass Russland derzeit möglichst viel Wasser aus dem Stausee ablässt, um die möglichen Folgen einer solchen Katastrophe zu minimieren.

Informationen aus erster Hand

Auf meiner Reise nach Cherson als Beobachter des Referendums habe ich den Vize-Gouverneur des Gebietes sehr gut kennengelernt und ich habe heute mit seinem engsten Mitarbeiter Kontakt aufgenommen. Der hat mir bestätigt, dass die Evakuierung des Gebietes Cherson auf Hochtouren läuft, dass aber nicht alle Einwohner evakuiert werden wollen und viele weiterhin normal ihrer Arbeit nachgehen. Es gebe keine Panik in der Zivilbevölkerung, die Evakuierung laufe – bis auf die Wartezeiten an Flussüberquerungen – problemlos.

Durch ukrainischen Beschuss wurden die beiden einzigen Möglichkeiten, den Dnjepr zu überqueren – die Antonov-Brücke und der Kachowka-Staudamm – unpassierbar, daher gibt es an den Stellen, an denen jetzt provisorische Fähren den Dnjepr überqueren, Staus und Wartezeiten. Von der Evakuierung sind die Regionen betroffen, die rechtseitig – also nördlich – des Dnjepr liegen. Das betrifft auch die Stadt Cherson.

Um die Evakuierung zu beschleunigen, wurde die Einreise in die betroffenen Gebiete verboten, was Zeit bei der Beladung der Fähren über den Dnjepr spart. Trotz des Beschusses der ukrainischen Armee, die in erster Linie auf zivile Ziele feuert, ist die Lage jedoch unter Kontrolle, wenn auch sehr schwierig.

Kriegsrecht ausgerufen

Am 19. Oktober ist der russische Sicherheitsrat zusammengetreten und Präsident Putin hat in einer Ansprache die Ausrufung des Kriegsrechts in den vier neuen russischen Regionen Lugansk, Donezk, Saporoschje und Cherson verkündet. Die Maßnahmen, die dort nun von den Behörden verhängt werden können, sind unter anderem: Ausgangssperre, Militärzensur, ein Verbot oder eine Beschränkung der Wahl des Wohnsitzes, ein Verbot, das Gebiet zu verlassen, verpflichtende zeitweise Umsiedlung, Verbot von Streiks und Demonstrationen, Beschlagnahme von Eigentum der Bürger zugunsten des Staates (wofür der Staat aber Entschädigungen zahlen wird), Abhören von Telefonaten und zwangsweise Beschäftigung von Bürgern in für die Verteidigung benötigten Bereichen.

Außerdem hat wurde ein teilweises Kriegsrecht („mittlerer Reaktionsmodus“) über die an diese Gebiete und an die Ukraine angrenzenden russischen Gebiete Krim, Sewastopol, das Gebiet Krasnodar, die Regionen Belgorod, Brjansk, Woronesch, Kursk und Rostow verhängt. Die Maßnahmen, die dort nun von den Behörden verhängt werden können, sind unter anderem: Eine strengere Überwachung der öffentlichen Ordnung, mögliche Sonderregelungen für den Betrieb von Verkehrs-, Energie- und Kommunikationseinrichtungen, eine Sonderregelung für die Ein- und Ausreise in das bzw. aus den Gebieten, eine mögliche Einschränkung der Bewegungsfreiheit innerhalb der Gebiete, Kontrolle von Kfz, erhöhte Sicherheitsbestimmungen für Einrichtungen des Transport- und Kommunikationssektors.

Dieses Bild zeigt die Regionen, in denen Kriegsrecht ausgerufen wurde. Rot bedeutet Kriegszustand, orange bedeutet mittlere Reaktionsstufe, gelb bedeutet erhöhte Bereitschaftsstufe und im restlichen Russland gilt die grundsätzliche Bereitschaftsstufe. In dem entsprechenden Dekret werden die möglichen Maßnahmen, die mit der Einführung der jeweiligen Stufen ermöglicht werden, genauer beschrieben.

All diese Maßnahmen können in den entsprechenden eingeführt werden, es muss jedoch nicht geschehen. Die Behörden vor Ort entscheiden aufgrund der Bedrohungslage selbst darüber, ob und welche Maßnahmen sie ergreifen. Bisher ist lediglich bekannt, dass für die Stadt Sewastopol Ein- und Ausreisekontrollen eingeführt wurden. Das bedeutet, dass an den Straßen, die aus der Stadt führen, Checkpoints eingerichtet worden sind. Da Sewastopol ein wichtiger Militärstützpunkt ist, dürfte das damit zusammenhängen.

Dass die Sorgen vor ukrainischem Beschuss von russischem Gebiet nicht unbegründet sind, zeigt sich daran, dass über Sewastopol eine ukrainische Drohne abgeschossen wurde. Außerdem wird die russische Stadt Belgorod, die nie zur Ukraine gehört hat, seit Wochen von der ukrainischen Armee beschossen, wobei es auch zivile Opfer gegeben hat.

Was bedeutet das?

Es ist verständlich, dass Russland wegen des ukrainischen Beschusses, der nicht nur die ehemals ukrainischen Gebiete trifft, sondern auch das russische Kernland und die Krim, besorgt ist.

Was die mit der Einführung des Kriegsrechts und der erhöhten Alarmbereitschaft einhergehenden Maßnahmen militärisch bedeuten, werden die nächsten Tage zeigen. Die westlichen Medien behaupten, Russland bereite sich auf eine Niederlage in Cherson und die Räumung des Gebietes, zumindest bis zum südlichen Ufer des Dnjepr, vor.

In Russland werden die Maßnahmen mit dem Schutz der Bevölkerung vor drohenden ukrainischen Angriffen mit effektiveren NATO-Raketen begründet. Nennenswerte ukrainische Erfolge auf dem Schlachtfeld werden zwar nicht ausgeschlossen, aber sie werden nicht erwartet, auch wenn General Surowikin die Lage in der Region als „sehr schwierig“ bezeichnet hat. Bisher jedenfalls konnte die russische Armee die täglichen Offensiven der ukrainischen Armee bisher alle zurückschlagen, wobei die ukrainische Armee hohe Verluste zu erleiden hat.

In den nächsten Tagen ist in jedem Fall eine militärische Eskalation zu erwarten. Ob die Ukraine dabei die Erfolge aus dem Gebiet Charkow wiederholen kann, oder ob die russische Armee die Angriffe zurückschlagen und sogar zum Gegenangriff übergehen wird, werden wir erleben.

Am besorgniserregendsten ist in jedem Fall die Aussicht, dass die Ukraine die Staumauer von Kachowka zerstören könnte und sich dann eine große Flutwelle den Dnjepr herunter bis in die Stadt Cherson ergießt.