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Worum es bei den Streit um das Getreideabkommen geht

Published On: 3. November 2022 15:06

Da das Getreideabkommen in den letzten Tagen Schlagzeilen gemacht hat, werde ich hier die Details des Abkommens und die geopolitischen Interessen dahinter aufzeigen.

Das Getreideabkommen, das den Export ukrainischen und russischen Getreides regeln sollte, hat in den letzten Tagen Schlagzeilen gemacht, weil Russland seine Teilnahme an dem Abkommen nach dem ukrainischen Angriff auf die Schwarzmeerflotte ausgesetzt hat. Bei dem Angriff wurde nach russischen Angaben der sichere Korridor für die Getreideschiffe für den Angriff missbraucht, wobei außerdem russische Schiffe angegriffen worden sind, die die Sicherheit des Korridors garantieren sollen. Da Russland diese Sicherheit unter solchen Umständen nicht garantieren kann, hat Russland die Umsetzung ausgesetzt. Inzwischen hat die Ukraine Russland schriftliche Garantien gegeben, den Korridor nicht mehr für solche Angriffe zu nutzen, weshalb Russland das Abkommen wieder umsetzt.

Über all das und weitere Details des Getreideabkommens habe ich bereits oft berichtet. Nun hat die russische Nachrichtenagentur TASS eine lesenswerte Zusammenfassung zu dem Thema gebracht, in der sie auch auf die geopolitischen Interessen der Teilnehmer eingegangen ist. Ich habe den Artikel der TASS übersetzt.

Beginn der Übersetzung:

Die Bedeutung des Getreideabkommens: Wozu Russland es braucht

Zum Monatswechsel Oktober/November 2022 sorgte die Ankündigung Russlands, seine Teilnahme am Getreideabkommen auszusetzen, weltweit für großes Aufsehen. Dabei handelt es sich um ein internationales Abkommen, das die Ausfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus drei ukrainischen Häfen – Chornomorsk, Odessa und Juschny – ermöglicht.

Das russische Verteidigungsministerium erklärte nun, dass Russland zum Getreideabkommen zurückkehre, weil es von der Ukraine (dank Vermittlung der Türkei und der UN) schriftliche Garantien erhalten habe, den Getreidekorridor nicht für Feindseligkeiten gegen Moskau zu nutzen.

Die Vorgeschichte

Russlands Militäroperation betrifft auch die Gewässer des Schwarzen Meeres. Gleichzeitig fand jedoch auch ein internationaler Verhandlungsprozess über eine Reihe wichtiger damit zusammenhängender Fragen statt. Insbesondere wurde am 22. Juli eine Vereinbarung zwischen Russland, der Ukraine, der Türkei und den Vereinten Nationen getroffen, die der Kürze halber als Getreideabkommen bezeichnet wird.

Diese Vereinbarung wurde für 120 Tage mit einer automatischen Verlängerungsoption geschlossen. Das Abkommen sieht die Schaffung von Seekorridoren für die sichere Ausfuhr von Getreide und verwandten Nahrungsmitteln (Sonnenblumenöl) sowie Düngemitteln, einschließlich Ammoniak, aus drei ukrainischen Häfen vor. Gleichzeitig sind alle Handelsschiffe im Rahmen dieser Initiative verpflichtet, die Türkei zur Überprüfung der Ladung anzulaufen.

Der formale Vorwand für das Getreideabkommen war die Hungersnot, die in einigen Regionen der Welt aufgrund des starken Anstiegs der Lebensmittelpreise ausgebrochen ist. Vor allem die Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika waren stark betroffen. Das Getreideabkommen war daher in erster Linie humanitärer Natur. Die implizite Annahme war, dass der Mangel an billigen Lebensmitteln in der Welt zum Teil auf die Auswirkungen der groß angelegten Feindseligkeiten in der Ukraine zurückzuführen ist.

Was die Rolle der Türkei betrifft, so hat Präsident Recep Tayyip Erdogan einmal mehr die angenehme (und offensichtlich gewünschte) Rolle des internationalen Friedensstifters übernommen. Die Vereinten Nationen traten in diesem Fall als Zeugen des Abkommens auf. Eine entsprechende Pressemitteilung wurde auf der UN-Website veröffentlicht.


