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Endlich keine Angst mehr

Published On: 28. Oktober 2022 7:51

Andrej: Olga lebte in der Ukraine, in Kiew, ich in Russland, in Moskau. Kennengelernt haben wir uns in einem Moskauer Theater. Olga ist Schauspielerin, ich bin Marketingspezialist und Produzent. Ich habe viele Theateraufführungen gemacht, ich arbeitete im Kultursektor mit Theatern, Museen, großen Konzertsälen und allen Arten von Musik und Film. Ich hatte ein eigenes Unternehmen.

Olga: Wir haben uns auf der Abschlussveranstaltung des „Territorium“-Festivals im Gogol-Center kennengelernt.

Andrej: Am 8. Oktober 2013.

Olga: Es ging alles sehr schnell. Wir haben uns kennengelernt, am nächsten Tag trafen wir uns auf einen Kaffee, ich fuhr zurück nach Hause, und drei Tage später kam Andrej schon zu mir nach Kiew.

Andrej: Im Sommer 2015 haben wir in Lwiw geheiratet. 2014 hat Olga viel in der Ukraine gearbeitet. Oder auf der Ukraine? [Es geht um die korrekte Bezeichnung. „Auf“ heißt in etwa am Rand, ist abwertend; Red.]

Olga: In der Ukraine. Es heißt auf der Insel. Aber im Land.

Andrej: Ja, vor Kurzem hat man mich erst korrigiert, weil ich sagte: das Baltikum. Das ist auch so ein imperialistisches Wort. Es heißt korrekt die Baltischen Länder, so nennen sie sich selbst. Das ist interessant, das sind so Kleinigkeiten, die aus uns das machen, was wir sind. Ich habe selbst gar nicht darüber nachgedacht, bis man mich darauf aufmerksam machte.

Olga: Man muss den Imperialismus in sich selber ausrotten.

KARENINA-Serie

Flucht und Exil

Seit Februar 2022 sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine und zahlreiche russische Oppositionelle nach Deutschland geflüchtet. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Angst auf Moskauer Demonstrationen

Andrej: Meine Mutter ist Ukrainerin. Olga ist hundertprozentige Russin, aber sie kommt aus Mariupol, weil ihre Familie sich dort niedergelassen hat, sie haben dort als Ärzte gearbeitet.

Olga und ich sind auf die Demonstrationen in Moskau gegangen, als man noch auf die Straße gehen konnte. Es gibt ein Foto, wo wir beide drauf sind, Olga in einer Wychywanka [eine traditionell bestickte Bluse; Red.]. Was dann weiter kam, hat natürlich keiner erwartet. Das war beängstigend.

2014 fand ich erschreckend, aber ich wusste selbst nicht weswegen. Nach den Bolotnaja-Protesten 2011 war ich empört. Aber nach den Protesten von 2014 war ich erschrocken. Ich konnte das nicht wegreflektieren. Es machte mir Angst, dass da etwas in meinem Land völlig schieflief. Ich dachte nicht, dass uns jemand betrogen hatte, wie noch 2011. Ich habe einfach Angst gekriegt. Und 2014 wollte ich zum ersten Mal weggehen.

Seitdem habe ich acht Jahre lang Angst gehabt. Seit 2014 sagte mir mein Instinkt, dass ich hier abhauen muss, obwohl ich nicht wußte warum und wie.

2015 beschlossen wir, unsere Hochzeit in Lwiw zu feiern. Ich war davor noch nie in Lwiw gewesen. Anschließend machten wir unsere Hochzeitsreise nach Europa. Danach, also zwischen 2015 und 2016, wurde es für mich immer schwieriger, in die Ukraine einzureisen. Ich besorgte mir irgendwelche Papiere, damit ich konnte. Einladungen. Man fing an, die Einreise für Männer einzuschränken.

Olga war immer mehr in Moskau, sie hatte dort jetzt mehrere Projekte. 2017 wurde unser Sohn geboren. Als das Baby da war, hat Olga ein Jahr lang nicht mehr gearbeitet. Dann kam die Pandemie. Und als die Pandemie vorbei war, ging Dima schon in den Kindergarten, und Olga hatte einige große Projekte in Moskau. Und plötzlich war alles vorbei.

Der 24. Februar – und Papa in Mariupol

Olga: Am 24. Februar, in der Wohnung in Moskau, weckte Andrej mich auf.

