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„Feuerwerk mag ich bis heute nicht“

Published On: 31. Oktober 2022 10:51

Wahrscheinlich habe ich eine sehr typische Familie. Eine normale ukrainische Familie, mit Ehemann und zwei Kindern. Ich habe in der Produktion gearbeitet, in einer Fabrik, die Türen herstellt. Ich habe dort in meinem gelernten Beruf gearbeitet, ich bin diplomierte Qualitätskontrolleurin, studiert habe ich an der Donezker Technischen Universität.

Ich bin in Donezk geboren und in der Donezker Region aufgewachsen, im Donbass. Bis 2014 habe ich dort gewohnt, mein Mann auch. Dort sind auch unsere Kinder zur Welt gekommen. 2014 sind wir nach Charkiw umgezogen, wegen der bekannten Ereignisse. Zu der Zeit waren unsere Kinder zwei und vier Jahre alt. Nach dem russischen Angriff im Februar 2022 zogen wir aus Charkiw weg.

Wir wohnten in einem Vorort von Schachtarsk, in einer kleinen Siedlung, etwa 15 Kilometer außerhalb der Stadt. In Schachtarsk war es im Juli 2014 sehr unruhig. Dort bekämpften sich zwei rivalisierende Parteien. Zu der Zeit wohnte auch meine Mutter dort. Dieser Ort, der Bezirk, die ganze Stadt lagen oft im Kreuzfeuer.

Fünf Tage lang kamen sie nicht heraus, meine Mutter und die Schwester meines Stiefvaters. Und als sie es endlich geschafft hatten, kamen sie zu uns.

Zwei Tage übernachteten sie bei uns in der Siedlung, dann sahen wir, dass es langsam näherkam. Da beschlossen wir wegzugehen. Wir fuhren zu siebt in einem Auto nach Süden, ans Meer, nach Sjedowe. Es war der 2. August.

Angefangen hatte das alles im Juli. Am 17. Juli 2014 ist die Boeing MH17 abgestürzt. Irgendwie decken sich die Daten. Sie stürzte acht Kilometer von uns entfernt ab, ich habe den Explosionsdruck gespürt und den Rauch gesehen, der nach dem Absturz hochstieg, und danach haben sich die Kämpfe in dieser Region und im Umkreis verstärkt.

KARENINA-Serie

Flucht und Exil

Seit Februar 2022 sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine und zahlreiche russische Oppositionelle nach Deutschland geflüchtet. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Wir warteten den offiziellen Urlaub meines Mannes ab, luden meine Mutter, meine Patentochter (sie ist Waise), die Kinder und die Oma ins Auto. Und dann fuhren wir Richtung Süden. Dort trafen wir meinen Stiefvater. Auch mein Vater und seine Frau kamen dorthin. Wir haben uns alle dort getroffen, und dann überlegten wir, was wir tun sollten.

Die ältere Generation fuhr zurück nach Hause, ich glaube, nach etwa zwei oder drei Wochen. Wir hatten nur eine Woche bleiben wollen. Als wir wegfuhren, gab es schon kein Wasser mehr. Ich hatte die Pfanne mit Spülmittel eingeweicht und ins Abwaschbecken gestellt, ich dachte, ich wäre eine Woche später wieder zu Hause. Und bis heute sind wir noch immer nicht zurück. Jetzt sind schon acht Jahre vergangen.

Vom Donbass nach Charkiw

Wir beschlossen also 2014, nach Charkiw zu gehen, weil man uns einen Job angeboten hatte. Als wir dort ankamen, wartete die Arbeit tatsächlich schon auf uns. Aber wir konnten keine Wohnung mieten. Erstens weil es so viele Flüchtlinge dort gab, so nannte man uns damals, die Binnenvertriebenen. Aber es gab auch eine gewisse Voreingenommenheit gegenüber den Menschen aus dem Donbass. Nicht bei allen, aber wir bekamen das bei der Wohnungssuche zu spüren.

In der Ukraine heißen diese Gebiete die okkupierten Territorien, oder nicht einmal: die von der ukrainischen Regierung nicht kontrollierten Territorien. Also es gab schon Probleme. Na ja, sagen wir, nicht bei allen, nicht immer und nicht mit allen. Aber so etwas kam vor.

Mein Mann arbeitet als Programmierer. Vor dem Umzug arbeitete er als Bergmann, als Steiger. Er hatte eine gute Stelle, er verdiente zu der Zeit fast 1000 Dollar. Das reichte gut zum Leben, weil wir keine Miete bezahlen mussten, wir hatten ein eigenes Haus, und unsere Eltern haben uns sehr geholfen.