Kein einheitliches Dokument

Man muss wissen, dass das Getreideabkommen kein einheitliches und umfassendes Dokument ist. Die Russische Föderation hat in seinem Rahmen ein separates Abkommen mit der Türkei und den Vereinten Nationen unterzeichnet. Die Ukraine hat einen ähnlichen Schritt unternommen. Darüber hinaus unterzeichnete Russland gleichzeitig ein Abkommen mit den Vereinten Nationen, das die Unterstützung der Organisation bei der Sicherstellung ungehinderter Exporte russischer Agrarprodukte und Düngemittel vorsah, das heißt, die internationale Lieferungen dieser Warengruppen sollen nicht von den Russland-Sanktionen betroffen sein.

Der Verteidigungsaspekt des Getreideabkommens implizierte, dass Russland keinen Vorteil aus der Minenräumung und der Öffnung ukrainischer Häfen ziehen würde. Allerdings sollten die humanitären Seekorridore auch nicht für militärische Zwecke genutzt werden.

Aus wirtschaftlicher Sicht ist die Struktur des Getreideabkommens nicht einwandfrei. Es liegt auf der Hand, dass das Getreideabkommen keinen Mechanismus vorsieht, der die Einhaltung der Verpflichtungen garantiert. Deshalb besteht jetzt die Gefahr, dass es die Belastungsprobe nicht besteht. Auf politischer Ebene könnte das Abkommen jedoch mit dem guten Willen aller direkten und indirekten Teilnehmer des Prozesses funktionieren.


Der ukrainische Beitrag

Das derzeitige Volumen der Getreidelieferungen aus der Ukraine auf dem Seeweg ist für den globalen Lebensmittelmarkt nicht wirklich entscheidend. Ende August wurde bekannt, dass die Ukraine im Rahmen des Getreideabkommens in über einem Monat nur eine Million Tonnen Getreide aus den Schwarzmeerhäfen exportieren konnte, obwohl für die nahe Zukunft ein maximaler Seeexport von drei Millionen Tonnen pro Monat geplant war.

Zum Vergleich: Nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) wird das Volumen des weltweiten Getreidehandels in der Saison 2022/2023 467 Millionen Tonnen betragen. Das Volumen des internationalen Weizenhandels wird sich im gleichen Zeitraum auf etwa 191,8 Millionen Tonnen belaufen.

Der Landwirtschaftsminister der Russischen Föderation, Dmitri Patruschew, erklärte bei dieser Gelegenheit, dass Russland angesichts einer Rekordernte in diesem Jahr bereit sei, ukrainisches Getreide vollständig zu ersetzen und Getreide zu akzeptablen Preisen an alle interessierten Länder zu liefern.

Daher ist es sinnvoll, die Frage der ukrainischen Getreideexporte nicht unter wirtschaftlichen, sondern unter geopolitischen Gesichtspunkten zu betrachten. Dabei gehen die Interessen der Beteiligten weit über den unmittelbaren Nutzen des Verkaufs hinaus.

Sich vor Sanktionen schützen

Eine der Hauptmotivationen Russlands beim Getreideabkommen war die Aussicht, russische Getreide- und Düngemittelausfuhren jetzt und in den kommenden Jahren vor westlichen Sanktionen schützen zu können. Das Versprechen der UNO, dies zu erleichtern, ist jedoch bisher nur eine gute Absicht geblieben. Streng genommen hat die Organisation keinen wirklichen Einfluss auf die nationalen Regierungen, insbesondere nicht auf die der USA und der EU. Resolutionen und Wünsche der UNO sind nur Empfehlungen.

Heute kann man festhalten, dass dieses russische Ziel noch nicht erreicht wurde. Mitte September erklärte sich der russische Präsident Wladimir Putin bereit, rund 300.000 Tonnen russischer Düngemittel, die aufgrund von Sanktionen in europäischen Häfen festsitzen, kostenlos an Entwicklungsländer zu liefern. Etwa zur gleichen Zeit gab es auch Probleme mit dem Transport von russischem Getreide ins Ausland sowie mit der Bezahlung und Versicherung von Getreideexporten. Es sei darauf hingewiesen, dass die bestehenden Handelshemmnisse häufig versteckter, informeller Natur sind. Ausländische Geschäftspartner zögern, sich an russischen Lieferketten zu beteiligen, und zwar nicht wegen direkter Verbote, sondern aus Furcht vor möglichen Sekundärsanktionen.