Andrej: Ich war früh am Morgen aufgestanden, und mein Telegram war knallvoll mit Nachrichten von Freunden aus Amerika. Wegen des Zeitunterschieds schliefen sie um diese Uhrzeit noch nicht. Ich lese. Und schon rufen wir unsere Eltern an. Olgas Vater war in Mariupol, ihre Mutter gerade in Ägypten im Urlaub. Ihr Bruder war völlig außer sich, er war irgendwo im Ausland auf Geschäftsreise, aber seine Familie war zu dem Zeitpunkt gerade in Kiew. Seine Frau und ihre gemeinsame Tochter übernachteten vom ersten Tag an in der Metro.

Andrej: Papa [Olgas Vater; Red.] ist bei den Bombardierungen am 20. März in Mariupol ums Leben gekommen. Er war Arzt, Leiter der Infektiologie, und er war im Krankenhaus geblieben. Viele Ärzte sind geblieben, sie haben auch dort gewohnt.

Olga: In der ersten Woche war es in Mariupol ruhig. Wir haben meinem Vater sehr zugeredet, wegzugehen, wir sagten, er müsse seiner Schwiegertochter und seiner Enkelin helfen, Kiew zu verlassen. Er hatte ein Auto. Aber er sagte, er denke nicht daran, wegzugehen, und notfalls seien die Autos vollgetankt, und er könne immer noch rechtzeitig rauskommen. Natürlich fuhr er zur Arbeit.

Unsere Straße ist der Boulevard der Komsomolzen, er wurde 2014 in See-Boulevard umbenannt. Da waren Hochhäuser, von denen aus man das Meer sehen konnte. Die Straße wurde dann schwer beschossen. 90 Prozent vom linksufrigen Mariupol gibt es nicht mehr.

Heute wissen wir ja, dass dort weder Freiwillige noch Leute vom Katastrophenschutz waren, alle sind abgehauen, weil dort ein einziges Gemetzel standfand. Mariupol wird vom Fluss in eine rechte und eine linke Seite getrennt. Von der linken Seite aus fährt man am Asow-Stahlwerk vorbei zum rechten Ufer.

Am 1. März brach die Verbindung ab. Eine Freundin schrieb mir: „Wie geht es deinem Vater?“ Ich glaube, sie wusste damals, dass dieser Bezirk stark bombardiert wurde. Und mein Vater saß zu dieser Zeit im Keller des Krankenhauses. Dann war die Verbindung plötzlich wieder da, und mein Vater schrieb meinem Bruder: „Ich habe schon alle geheilt.“ (weint).

Am 20. März rief mich mein Bruder an, weil ihn eine Frau aus Lwiw angerufen hatte, die in Kontakt mit ihrem Bruder stand, der anscheinend Patient in Vaters Krankenhaus war. Sie sagten, mein Vater sei ums Leben gekommen. Er hatte Tee von einer Abteilung in die andere bringen wollen und kam dort nicht an. So war das.

Das war unser letzter Tag in Russland.

Sie haben meinen Vater im Hof des Krankenhauses Nr. 4 begraben. Erst vor Kurzem konnten wir ihn dann auf dem Friedhof von Mariupol bestatten, Freunde haben uns geholfen. Freunde meiner Mutter fuhren zufällig an dem Krankenhaus vorbei und sahen, wie ein Bagger alles wegschaufeln wollte.  Das Krankenhaus war völlig zerstört. Dann haben sie sie überredet, dass sie noch zwei Tage damit warten, bis mein Vater woanders bestattet werden konnte.

Gen Westen: „Wir bleiben in Berlin“

Olga: Wir sind über Istanbul nach Berlin gekommen. Aus Russland konnten wir problemlos ausreisen. Von Istanbul aus sind wir dann nach Wien geflogen.

Andrej: Gleich am zweiten Tag des Kriegs kam Olga zu mir und sagte: „Ich bleibe nicht in Russland, ich will hier nicht leben.“

Ich schaute sie an und sagte: „Ja, alles klar, fahren wir.“ Aber um ausreisen zu können, musste ich mir irgendeinen Grund ausdenken. Die Konsulate waren alle geschlossen. Ich bekam heraus, dass die Franzosen Personen, die ein längerfristiges französisches Schengen-Visum besessen hatten, Visa ausstellten. Mein letztes französisches Schengen-Visum galt für vier Jahre. Eine Woche später bekam ich meinen Pass mit einem fünfjährigen französischen Schengen-Visum.

