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Die europäische Katharsis

Published On: 2. November 2022 16:00

Regionalisierung im Rheinland bedeutet etwas anders als am Polarmeer oder in den Weiten Sibiriens. Deshalb wäre zu prüfen, ob die Europäische Union (EU) nicht auch etwas von Russland lernen könnte. Insbesondere was das friedliche Zusammenleben unterschiedlichster Religionen und Kulturen angeht, verfügt der Vielvölkerstaat Russland gegenüber der EU über einen enormen Erfahrungsvorsprung. In der russischen Stadt Kasan beispielsweise leben Moslems und Christen seit Jahrhunderten friedlich nebeneinander, was auch daran liegt, dass innerhalb Russlands ein säkularer Islam existiert.

Hierin liegt der Wegweiser zu einer neuen kontinentalen Ordnung, in dem auch das alte Galizien, der Donbass und die Krim jeweils auf ihre Art gedeihen könnten, überwölbt von einer europäischen Konföderation. Denn niemand wäre in nüchternem Zustand ohne die kriegsbedingte Emphase auch nur eine Sekunde auf den Gedanken gekommen, die Ukraine könne in ihrem jetzigen Zustand als Nationalstaat der EU beitreten, selbst wenn das medienwirksam abgegebene Versprechen von Ursula von der Leyen zunächst nur symbolischen Charakter hat.

Es geht in der nächsten Erweiterungsrunde nicht nur um die Ukraine, sondern auch um die Balkanstaaten oder die Türkei, die seit rund zwanzig Jahren entweder schon mit der EU verhandeln oder assoziiert sind. Die EU kann diese Staaten, das hat auch Olaf Scholz in seiner Grundsatzrede in Prag betont, unmöglich zu bestehenden institutionellen Bedingungen in die EU aufnehmen, die dann über dreißig Staaten zählen und mithin in einer Totalblockade versinken würde.

Wenn Erweiterung und Vertiefung Europas wieder zusammengedacht werden sollen und europäische Souveränität vom Bürger aus gedacht wird, dann geht es nicht mehr um EU-Beitritte von Staaten, sondern nur noch um die Ausgestaltung einer europäischen Demokratie, ausgehend von einer gleichberechtigten europäischen Bürgerschaft jenseits von nationalen Grenzen.

Und das führt unmittelbar zurück zu den beiden Zeilen, die Europa 1989 hatte: Für eine europäische Demokratie und gleiche Bürgerrechte braucht es jenen föderalen europäischen Bundesstaat, von dem im Koalitionsprogramm die Rede ist und der in Maastricht 1992 schon auf den Weg gebracht werden wollte. Und für die europäische Erweiterungsagenda braucht es die komplette politische Reorganisation des einstigen Cordon sanitaire, jener territorialen Pufferzone zwischen Europa und Russland, wenn die Europa den bevorstehenden Schnitt in ihren Leib vom Baltikum zum Schwarzen Meer nicht akzeptieren möchte.

Der Cordon sanitaire war — wie eingangs erwähnt — nie in klaren nationalen Grenzen organisiert. Eine politische Reorganisation, die allen autochthonen, autonomen, sprachlich und kulturell verschiedenen Einheiten vom Donbass bis Abchasien ihre regionale Eigenständigkeit gewähren würde, lässt sich nur im Rahmen einer kooperativen, föderalen Ordnung zusammen mit Russland erzielen. Genau das war das zweite Ziel Europas von 1989.

Der aktuelle Krieg, geführt um eine historisch geradezu absurde territoriale Integrität der Ukraine, könnte also dafür genutzt werden, Europas überfällige Loslösung von seinen nationalstaatlichen Konturen zu befördern, die seit 1989 das Versprechen war. So besehen wäre der Krieg in der Ukraine die Möglichkeit für eine wahre europäische Katharsis, nämlich zu sich selbst zu finden — wenn Europa bereit ist, seine Denkrichtung zu ändern.

Denn Souveränität heißt heute eben nicht mehr nationalstaatliche Souveränität, die in Europa oft genug gewaltsam über Kriege und genau jene Einverleibung von Regionen etabliert wurde, wie es auch heute im Ukrainekrieg die zentrale Frage ist. Sondern Souveränität heißt heute vor allem die Wiederinbesitznahme des eigenen Landes, die Sicherung lokaler Nahrung und Energie, die regionale Gestaltung von Autonomie, die Durchbrechung von Globalisierung und Abhängigkeitsstrukturen, die Herausnahme aus globalen Konzentrationsbewegungen, die kooperative Gestaltung des überschau-baren Eigenen. Und das geht innerhalb kleiner Einheiten, geschützt durch eine gemeinsame europäische Staatlichkeit, viel besser.