Wir haben die Kämpfe im Donbass miterlebt. Wir haben unsre Kinder im Keller versteckt. Wir kennen alle diese Geräusche, man kann sie nicht verwechseln. In Charkiw hörte ich einmal das Geräusch eines Fahrstuhls und bekam einen Schreck. Das Geräusch war ganz ähnlich dem, das ein „Grad“ (ein russisches Mehrfachraketenwerfersystem, „Grad“ bedeutet „Hagel“, Red.) macht, wenn er sich dreht; wenn er zielt, ich weiß nicht genau, wie das funktioniert, aber das Geräusch hört sich an wie das Geräusch eines Fahrstuhls. Ein andermal bin ich vom Geräusch eines Flugzeugs aufgewacht. Feuerwerk mag ich bis heute nicht. Obwohl sich Feuerwerk und Granaten sehr stark unterscheiden.

Der 24. Februar: Das konnte doch gar nicht sein

Am 24. Februar 2022, in Charkiw, ungefähr um fünf Uhr, 5:20 Uhr morgens hörte ich rhythmisches Schießen. Das waren die Geräusche der Granaten. Es klang schon ähnlich wie ein Feuerwerk, aber diese Geräusche haben einen ganz bestimmten Rhythmus, und es gibt eine ganz bestimmte Druckwelle. Die spürt man durch die Wände hindurch, über die ganze Stadt, die spürt man ganz anders als ein Feuerwerk. Das heißt, das kann man nicht mit Donner oder so etwas verwechseln. Ich wusste, dass ein Mehrfachraketenwerfersystem arbeitet und sagte zu meinem Mann: Steh auf, da ist irgendwas los.

Um sechs Uhr morgens beschlossen wir, dass wir unsere Taschen packen müssen, dass wir unsere Koffer packen müssen. Es gibt Leute, die die sich für die Nachrichten interessierten. Manche Leute verstanden, was da vor sich ging, die hatten ihre Taschen längst gepackt. Aber wir interessierten uns nicht für die Nachrichten, wir hatten auch keinen Fernseher.

In der Ukraine, insbesondere in Charkiw ging man allgemein davon aus, dass Russland uns überfallen würde, dass es Krieg geben würde, aber wir wollten das einfach nicht glauben. Wir hielten es schlicht für unmöglich, für völlig unrealistisch. Wir haben uns auch gar nicht die Mühe gemacht, die Fakten zu überprüfen, die für eine solche Meinung sprachen, eben weil wir geglaubt haben, dass es gar nicht sein kann.

Aber am 24., als wir das Geknalle und die Explosionen hörten, da haben wir unsere Taschen gepackt. Und dann schrieb meine Chefin eine Stunde später im Chat, so, das war‘s, Anordnung unseres Bürgermeisters, alle bleiben zu Haus, niemand darf raus. Weder die Kinder zur Schule, noch die Leute zur Arbeit.

Wir trödelten noch bis zum 4. März. Noch am 3. März dachten wir, wir fahren nicht. Ich sperrte mich gegen diesen ganzen Prozess. Mein Koffer stand offen, aber ich packte ihn nicht. Meine Tasche stand offen, aber ich packte sie nicht.

Den Kindern sagten wir, dass wir nur ein Minimum an Sachen mitnehmen. Ich hielt es für notwendig, ihnen zu erklären, klar und deutlich, ohne Emotionen, was da gerade passierte, was wir machen werden, und was wir unternehmen werden, und dass uns diese Entscheidung sehr schwer fällt. Sie sagten, na gut, wir verstehen das. Ich versuchte, mich so gut wie möglich zu beherrschen, aber das fiel mir natürlich sehr schwer. Ich bin schließlich auch nur ein Mensch. Aber in ihrer Gegenwart versuchte ich, mich so beherrscht und ruhig wie möglich zu geben.

Dnipro – Iwano-Frankiwsk – Lwiw – Berlin

Mein Mann hat sich an die Leitung seiner Firma gewandt, und sie boten an, uns zu evakuieren. Sie haben zwei Evakuierungsbusse organisiert. Das war am 4. März. Zu diesem Zeitpunkt lag natürlich auch Charkiw schon unter starkem Beschuss, Häuser wurden getroffen. Saltiwka, Nord- Saltiwka und andere Stadtteile. Die Evakuierung startete vom Bahnhof aus.

Wir haben kein Auto, deshalb fuhren wir mit dem Taxi hin. An diesem Morgen hatten wir eine Taxifahrerin. Die Fahrt dauert 20 Minuten. Nachts und wenn die Straßen leer sind, 10 Minuten. Es kostete schon 1500 Griwna, das sind etwas weniger als 50 Dollar. Normalerweise kostete es früher nachts 100 Griwna, glaube ich. Tagsüber 50 bis 80.

Aus den gefährlichen Bezirken, die, die unter Beschuss standen, also Oleksijiwka, Nord-Saltiwka, kostete es angeblich schon bis zu 6000 Griwna. Und diese Frau brachte uns hin, aber wir waren die letzten, die sie von dort wegbrachte, denn danach wurde dort eine Straßensperre eingerichtet, niemand kam mehr durch.