Olga: Ich wollte noch meine Aufführungen zuende spielen. Leider. Das war das Schrecklichste. Wir hatten zwei interaktive Stücke, wir spielten in einer Bar. So ein Stück ist ein Raum, in dem viele Kontakte mit den Zuschauern stattfinden, man kann improvisieren, man kann den Text verändern.

Das absolut Tödliche dabei war die Atmosphäre. Als wäre nichts geschehen.

Aber ich habe so eine Angewohnheit, ich kann nicht arbeiten ohne Bezug zum aktuellen Geschehen. Und obwohl das ein „leichtes“ Stück war, habe ich improvisiert und eine andere Stimmung hinzugefügt. Ich hatte den Eindruck, das hat die Leute ziemlich verdattert. Ich spürte das weniger von Seiten der Zuschauer als von Seiten meiner Partner. Ich spielte meinen Part zuende, und dann ging ich raus, um meine Chats aus Mariupol zu lesen, um meinen Vater zu finden.

Irgendwann habe ich mit niemandem mehr geredet. Es gab einen Vorfall, als mein Partner in dem Stück plötzlich allen eine homophobe Werbung zeigte – keine Ahnung, wo er die herhatte – dass es in der ukrainischen Armee Schwule gibt. Ich habe ihm gesagt, er solle sich verpissen. Mir war sofort klar, dass wir hier nicht mehr bleiben.

Andrej: Wir hatten keinerlei Ersparnisse. Wir brachten alle unsre Sachen zur Datscha einer Freundin. Einige Sachen haben wir verteilt, andere meiner Mutter gegeben.

Meine Mutter blieb in Moskau, ich habe ihr gesagt, wir würden für ein paar Monate wegfahrend, um uns Europa anzuschauen. Im Sommer kam sie uns besuchen, uns und ihren Enkel, wir haben ihren 74sten in Berlin gefeiert. Ich hatte für sie einen Weg herausgefunden, von Moskau über Minsk und Vilnius nach Berlin. Sie hat ein Schengen-Visum für ein Jahr ergattert.

Wir sind über Wien und Prag gefahren (weil es im März noch Beschränkungen wegen Covid gab). Wir haben Freunde in Prag. Sie sind Russen, die nach 2014 ausgereist sind, weil ihr Sohn ins Einberufungsalter gekommen war.

In Prag hatte ich zum ersten Mal seit acht Jahren keine Angst mehr.

Andrej: In Deutschland bekamen Olga und ich einen Flüchtlingsstatus für zwei Jahre mit Arbeitserlaubnis, ich als Familienmitglied. Wir haben die Papiere in Brandenburg eingereicht. Jetzt hat man Olga eine Arbeit für ein halbes Jahr in Berlin angeboten, ein Theaterprojekt für Schüler.

Wir bleiben in Berlin. Hier gefällt es uns, hier spricht man englisch. Wir waren schon einmal in Berlin, mit Olgas Eltern und meiner Mutter. Deutschland hat uns sehr gut aufgenommen.

Olga: Deutschland ist eines der wenigen Länder, wo man gegenwärtig die Ukrainer gut aufnimmt. Ich weiß, dass wir hier nicht verhungern müssen und sogar Geld verdienen können. Das ist sehr wichtig. Es ist super, dass die Ukrainer in Europa solche Unterstützung bekommen.

Andrej: Wenn man sich in so einem desolaten Zustand befindet, braucht man Unterstützung. Es gibt unterschiedliche Menschen hier. Manche wollen zurück nach Hause in die Ukraine, manche haben sogar etwas, wo sie hinkönnen. Aber wir wissen, dass wir für lange hier sind. Uns ist klar, dass wir Deutschland das geben wollen, was es uns gegeben hat. Wie Margaret Thatcher sagte, es gibt kein Geld vom Staat, es gibt nur das Geld des Steuerzahlers. Man hat uns fünf Monate Grundsicherung gezahlt. Das heißt, dass alle ein wenig dazugegeben haben. Sie müssen jetzt etwas von uns zurückbekommen.

Mit Andrej und Olga Makarowy, deren Namen aus Sicherheitsgründen anonymisiert sind, sprach Tatiana Firsova. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine und Russland zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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