Andererseits würde eine Lockerung der Lieferbedingungen für russische Agrarerzeugnisse auf dem Weltmarkt unweigerlich die gegen die Russische Föderation verhängten Sanktionen erschüttern. Darüber hinaus würde es der grundsätzlichen Position der USA, der EU und ihrer Verbündeten widersprechen, dass die Exporteinnahmen Russlands mit allen Mitteln reduziert werden müssten. Jegliche Ausnahmen in dieser Hinsicht untergraben die Bereitschaft von Drittländern, die Sanktionspolitik zu befolgen.

So wies der indische Minister für Erdöl und Erdgas, Hardeep Singh Puri, kürzlich darauf hin, dass Ungarn, China und Japan sich dem Ölembargo gegen Russland nicht angeschlossen haben. In einer solchen Situation wird es unverständlich, gegen wen sich die internationale Initiative zur Einführung einer Preisobergrenze für russisches Öl richtet.

Die Rolle der Türkei

Ich habe bereits auf die politischen Vorteile hingewiesen, die die Türkei und ihr Präsident aus der Vermittlung des Getreideabkommens ziehen. Gleichzeitig schafft es das Land, sowohl für Russland als auch für die Ukraine ein situativer Verbündeter zu sein. Die türkische Außenpolitik kann ohne Übertreibung als multivektoral bezeichnet werden.

Die Beteiligung der Türkei am Getreideabkommen ist perfekt auf den gleichzeitig stattfindenden Verhandlungsprozess mit Russland über eine Reihe anderer Themen abgestimmt. Das jüngste Thema in diesem Zusammenhang ist die Diskussion über die Möglichkeit der Verlegung zusätzlicher russischer Gaspipelines in die Türkei und dem Aufbau eines großen Gasknotenpunkts in dem Land für künftige Lieferungen in die EU. Ein unmittelbares Zugeständnis könnte ein zusätzlicher Rabatt und ein Zahlungsaufschub für bereits aus Russland geliefertes Erdgas sein.

Im weiteren Sinne ist die Türkei durchaus in der Lage, Russland von der Last der gegenwärtigen und künftigen Sanktionen zu befreien, ohne dabei ihren eigenen Nutzen zu vergessen. Andererseits sollte man meiner Meinung nach die ganz objektiven gegenseitigen geopolitischen Widersprüche nicht vergessen (nicht umsonst hat Russland in den letzten 500 Jahren 12 Mal Krieg mit der Türkei geführt).

Der russische gute Wille

Wir haben bereits festgestellt, dass die Beteiligung Russlands am Getreideabkommen noch nicht die erwarteten Früchte getragen hat. In dieser Situation war die Fortsetzung des Programms nur sinnvoll, um den guten Willen Russlands zu demonstrieren. Der jüngste Vorfall im Schwarzen Meer hat die Situation jedoch verändert. Nach der russischen Version erfolgte der Versuch, die Infrastruktur und die Schiffe der Schwarzmeerflotte in Sewastopol anzugreifen, unter Ausnutzung des sicheren Seekorridors für den Transport ukrainischen Getreides.

Am Samstag, dem 29. Oktober, erklärte das russische Außenministerium, dass das Getreideabkommen vorübergehend ausgesetzt worden sei. Später wurde berichtet, dass am Mittwoch, dem 2. November, keine Fahrten von Trockenladungsschiffen im Rahmen des Getreideabkommens durch den sicheren Korridor vorgesehen waren. Etwa zur gleichen Zeit erklärte der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar, dass Schiffe unter türkischer Flagge weiterhin problemlos Getreide aus ukrainischen Häfen exportieren können. Zugleich äußerte er die Hoffnung, dass das Getreideabkommen in vollem Umfang wieder aufgenommen wird.

Am 2. November teilte das russische Verteidigungsministerium mit: „Es ist uns gelungen, die notwendigen schriftlichen Garantien der Ukraine zu erhalten, den humanitären Korridor und die ukrainischen Häfen, die für den Export landwirtschaftlicher Erzeugnisse bestimmt sind, nicht für militärische Aktionen gegen Russland zu nutzen, was am 1. November 2022 an das Gemeinsame Koordinationszentrum übermittelt wurde.“

„Die Russische Föderation ist der Ansicht, dass die erhaltenen Garantien derzeit ausreichend sind und nimmt die Umsetzung des Abkommens wieder auf“, so das Ministerium.

Insgesamt sollte diese kontroverse Situation jedoch nur als Teil einer größeren Entwicklung gesehen werden. Sie ist Teil der eskalierten geopolitischen Konfrontation zwischen Russland und dem kollektiven Westen.

Ende der Übersetzung