Wirtschaftlich und energiepolitisch könnte eine föderale Europäische Republik eine Kooperation mit dem Vielvölkerstaat Russland eingehen, das als Föderation ebenfalls seit Jahrzehnten ein Gespür für die Unabhängigkeit von unterschiedlichen Kulturen, Regionen und Sprachräumen hat.

Die indigenen Völker Sibiriens zum Beispiel konnten ihre Selbstständigkeit lange bewahren. So könnte man den gesamten europäischen Kontinent als Einheit in Vielfalt denken: ein europäischer Staat neben einem russischen Staat, überwölbt von einer kontinentalen Föderation. Europäischer Staat und Russische Föderation würden einander bedingen, denn die so gestalteten, weitgehend autonomen regional verwobenen europäischen Räume würden für ihre Prosperität der Kooperation mit Russland und seinen Ressourcen bedürfen. Souveränität hieße dann weitgehende Unabhängigkeit durch territoriale Autarkie im Kleinen, eingebettet in eine neue Form moderner europäischer Staatlichkeit, die in Resonanz mit der europäischen Geschichte steht.

Die europäische Debatte von morgen wird nicht mehr entlang der alten Diskussionslinien Nationalstaat versus EU geführt, also über Nationalstaaten, die mal mehr, mal weniger in der EU zusammenarbeiten oder sie eben blockieren. Das war das 20. Jahrhundert. Sie wird darüber geführt, ob Europa es schafft, autonome sozioökonomische Strukturen in einem regionalen Verbundsystem zu erhalten und zu sichern, die es überhaupt erlauben würden, dass Europa seine vielfältige gesellschaftliche und kulturelle Ordnung erhält. Dieses Europa könnte auch an den Reichtum seiner Kunst- und Ideengeschichte ganz anders anknüpfen, als es das transatlantische Europa vermochte.

Von der Renaissance und dem Humanismus bis zur Aufklärung bieten sich für das zukünftige Europa zahlreiche Erinnerungsorte, die einem neuen Europa Identität, Tiefe und Lebendigkeit verleihen könnten. Die autonome europäische Kunst stellt ein besonderes Kulturmerkmal Europas dar — ohne dass hier die problematischen Aspekte der postkolonialen Debatte übersehen werden sollen. Doch die europäische Kunst hat von der Renaissance bis ins frühe 20. Jahrhundert wirklich Autonomie erlangt. Dadurch standen in Europa andere Möglichkeiten bereit, der Conditio humana Ausdruck zu verleihen. Ein Europa, das wieder anknüpfen könnte an die Kunst und den Geist der Renaissance würde mühelos eine Brücke nach Russland bauen können. Denn Russland hat im 18. und 19. Jahrhundert insbesondere über die Literatur, Musik und die Philosophie seine Zugehörigkeit zu Europa gesucht und gefunden.


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Quellen und Anmerkungen:

Die Quelle zu diesem Artikel entnehmen Sie bitte dem Buch: Ulrike Guérot, Hauke Ritz: „Endspiel Europa. Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist — und wie wir wieder davon träumen können“.

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Ulrike Guérot

Ulrike Guérot, Jahrgang 1964, studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Philosophie in Bonn, Münster und Paris. Sie ist Professorin, Autorin und Aktivistin zum Themenbereich Europa und Demokratie. 2014 gründete sie das European Democracy Lab e.V., eine Denkfabrik zum Neudenken von Europa. Ihr 2016 erschienenes Buch „Warum Europa eine Republik werden muss: Eine politische Utopie“ wurde zum europaweiten Bestseller. Zuletzt erschien von ihr „Wer schweigt, stimmt zu: Über den Zustand unserer Zeit und darüber, wie wir leben wollen“.

Hauke Ritz

Hauke Ritz studierte an der FU und HU Berlin. Nach seiner Dissertation im Fach Philosophie mit dem Schwerpunkt Geschichtsphilosophie wendete er sich verstärkt Fragen der Außenpolitik und Friedensforschung zu. Dabei stand für ihn der Ost-West-Konflikt im Mittelpunkt, dessen Fortbestehen er seit 2008 im Zuge verschiedener Publikationen und seit 2014 durch regelmäßige Russlandreisen erforscht. Hauke Ritz hat an der Universität Gießen, der MSU und RGGU in Moskau sowie der Universität Belgorod unterrichtet und war zuletzt für den DAAD in Moskau tätig.

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