Wir stiegen in den Bus und fuhren zuerst bis nach Dnipro, in das Büro der Firma meines Mannes. Dort gab es Sofas und Teppichboden. Man richtete uns Schlafstellen ein, wir bekamen Kissen, Schlafsäcke und einen Haufen Plaids. Und wir hatten einen vollen Kühlschrank für uns. Wir waren mit zwei Bussen gefahren, insgesamt wurden etwa 100 bis 150 Personen evakuiert.

Es gab mehrmals Luftalarm, und wir mussten nachts runter in die Tiefgarage. Wenn es zu oft Luftalarm gibt, verliert man die Wachsamkeit und gewöhnt sich daran. Das klingt furchtbar. In Charkiw ging es vielen Leuten so, sie kümmerten sich nicht mehr um die Luftalarme. Dort haben wir uns auch nie in Sicherheit gebracht, es gab ja nichts, wo man hinkonnte; wir hatten keinen Keller und auch keinen Luftschutzraum.

Es kommt sowieso auf dasselbe heraus. Wo willst du dich in Sicherheit bringen? Wenn du dich verkriechst, wirst du vielleicht verschüttet, wenn du zu Hause bleibst, kann dein Dach einen Treffer kriegen, läufst du weg, wirst du vielleicht von Granatsplittern getötet. Also bleibt man gleich zu Hause.

Wir wurden nach Dnipro evakuiert. Am nächsten Tag hatte man Busse für unsere Evakuierung nach Iwano-Frankiwsk organisiert. Die Strecke dorthin beträgt 900 Kilometer. Wir brauchten 42 Stunden. Drei Nächte haben wir im Bus übernachtet. Als wir in die Oblast Winnyzja kamen, wurde Winnyzja beschossen. Dann blieb der Bus liegen. Wir warteten lange, bis ein anderer kam. Stundenlang standen wir im Stau, kilometerlange Schlangen.

Das war alles sehr schwierig und anstrengend, aber Gott sei Dank erreichten wir Iwano-Frankiwsk. Dort wurden wir wieder in einem Büro untergebracht, aber ein Mitarbeiter meines Mannes war sehr hilfsbereit, er hat uns in seiner Wohnung aufgenommen.

Der Weg eines Migranten

Dort blieben wir bis zum 20. März. An diesem Tag beschlossen wir, nach Deutschland zu fahren. Dort lebt eine Cousine meines Mannes, sie hat uns gerufen. Mein Mann ist zurückgeblieben, er ist wehrdienstpflichtig.

Wir fuhren mit dem Bus von Iwano-Frankiwsk nach Lwiw. Das ging ziemlich glatt. Das war sowas wie ein Fernbus. Bei uns heißen die Marschrutka, das ist eine Art Sammeltaxi, ein Kleinbus, der bis zu 20 Personen transportieren kann. Von dort ging es nach Deutschland.

Anfangs kam mir alles sehr fremd vor, weil man die Sprache nicht kennt und so. Ich kann nicht sagen, dass ich mich unwohl gefühlt hätte, aber es fiel mir sehr schwer. Und ich hatte auch Depressionen, weil ich von zu Hause weg war. Mein Mann und ich waren getrennt, ich war allein mit den Kindern.

Aber im Großen und Ganzen war ich verblüfft, wie die Menschen sich uns Ukrainern gegenüber verhielten. An jeder Ecke sah man die ukrainische Fahne. Wie die Leute mit uns mitfühlten und uns unterstützten. Wie die Deutschen hier ihnen ganz unbekannte Menschen samt Familien in ihren Wohnungen aufnahmen. Das fand ich erstaunlich und bewundernswert. Wie wir hier vom Staat und von den Menschen unterstützt wurden, das hätte ich mir nie vorstellen können.

Wir begannen den Weg eines Migranten, wie ich das nenne. Wir nennen das „Flüchtlinge nach Paragraph 24“ des Aufenthaltsgesetzes. Wir haben das Recht, uns hier für zwei Jahre aufzuhalten und zu arbeiten, meine Kinder und ich.

Was ich für Pläne habe? Bisher sehe ich nicht, dass ich sicher zurückkönnte. Wir haben alle Formalitäten erledigt, um hier neu anzufangen und ein normales Leben führen zu können. Die Kinder gehen zur Schule. Ich bin auf dem Arbeitsamt gemeldet. Man hat mir eine zeitweilige Unterkunft zur Verfügung gestellt. Unsere Pläne: Erst einmal lernen wir die Sprache, und ich würde doch noch gern meinen Traum verwirklichen, Psychologie zu studieren und in dem Bereich zu arbeiten. Und ich sehe, dass das hier realistisch ist.

Ich liebe meine Heimat sehr, ich liebe mein Land sehr. Aber ich möchte jetzt nicht dorthin zurück. Ich kann es nicht. Ich habe einfach nicht das moralische Recht dazu. Denn ich kann meinen Kindern nicht erklären, warum sie in einem Luftschutzkeller sitzen sollen anstatt zur Schule zu gehen.

Mit Maria Sergejewa (Name geändert) sprach Tatiana Firsova am 2.9.2022. Die Transkription übernahm Anastasiia Kovalenko, aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine und Russland zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa.

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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